Mama die Pyramide brennt
Als bekennende Verfechterin von Traditionen, liebe ich es, dass wir immer noch am Heiligabend alle gemeinsam zusammenkommen. Mit alle gemeinsam meine ich meine kleine Rasselbande, genauso wie Männe, Oma Klingbeil, den ollen Knurrhahn und mich. Die Großen gehen zwar immer mehr ihre eigenen Wege, aber das hindert sie nicht daran, den Heiligabend mit uns Alten zu verbringen. Wobei Alter ja immer relativ ist und Groß zu sein ebenso. Julchen ist mit ihren neun Jahren mehr denn je der Meinung, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen darf. Das „Mama-Wort“ hat zwar immer noch Gewicht aber nicht mehr so unumstößlich, wie es einmal war. Trotzdem achten Julchen und ihre großen Brüder darauf, mir gerade zu Weihnachten jeden Wunsch von den Augen abzulesen; dennoch ist es mir mehr als bewusst, dass diese Zeiten nicht mehr lange währen. Als liebende Mutter ignoriere ich die Tatsache, dass möglicherweise das Schenken und Beschenkt zu werden auch ein bisschen dabei mit ins Gewicht fallen. Jedenfalls gelingt es uns, dass wir an dieser Tradition festhalten. Und wenn es nach mir geht, endet das auch nie.
Gerade in der Vorweihnachtszeit werde ich immer etwas sentimental, wenn ich auf der einen Seite die Geschenke liebevoll verpacke, auf der anderen Seite dabei aber auch feststelle, wie sich die Wünsche im Laufe der Jahre verändert haben. Mein Größter ist kurz vor Erwachsen und meine Jüngste wird über Kurz oder Lang die Köpfe von ein paar Jungen verdrehen, die nicht ihre Brüder sind. Männe geht das da ganz ähnlich wie mir. Auf andere Art, aber auch er spürt den Hauch der kommenden Veränderungen.
Gestern erst haben wir gelacht über ein Tischgespräch aus dem vergangenen Jahr. Etwas wehmütig, denn es macht uns immer wieder klar, wie vergänglich die Zeit ist und wie schnell der Moment kommen wird, in dem wir wieder alleine an unserem Tisch sitzen. Ein Bewusstsein, das wir aber schon immer in uns getragen haben und der Grund dafür ist, dass es uns immer wichtig war die Mahlzeiten gemeinsam mit unseren Kindern einzunehmen. Dieses Ritual führte dazu, dass wir uns immer nahe blieben und immer gegenseitig ein bisschen voneinander erfuhren, womit jeder so den Tag über beschäftigt war.
Männe und ich haben früh angefangen besondere Begebenheit bei diesen Tischgesprächen, die während der Mahlzeiten entstanden, in einem Ringbuch zu notieren. Noch so eine Tradition, die ich liebe. So haben wir die Gelegenheit uns immer wieder an Vergangenem zu erfreuen und für unsere Kinder eine Erinnerung zu erschaffen, die wir ihnen mit auf den Weg geben, wenn sie ausziehen. Es hilft, wenn man ab und zu etwas zur Hand nehmen kann um in Erinnerungen zu schwelgen, wie wir gestern Abend. Noch heute komme ich nicht aus dem Grinsen heraus, weil ich immer noch Männes Gesicht vor Augen habe, wie er auf unseren großen Rotzlöffel reagiert hat, als dieser Julchen die Welt erklärte.
Kaum hatten wir uns seinerzeit alle an den Küchentisch gesetzt, schaute Julchen auffordernd zu ihren großen Brüdern und stellte voller Wissbegierde die Frage: „Könnt ihr mir mal sagen, was es alles über Nippel zu wissen gibt?“, woraufhin Manni sofort anzüglich sein siebzehnjähriges Gesicht verzog, herausfordernd in die Richtung seines Vaters schaute und, bevor jemand einschreiten konnte, antwortete: „Nippel sind geil, erst sind sie total weich und wenn man sie ordentlich bearbeitet, werden sie hart und stehen von alleine.“ Zufrieden feixend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und quittierte das: „Freundchen, wir sprechen uns noch!“ seines Vaters mit einem Augenzwinkern. Peti wurde augenblicklich rot bis in die Haarspitzen, währen Olli, ganz Pragmatiker und technisch interessiert begann Julchen zu erklären, dass Nippel meist aus Messing bestehen, selten aus Aluminium und dass immer auf das passende Gewinde zu achten ist. Jojo, der Ernsthafteste meiner Lausbuben, schaute ob meines fragenden Blicks, etwas gequält in meine Richtung, als er kundtat, dass heute der Fahrradreparaturkurs bei Hausmeister Ernst in der Schule begonnen hat. Er fand die Idee eigentlich ganz gut, das Julchen mitzunehmen, damit sie selbständiger wird. „Ich konnte doch nicht ahnen, dass es mit Speichenreparatur losgeht!“, fuhr er trotzig fort, als Julchen verlauten ließ: „Das mit dem Nippelspanner habe ich auch nicht verstanden!“ Inzwischen ist Julchen im Hinblick auf Pflege und Reparatur ihres Fahrrades fast so versiert wie ihre großen Brüder und wenn sie doch mal was nicht kann, dann ist da ja immer noch Olli, von dem ich erfahren habe, dass Julchen jetzt auch gelernt hat mit dem Nippelspanner umzugehen. Und ich habe gelernt, dass man die kleinen Enden, in denen die Speichen eines Rades eingespannt werden, Nippel nennt und diese mit einem sogenannten Nippelspanner straffen kann, wenn die Speichen sich gelöst haben. Aber ich schweife ab.
