5. Spinnerin

Der Tisch ist voll zugedeckt. Es gibt keine einzige freie Lücke. Alles ist mit Essen, Besteck oder Gläsern bedeckt und der Tisch ist verdammt lang. Sie haben den Tisch gedeckt, als würde sie nicht auf eine Person warten, sondern gleich zwanzig Personen. Beklagen tue ich mich aber nicht, das Essen schmeckt abgöttisch. So viel Essen habe ich ... noch nie gesehen. Erstaunlich das es all diese Sachen gibt. Mehr als die Hälfte kann ich nicht mal identifizieren.

Nicht nur Essen ist auf dem Tisch, sondern auch die verschiedensten Getränke. Von Wasser, zu Cola, bis zu Wein. Höflich wie ich nun mal bin habe ich am Anfang Wasser verlangt, was ich dann auch bekommen habe. Plus ein Glas Cola und ein anderes Glas Sekt. Ich hatte die Dame verwirrt angeblickt. Wieso zur Hölle bekomme ich Wasser, Cola und Sekt? Ich finde es nicht schlimm, eher übertrieben. Wie auch die Masse an Essen, die vorhanden ist.

Wir haben nicht viele Worte ausgetaucht, als wir uns an den Tisch gesetzt habe, was richtig komisch für mich ist. Es war eine ... peinliche und neuartige Situation. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und wie ich mich verhalten sollte, da ich sie nicht kenne und die Umgebung eine ist, in der man mich eigentlich nicht vorfinden würde.

Sie hat mich mit einer einladenden Geste aufgefordert mich zu setzten, was ich auch tat und sie mir nachmachte. Auf dem Tisch war schon das Essen, wie auch die meisten Getränke. Ein paar Menschen, höchstwahrscheinlich Angestellte, standen da und warteten auf ihr Zeichen. Mit Handzeichen rückten sie heran und legten uns Essen auf dem Teller und Wasser und die diversen anderen Drinks in die Gläser. Dabei hatten wir nicht gesprochen, sie hatte mich nur mit einem Lächeln angesehen. Und selbst als die Angestellten sich zurückzogen und wir nur noch alleine waren bin ich da gesessen habe ich überall hingesehen als auf das Essen und auf sie.

Ich hatte Hunger, man hatte bestimmt meinen Bauch grummeln hören, aber sie sagte nichts darauf. Sie bat mich nur darum etwas zu essen, was ich dann zögernd getan hatte. Auf meinem Teller war ein Salat, der aus Emmentaler Käse, Wurst, Tomaten, Zwiebeln, Gurken und Mozzarella mit Essig und Dressing bestand. Der Käse, die Wurst, die Tomaten und die Gurken wurden in perfekten Würfeln geschnitten. Die Zwiebeln klein zerhackt und die Mozzarella waren sowieso schon kleine, runde Bälle. Mit eines der Gabeln, die mir zur Verfügung standen, hatte ich als erstes darauf rumgestochen, bis sie mir versichert hatte, dass ich wirklich essen darf. Also aß ich.

Und jetzt sitze ich hier und stopfe mir irgendetwas in den Mund, von dem ich keine Ahnung habe, was genau das sein sollte. Es ist braun und schmeckt etwas nach Haselnuss. Ich weiß wirklich nicht, was das ist, aber es schmeckt wirklich sehr gut, ich kann nicht genug davon bekommen. Es ist ein Dessert, das weiß ich, weil es der letzte Gang eines vier Gänge Menüs ist.

Ich schaufle dieses Ding nur in mich hinein und blicke langsam zu ihr hoch, nur um dann in ihr lächelndes Gesicht zu sehen. War das ein Date oder was ist das hier? Die Gabel hängt lose in der Luft, als ich stoppe. Langsam kaue ich und schlucke die Sachen, die noch in meinem Mund waren, herunter.

»Okay, hören sie mal«, durchbreche ich die Stille zwischen uns. Auch sie hört jetzt auf zu essen und legt sachte die Gabel neben ihrem Teller hin. Gespannt verschränkt sie ihre Finger ineinander und platziert ihre Hände auf dem Tisch. »Ich danke Ihnen wirklich sehr für das Essen, aber ich denke, ich sollte jetzt gehen.« Jetzt bin ich an der Reihe meine Gabel zur Seite zu legen.

Ich sehe sie nicht an, als ich mich erhebe und mein schmutziges weißes Hemd glattstreiche. Eigentlich wollte ich noch duschen, aber ich fühle mich, als wäre das gerade ein Date gewesen und ich stehe wirklich nicht auf so alte Frauen. Da kann sie so nett sein, wie sie möchte, ich will trotzdem kein Date. Vielleicht ist es auch kein Date, aber es fühlt sich so an. Sie lächelt andauert und das ist schon fast gruslig. Auch als ich mich erhoben habe lächelte sie.

