Kapitel 1 - Die Trauer [•]
Süße Ruh, süßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arom umhaucht,
Tiefe Flut, tief, tieftrunkene Flut
Wenn die Wolk am Azure verraucht,
Wenn aufs müde, schwimmende Haupt
Süßes Lachen gaukelt herab,
Liebe Stimme säuselt und träuft
Wie die Lindenblüt auf ein Grab.
~ Droste-Hülshoff, Im Grase
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Kapitel 1 - Die Trauer
Die Tür der Holzhütte hing schief in den Angeln und bewegte sich leicht im Wind. Das morsche Holz knarzte bei jeder Bewegung. Langsam, vorsichtig, ging Feli auf die Holzhütte zu. "Mama? Papa?" Von drinnen war ein Husten zu hören und Feli stürzte fast über die Schwelle, als sie hineinrannte. Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum. Und er war vollkommen verwüstet. Der Tisch und die Holzschemel waren umgestürzt, die Krüge, Schüsseln und Teller aus Ton lagen zerbrochen daneben. Der Kleiderschrank neigte sich bedrohlich nach vorne und der kleine Ofen in der Ecke rußte schlimmer denn je. Nur das Bett schien unversehrt. Dort lag, in eine dünne, halb zerrissene Wolldecke gehüllt, ihre Mutter und hustete sich die Seele aus dem Leib. Ihre Haut war leichenblass und sah aus, als wäre sie aus Papier. Feli hockte sich neben das Bett und berührte vorsichtig die Stirn ihrer Mutter. Sie war glühend heiß. Feli brauchte einen Wickel, um sie zu kühlen. Doch mit welchem Krug, mit welcher Schale sollte Feli das Wasser holen? Gab es überhaupt noch ein sauberes Tuch, mit dem sie die Stirn ihrer Mutter abdecken konnte? "Felicitas." Die Stimme ihrer Mutter war heiser vom Husten und voller Sorge. "Felicitas, mein Mädchen, wo warst du nur?" Tränen stiegen in Felis dunkle Augen. "Wo ist Papa? Und warum ist hier alles so zerstört?" Ihre Mutter schloss die Augen. Das Reden schien ihr viel Mühe zu kosten. "Sie... haben ihn geholt. Die Soldaten. Er soll kämpfen, doch er wollte nicht. Also haben sie ihn mit Gewalt hier herausgeholt." Hastig blinzelte Feli die Tränen weg. Sie musste stark sein. "Aber Papa kann doch gar nicht kämpfen! Er ist doch verletzt! Sein Fuß.."
"Ich weiß, mein Herz", sagte ihre Mutter müde. "Hör zu, Kind, du musst jetzt gehen. Geh zu Magda, sie kümmert sich bestimmt um dich." Doch Feli rührte sich nicht. "Aber was ist mit dir Mama?" Ihre Mutter hustete wieder. Es war ein herzzerreißendes Geräusch und ein Rinnsal Blut sickerte aus ihrem Mundwinkel. "Der Herr holt mich zu sich. Du musst jetzt auf dich selbst aufpassen. Ich liebe dich, meine kleine Feli."
"Aber Mama-"
"Geh, Felicitas. Du bist ein gutes Mädchen."