Oma Klingbeil und der olle Knurrhahn gehören seit acht Jahren zu unserer Traditionsgemeinschaft am Heiligabend. Im Oktober hatten wir diese schöne große Wohnung bezogen und feierten das erste Mal in ihr, mit genügend Raum für alle, einem Esstisch neben dem Weihnachtsbaum und einer Wohnzimmergarnitur, in der wir alle unseren Platz fanden. Julchen unser Nesthäkchen, war knapp über ein Jahr alt und bekam ihre ersten Backenzähnchen. Und weil wir schon vier lebhafte Jungen hatten, die auch allesamt ihre Beachtung haben wollten, was zwar völlig normal, aber auch extrem anstrengend war, wurde es laut in unserer Wohnung. So laut, dass Oma Klingbeil, die zu der Zeit für Männe noch „Die alte Frau von unten“, für mich „Die arme, alte Frau am Küchenfenster“ und für die Großen „Die doofe Tante aus dem ersten Stock, die immer aus dem Fenster guckt“ war, zum Besenstiel griff und gegen die Zimmerdecke pochte. Mein eh schon strapaziertes Nervensystem führte dazu, dass ich einmal durch die Runde schrie; so laut, dass sogar Oma Klingbeil aufhörte mit dem Besenstiel gegen unseren Wohnzimmerboden zu dröhnen. Eine himmlische Stille trat ein, als alle mich verdutzt ansahen, weil es bis dato wirklich nie vorgekommen war, dass ich meine Stimme erhob. Nach der Stille kam der Sturm und ich trat die Flucht nach vorne an. Mit Julchen im Arm, die ihren Beißring leider nur krampfhaft in ihrem Fäustchen hielt und wie am Spieß brüllte, klingelte ich bei Frau Klingbeil um mich für den Lärm, den wir veranstalteten, zu entschuldigen.
Von Entschuldigungen wollte Oma Klingbeil aber gar nichts wissen. Kurzerhand nahm sie mich bei den Armen und sagte: „Papperlapapp Kindchen, nun komma erst mal rein in die gute Stube und atme zwei Minuten durch. Deine Jungs kriegen sich schon wieder ein, wenn die Bescherung erst einmal über die Bühne gegangen ist, das ist doch normal.“ Etwas überrumpelt von der burschikosen Freundlichkeit, mit der mir Oma Klingbeil wider Erwarten begegnete, folgte ich ihr in das karg geschmückte Wohnzimmer zu einem großen Ohrensessel, der etwas verloren neben einem kleinen Couchtisch stand. „So, nu setzt dich erst ma hin und gib mir ma die kleine Kreisch-, Schrei- und Kackmaschine, wäre ja gelacht, wenn wir da nicht was finden, das hilft“. Völlig perplex nahm ich in dem Ohrensessel Platz und betrachtete mein wunderschönes Baby, das zwar immer noch vom Schreien knallrot im Gesichtchen war, jetzt aber genauso verdutzt wie ich die alte Frau anblickte und vor lauter Überraschung vergaß zu brüllen. Mit Julchen im Arm verschwand Oma Klingbeil für einen Moment in der Küche und kam mit einem glücklich an einem Brotkanten lutschenden Baby zurück, das mich selig anblickte, als es mir in meine Arme gelegt wurde.
„Weißt Kindchen“, fuhr Oma Klingbeil fort, „is jetzt nich so, dass ich nie nicht selbst eine Familie hatte. Bin nur schon so alt, dass niemand mehr da ist. Komm aba selber aus einer lebhaften Familie und hatte drei Brüder. Warn zwar andere Zeiten damals, aba laut wurde es bei uns auch imma wida ma. Da hilft das ma mit der Faust aufn Tisch zu haun.“ Der Besenstiel kam nur zum Einsatz, weil endlich mal was los war im Haus und sie so auch endlich ma mitmischen konnte, wie sie mich wissen ließ. Denn schließlich ist der olle Knurrhahn, unser Mitbewohner aus dem Erdgeschoss, der tatsächlich so heißt über Weihnachten nie da.
Eugene Knurrhahn, der gar nicht so oll war, wie Oma Klingbeil tat, und unser kleines Miethaus mit den drei Wohnparteien komplett machte, wirkte immer etwas weltentrückt, wenn ich ihm begegnete, grüßte aber immer freundlich.