»Marco, setz dich wieder.« Mein Blick schweift zu ihr. Sie deutet mir erneut mich zu setzten, was ich nicht verstehe. »Ma'am, ich sollte jetzt wirklich ... « Sie unterbricht mich. »Setz dich. Ich muss dir anscheinend einiges erklären.« Diese Worte habe mich dann doch dazu gebracht mich wieder niederzusetzen. Sie will mir was erklären und ich bin gespannt darauf.

Eine weitere Handbewegung von ihr erfolgt und zwei Angestellte spazieren herein – sind da Kameras oder wieso wissen sie immer wann sie kommen müssen? – und räumen die leeren Teller und Gläser weg, wie auch das Besteck. Die Speisen, die noch unberührt sind, lassen sie liegen. Ungefähr dauert das ganze um die zehn Minuten, bis sie und ich wieder alleine sind.

»Marco«, lenkt sie meine Aufmerksamkeit auf sich. »Du weißt nicht, wieso du ihr bist, oder?« Ich schüttle den Kopf. »Und du weißt auch nicht wer ich bin, stimmt's?« Erneutes Kopfschütteln. Seufzend fährt sie sich über die Stirn, das Lächeln etwas in sich zusammengefallen, wobei sie sowas wie »Das wird jetzt schwierig werden« flüstert. Ich beobachte sie stumm dabei, warte geduldig auf das, was sie mir sagen möchte.

Und das, was sie mir gesagt hat, ließ sie wie eine Bombe auf mich einfallen.

»Ich bin deine Großmutter.«

Stille. Unangenehmes Schweigen. Es ist so leise, dass man hätte eine Stecknadel fallen hören. Ich starre sie an, unfähig irgendetwas darauf zu reagieren. Nervös versucht sie eine selbstbewusste Haltung einzunehmen, das ihr kläglich misslingt. Das Ticken einer Uhr vermischt sich mit meinem gleichmäßigen Herzschlag, das zu Takt mit pumpt. Oder ist das ihr Herzschlag das mit der Uhr die Töne schlägt?

Ich bin mir nicht sicher aber was ich weiß ist, dass ich ihren Scherz gleichzeigt lustig und auch scheiße von ihr finde. Für das schallende Gelächter meinerseits kann ich nichts für. Mein Gelächter lässt sie nicht in die Irre führen, denn dadurch schöpft sie plötzlich an starker Haltung und Ernsthaftigkeit.

»Du glaubst mir nicht«, stellt sie nicht gerade überrascht fest. Sie rückt ihren Sessel etwas nach hinten und legt ein Bein über ihr anderes. Ihr Blick ist ernst, als würde sie damit bewirken, dass ich ihr glaube. Mein Lachen nimmt ab, bis es vollkommen verstummt und eine dicke Decke der Stille sich über uns legt.

»Okay, hören Sie.« Ich klatsche mir in die Hände und verschränke meine Finger ineinander. »Ich muss Sie leider enttäuschen aber meine Grandma ist tot.«Das haben meine Eltern mir immer gesagt. Die Eltern meiner Mom sind an einem Unfall gestorben und mein Vater sprach nie über seine Eltern, was ich okay fand. Damals zumindest. Jetzt möchte ich gerne wissen, ob ich noch irgendwelche Verwandten hätte, die noch leben. Aber ich schätze, ich bin der letzte McCartney und das finde ich gut.

Es wäre nicht gut, wenn es mehr von uns gibt. Wenn meine Eltern schon solche Arschlöcher waren, dann will ich lieber nicht wissen, wer sie so erzogen hat.

»Ach wirklich? Haben sie das gesagt?« Interessiert lehnt sie sich nach vor und schmunzelt leicht, was mich auf die Palme bringt. Sie kann froh sein eine Frau zu sein und dazu noch alt, sonst hätte ich ihr schon längst eine verpasst, auch wenn sie bis jetzt ganz nett war. Ich schlage aber keine alten Menschen und auch keine Frauen. Frauen habe ich zwar getötet, so schmerzlos wie möglich. Außer sie haben es verdient.

»Wer ist mit sie gemeint?« Verwirrt verschränke ich die Arme vor der Brust. »Diana und Tyler.« Bei ihren Namen setzt mein Herz aus, nur um dann Sekunden später schneller als vorher zu schlagen. Mein Puls schießt in die Höhe und die Traurigkeit, gemischt mit meiner Wut, keimt in mir unaufhaltsam auf. Ein dumpfer Schmerz breitet sich in meiner Lunge aus. Ich starre sie an, versuche dabei desinteressiert dreinzublicken, aber ich glaube, ich scheitere kläglich.