Alles in ihr sträubte sich zu gehen, doch Feli hatte keine Wahl. Traurig gab sie ihrer Mutter einen letzten Kuss auf die Stirn. "Ich hab dich lieb Mama", wisperte sie, ehe sie nach draußen rannte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und achtete nicht auf den Weg, doch ihre Füße trugen sie wie von selbst zum Mohnblumenfeld. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Ein leises Wimmern kam über ihre Lippen. Es schwoll an, immer weiter, zuerst zu einem Schluchzen und dann zu einem Schrei. "Herr, warum tust du das?", rief sie in den Himmel hinauf. "Warum nimmst du mir meinen Bruder und meine Mama und meinen Papa weg, warum? Was habe ich denn Schlimmes getan, dass du mich so bestrafst?" Langsam sank sie auf die Knie. "Ich war doch immer ein liebes Mädchen. Ich habe nie Süßigkeiten stibitzt und habe dem kleinen Kätzchen immer ein Schälchen Milch hingestellt, sogar als wir gar keine Milch hatten", schluchzte sie. "Ich wollte doch arbeiten gehen und ein großes Glas Lollis für Will und mich kaufen, und das dicke Mädchen des Fabrikherren hätte bestimmt auch etwas abbekommen, auch wenn sie es nicht verdiente." Verzweifelt riss sie an ihrem schmutzigen, ehemals rotem Kleid, doch das feste Leinen wollte nicht zerreißen. "Ich hab das nicht verdient. Mama, Papa, Theo! Bitte lasst mich nicht allein!" Ihre Tränen zogen helle Spuren über die mit Ruß beschmierten Wangen. Felis Beine gaben nach und sie sank zu Boden. Weinend saß sie inmitten der Mohnblumen, während die Sonne allmählich hinter dem Horizont versank.
"Feli?" Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen, als direkt hinter ihr eine nur zu bekannte Stimme ertönte. Einen Moment später hatte Will sich vor sie gekniet und in eine Umarmung gezogen. Er war zurückgegangen, um seine Lebensmittelkarte zu holen, die ihm beim Spielen aus der Tasche gefallen war. Als er Feli weinend inmitten der Mohnblumen sitzen sah, vergaß er die Karte und das Abendessen, das daheim auf ihn wartete. Seine beste Freundin hatte Vorrang. Feli lehnte sich an ihn und weinte, bis keine Tränen mehr kommen wollten.
"Sie h-haben Papa ge-geholt damit er k-kämpft", schluchzte sie. "Und jetzt wird Mama sterben und i-ich bin ganz allein!"
Will drückte sie fest an sich und strich ihr über den Rücken. Wie seine Mutter es immer getan hatte, wenn er sich verletzt hatte.
"Alles wird gut Feli", flüsterte er. "Du bist nicht allein, du hast doch noch mich. Und ich werde auf dich aufpassen."
Feli sah zu ihm auf. Er war nur wenige Monate älter als sie und dennoch überragte er sie um mehr als eine Kopflänge.
"Und wer passt dann auf dich auf?", fragte sie leise. Will nahm ihre Hände in seine und lächelte. "Ich natürlich! Ich kann auf uns beide aufpassen." Feli umarmte ihn ganz fest und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. "Danke, Will. Du bist der allerbeste Freund auf der Welt."
"Und du die allerbeste Freundin", sagte Will feierlich.
Einvernehmliches Schweigen herrschte zwischen den Kindern, bis die ersten Sterne am Himmel erschienen und ein kühler Windhauch die Mohnblumen zum Tanzen brachte. Feli fröstelte. "Mir ist kalt", sagte sie. "Ich will nach Hause."
"Du kannst mit zu mir kommen. Mama lässt dich bestimmt bei uns wohnen." Feli sah ein wenig verlegen zu Boden. "Das ist nett von dir Will, aber... du weißt doch, dass ich Angst vor deinem Vater habe."
"Er wird dich nicht wegschicken, dafür sorge ich!", versprach Will im Brustton der Überzeugung. "Und wenn doch, dann gehe ich mit dir. Du weißt doch, Feli:
Das einz'ge, das uns trennen kann,
Sind Tod und Leben, irgendwann."
Feli erkannte die Zeilen aus einem Lied, dass ihre Mutter ihr einmal beigebracht hatte. Beim Gedanken an ihre Mutter stiegen ihr erneut Tränen in die Augen.
"Will?", fragte sie leise. "Wenn wir gehen, wohin?"
Keiner der beiden konnte diese Frage beantworten, und so standen sie da, und sahen sich an. Zwei Kinder, die, ohne es zu wissen, bereits erwachsen geworden waren.
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1063 Wörter
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