Wenn am Heiligabend alle in ihren Buden hocken, dann is da ja auch nix los auf der Straße, was sie dann begucken kann und so kam Oma Klingbeil unser kleiner Aufruhr gerade recht.
Unser gemütlicher Plausch fand ein jähes Ende, als Manni Sturm klingelte. Dass es Manni war, konnte ich an der Stimme erkennen, die kinderhell durch das Treppenhaus trompetete: „Mami, Mami, du musst schnell kommen, die Pyramide brennt.“ Und weil Oma Klingbeil wegen ihrer Gicht in den Knochen nur noch langsam vorankam, erscholl der Ruf ganze dreimal, bevor die Tür sich öffnete und mir mein aufgeregter Junge in die Arme flog um mich gleichermaßen zeitgleich aus dem Sessel hochzuziehen. So langsam, wie Oma Klingbeil ging, so schnell hatte sie das Telefon in der zittrigen Hand, das im Flur direkt neben ihr auf dem Schuhschränkchen stand. Sie war gerade im Begriff die Feuerwehr zu rufen, als ich ihr zum Glück noch Einhalt gebieten konnte, bevor der Anruf entgegengenommen wurde. Weil Manni in seiner Aufregung an mir zog, Julchen den Brotkanten fallen ließ und wieder brüllte, lud ich Oma Klingbeil kurzerhand ein mit nach oben zu kommen. Oma Klingbeil ließ sich da nicht zweimal bitten: „Klar Kindchen, endlich ma was los, wa!“ Erstaunt registrierte ich, dass mein Ältester bei „Oma Klingbeil“, wie er sie kurzerhand nannte, blieb, um die Tür abzuschließen und aufzupassen, dass sie nicht die Treppe runterfällt. Nachdem wir irgendwann in unserer Wohnung angekommen waren, wurden wir von meinen drei anderen Rackern aufgeregt in Empfang genommen. In einem Chor, der unterschiedlicher nicht hätte sein können, hörte ich heraus, was auch Manni schon gerufen hatte, die Pyramide brennt. Nun muss man wissen, dass das, was unter normalen Umständen dazu führt, dass die Feuerwehr anrückt, bei uns das Zeichen für die Bescherung ist. Wenn es draußen beginnt dunkel zu werden, die Geschenke unter dem Baum liegen und die Aufregung zu groß wird, macht Männe einen letzten Gang durch den Raum und entzündet die Lichter der Pyramidean. Für die Kinder ist es das Zeichen, dass sie sich vor der Tür aufstellen und sobald wir alle zusammen sind, den Raum betreten dürfen um ihre Geschenke zu empfangen. Und weil ich ja sooooo lange weg war und Männe die Racker, wie er sagte, gar nicht mehr bändigen konnte, stand er breit grinsend vor uns und lud Oma Klingbeil ebenfalls ein zu bleiben. In den allgemeinen Tumult hinein, die Wohnungstür stand noch offen, hörten wir eine schüchterne Männerstimme aus dem Hausflur fragen, ob alles in Ordnung sei oder wir Hilfe bräuchten. Wie auf Kommando drehten wir uns allesamt zum Hausflur um. „Donnerlüttchen Knurrhahn, du bist ja doch da wa. Hab ichs mir doch gedacht Junge, warum hast denn nie was gesacht wa? Muss doch keiner alleine bleiben an sonem Tach!“
Am Ende dieses Heiligabends vor acht Jahren, hatten meine Buben Oma Klingbeil und den ollen Knurrhahn, so gut wie adoptiert. Fortan hatte Oma Klingbeil Einkaufsgehilfen, eifrige Vorkoster, wenn sie Kuchen backt und ich einen lieben Geist an meiner Seite, der mir im Alltag immer mal wieder den einen oder anderen guten Rat mit an die Hand gab und auch immer noch gibt. Und weil der olle Knurrhahn eben gar nicht so oll und auch gar nicht so knurrig war, wie sein Name vermuten ließ, leben wir seit diesem Tag in einer Wohngemeinschaft, wie wir sie uns schöner nicht hätten ausdenken können. Olli, unser kleiner Pragmatiker hat es neulich auf den Punkt gebracht, als er meinte, dass wir mit Oma Klingbeil und Onkel Knurrhahn so ne richtige Großfamilie geworden sind. Manni setzte zwar nach, dass sich aber keiner einbilden solle, dass er je einen von uns pflegen würde, räumte aber ein, dass Weihnachten mit alle Mann immer noch das schönste aller Feste wäre. Während Peti und Jojo mit Männe den Baum aufstellten, richteten Oma Klingbeil, der olle Knurrhahn und ich das Essen her. Denn genauso, wie vor acht Jahren, halten wir daran fest, alles, was wir an Essensresten haben für diesen Tag zusammenzutun und den Heiligabend gemeinsam zu verbringen.
Frohe Weihnachten
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