Sie lehnt sich entspannt zurück, mit einem leichten Lächeln. »Diana hat dir das sicher in den Kopf gepflanzt«, sagt sie ruhig. »Oder vielleicht war es auch dein Vater, Tyler«, grübelt sie und lacht dann plötzlich auf. »Er konnte mich nie leiden.« Und ich glaube, ich verstehe, wieso er sie nicht leiden konnte. Besser gesagt, er würde sie nicht leiden können, wenn er sie kennengelernt hätte, was ja nie passiert ist. Es sind nur zwei dumme Namen, an die sie gerade gedacht hat. Mehr nicht. Oder sie hat sich gut über mich informiert, um die Ich-bin-deine-Großmutter-Nummer auch richtig durchziehen kann.

Vielleicht hätte ich meinen Namen fälschen sollen und nicht bei meinem Geburtsnamen Marco McCartney bleiben. Ich dachte mir, dass es egal wäre, da sowieso keiner aus meiner Familie mehr lebt. Was bedeutet, dass keiner jemanden verletzten könnte, der mir am Herzen liegt. Na gut, keiner von ihnen hätte einen Platz in meinem Herzen verdient. Vorausgesetzt ich habe noch eines. Ich bin mir sicher, dass ich mein Herz verloren habe, als ich das Messer in die Körper meiner Eltern eingestochen habe.

Wie kann man da noch ein Herz haben?

Und gerade, weil ich mich erinnere, dass es mir egal ist, was mit meinem Eltern ist und wer diese Frau vor mir ist, fällt es mir plötzlicher leichter so zu tun als würde es mich nicht verletzten. Was es nicht mal tut. Meine Eltern können mir nicht mehr weh tun. Sie sind tot und sie werde es auch sein. Diese zwei Namen bedeuten mir nichts mehr.

»Ich weiß nicht, wer diese zwei sind«, lüge ich und blicke ihr dabei fest in die Augen. »Ist das so?« Gespielt überrascht hält sie sich die Hand vor die Brust und wird Momente später wieder ernst. »Weiß du, Marco, ich hab mit deiner Mutter geredet, nachdem du deinen Vater getötet hast.« Das wars dann wohl mit meiner starken Selbstbeherrschung.

Ohne noch weiter darüber nachzudenken, schnappe ich mir eines der unbenutzten Messer auf dem Tisch und gehe mit schnellen Schritten auf sie zu. Bevor sie überhaupt realisieren konnte, was passiert, liegt schon die Klinge an ihrem Hals. Sie erschreckt sich kurz, fängt sich aber, schneller als gedacht, wieder. Sie starrt mich selbstbewusst an. In ihren Augen ist nichts von Angst zu erkennen. Als hätte sie schon geahnt, dass das passiert und sich deshalb schon Mental darauf vorbereitet.

Sie atmet ruhig und ihr Herz schlägt gleichmäßig. Ich drücke das Messer etwas tiefer in ihre Haut rein, aber nicht so dass ich sie verletzen könnte. Ich baue nur leicht Druck auf, damit sie angst bekommt. Ihre Reaktion war ein einfaches anheben ihrer Lippen. Sie ... grinst.

»Muss das sein?« So viele Ruhe in ihrer Stimme macht mich schon fast verrückt. Wieso hat sie keine Angst? Ich könnte ihr weh tun und das müsste sie wissen, wenn sie auch von meinem Eltern weiß. Vorausgesetzt es waren wirklich wahllose Namen und sie ist irgendeine Spinnern die fremde Männer von der Straße holt. Sie weiß, das ich meinen Vater getötet habe, aber wieso sagt sie, sie hätte mit meiner Mutter danach geredet? Ich habe beeide getötet, es wäre unmöglich.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie von mir wollen«, zische ich ihr ins Gesicht, drücke das Messer weiter in ihre Haut. Jetzt bewegt sie ihren Kopf etwas nach hinten, löst dennoch nicht den Augenkontakt. »Aber was ich weiß, ist, dass Sie Scheiße labbern und Sie eine Spinnerin sind. Also wenn sie mich entschuldigen könnten, ich verschwinde dann mal.« Ich lächle kurz falsch und will mich schon von ihr lösen als sie anfängt zu lachen.

»Du gibst mir ja nicht mal die Chance, dir alles zu erklären«, kichert sie amüsiert, was mich rasend macht. Genervt halte ich das Messer weiter an ihrem Hals und scheue mich nicht mehr, sie zu verletzten. Wie von selbst drückt meine Hand das Messer tiefer in ihrem Hals und erzeugt damit einen kleinen Schnitt in ihrer alten Haut. Blut ist aber nicht zu sehen. Noch nicht zumindest.

»Ich muss mir Ihre Scheiße nicht geben, so leid es mir auch tut.« Noch tiefer lasse ich den Schnitt werden. »Wir wissen beide, dass du mir trotzdem zuhören wirst«, behauptet sie, weswegen ich mich sofort von ihr löse. Ich gehe ein paar Schritte zurück, blicke sie kurz an und drehe ihr meinen Rücken zu.

Ich habe ehrlich keine lustig mehr auf das Ganze. Was soll das überhaupt?

»Du hast deine Mutter nicht getötet, Marco.« Und ich bleibe sofort stehen, drehe mich aber nicht zu ihr. Ich höre sie erleichtert ausatmen. »Du hast sie nicht getötet, aber fast.« Unmöglich. Ich habe mehrmals eingestochen. Es kann einfach nicht möglich sein, dass sie überlebt hat. »Lüge«, flüstere ich leise. »Nein, ich lüge nicht. Marco, du hast sie nicht getötet. Deinen Vater aber schon. Ihn konnte man nicht mehr retten, aber Diana hats geschafft. Sie hat überlebt.« Die Worte fließen nur so über ihre Lippen, als hätte sie angst ich würde einfach gehen.

Aber nein, sie hat mich jetzt.

»Du lügst«, meine ich und drehe mich im selben Moment leicht zu ihr um, sehe sie aber nicht an. »Du hast auf Diana eingestochen, ja. Aber sie war nicht tot. Sie hat viel Blut verloren, aber sie hat es geschafft und sich bei mir gemeldet. Sie hat geweint und meinte, ich müsse dich finden und beschützen, da sie es nicht mehr kann. Sie ist danach untergetaucht und ich habe nie wieder mehr etwas von ihr gehört«, fährt sie schnell fort. »Hör auf«, bitte ich, doch sie schüttelt nur den Kopf als ich zu ihr blicke.

»Ich bin deine Grandma, Marco. Und ich habe dich gefunden. Ich habe dich aus dem Gefängnis geholt und dich hierhergebracht. Ich hatte zwar die Bindung zu meiner Tochter verloren aber auf meinen Enkel würde ich immer-« Sie erschreckt als das Messer haarscharf an ihr vorbeiflitzt und an der Wand hinter ihr mit einem lauten Geräusch stecken bleibt. Ich atme unregelmäßig. Meine Hände zittern und Panik keimt in mir auf. Ich fahre mir durch die langgewordenen Haare und halte meine Haarsträhnen fest.

Ich bin kurz davor sie einfach abzureißen.

»Marco«, sagt sie nur und erlangt somit wieder meine Aufmerksamkeit. »Halt die Klappe«, schreie ich sie an. Ich kann das nicht. Sie soll ruhig meine Wut spüren. Sie soll spüren, was sie mit mir angerichtet hat. »Du lügst verdammt! Du lügst!« Ich flippe gerade aus und ich kann nichts dagegen machen. »Keine Chance, das Diana noch lebt. Ich habe sie getötet, wie Tyler. Ich habe sie beide getötet!« Ich kann die zwei nicht mehr Mom und Dad nennen. Sie haben diese Bezeichnung niemals verdient.

»Penelope Gray. Ich bin Penelope Gray.« Sie erhebt sich von dem Stuhl und kommt vorsichtig auf mich zu, doch ich blocke sofort ab. »Komm mir ja nicht näher«, warne ich. »Ich kann sonst für nichts garantieren. Ich wollte eigentlich nicht mehr töten aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme.« Sie bleibt stehen und nickt. Sie strahlt immer noch diese starke Haltung aus, doch ihre Ruhe hat sich verflüchtigt.

»Du weißt, wer ich bin oder nicht?«, fragt sie sanft. Penelope Gray, meine Großmutter. Die Mutter meiner Mutter. Diana hat nicht oft von ihr geredet, eigentlich nie, aber wenn, dann hat sie ihren Namen immer erwähnt. Ich nicke nur, kann sie aber nicht ansehen, weil ich es nicht glauben möchte. »Und ich weiß, wer du bist.« Jetzt versucht sie sich mir wieder zu näher und ich lasse sie machen. In meinem Kopf ist gerade zu viel, um noch etwas zu tun.

»Marco Elijah McCartney. Oder Gray ... wenn du möchtest.« Ein kleines Lächeln bildet sich auf ihr faltiges Gesicht. Ich schüttle den Kopf, lasse ihr Lächeln somit etwas zusammensinken. »Nein. Ich bin Marco McCartney und Sie ...« Ich zeige auf sie. »Sie sind verrückt.«

Fortsetzung folgt...

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