Prolog

Es war schon ziemlich dunkel, als Emma nach einem langen Arbeitstag zu Hause ankam.
Der Herbst setzte langsam ein und die ersten Bäume verloren ihre Blätter, während die Straßen vom Nebel leicht feucht im Licht der Straßenlaternen schimmerten.
Das fand sie nicht weiter schlimm, denn Emma mochte den Herbst.
Ihre Wohnung lag bereits völlig im Dunkeln, als sie sie betrat. Nur das grelle Licht der Straßenlaterne fiel in ihr Wohnzimmer. Emma liebte die Dunkelheit. Sie gab ihr immer das Gefühl von Sicherheit, da sie in ihr abtauchen konnte, wann immer sie wollte. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie überhaupt das Licht in ihrer Wohnung einschalten sollte.
Sie blieb in der Wohnzimmertür stehen und beobachtete, wie sich die Schatten der Bäume an ihrer hellen Wand bewegten.
Schon als Kind mochte sie das Schauspiel. Sie konnte stundenlang beobachten, wie die Schatten interessante Figuren formten, während sich ihre Zwillingsschwester immer vor den dunklen Monstern gefürchtet hatte.
Die Nacht, die Dunkelheit, hatten sie schon immer fasziniert, sie angezogen wie der Mond den heulenden Wolf.
Die magisch glitzernden Sterne am Himmel beruhigten sie. Sie fühlte sich geborgen, wenn sie nachts am Fenster saß und einfach nur in die Ferne blickte.
Und manchmal fragte sie sich dann, was wohl passieren würde, wenn sie einfach ginge. Egal wohin. Hauptsache weit weg, so weit wie die Sterne am Firmament.
Sie fühlte fast körperlich, wie die Dunkelheit an ihr zog. Nach ihr rief, sie lockte und verführte herauszukommen aus ihrer schützenden Wohnung, hinein in die Nacht.
Sie spürte, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte, vielleicht auch nicht wollte. Manchmal erkannte sie den Unterschied nicht. Und je mehr sie versuchte es herauszufinden, desto mehr verschwamm die Antwort vor ihren Augen.
Eines war ihr klar, es würde der Tag kommen, an dem sie dem Ruf der Nacht folgen würde. Irgendwann hatte sie nicht mehr die Kraft, dem Drang zu widerstehen, die Nacht zu entdecken.
Die Nacht mit all ihren Geheimnissen und Gesichtern. Irgendwann, das wusste sie, würde sie hinter die Fassade dieser verführerischen Welt schauen. Dann würde sie nicht mehr nur im Publikum als Zuschauer sitzen, sondern auf der Bühne mitspielen. Und wenn der Vorhang dann fiel, der die Welten voneinander trennte, würde sie wissen, wie es sich anfühlte hinter die Maske zu blicken.
Irgendetwas sagte ihr, dass da mehr existierte als nur die Welt, in der sie lebte. Sie wusste es gab spannende, wenn nicht sogar unfassbare Dinge zu entdecken. Dinge, die fernab ihrer Vorstellungskraft lagen.
Manchmal hatte Emma das Gefühl, dass ihr fremde Augen folgten. Augenpaare, die so sonderbar waren. Aber der Augenblick verflog jedes Mal so schnell wie er zuvor gekommen war. Dennoch meinte sie dann, in diesen kurzen Momenten, einen warmen Atem an ihrem Nacken spüren zu können.
Es fröstelte sie, aber gleichzeitig fing ihr Herz vor Aufregung an wie wild zu rasen. Sie wusste, sie bildete sich das nicht ein. Aber die Augenblicke waren so kurz, so flüchtig, dass sie nicht greifbar waren.
Sie erinnerte sich an ein Konzert ihrer Lieblingsband. Sie stand mitten in der Menge als sie ein stechendes hellgraues Paar Augen sah.
So stechend, dass sie blinzeln musste. Ein glitzerndes Grau, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Noch nie hatte jemand sie mit so einem intensiven Blick bedacht. Noch nie hat ein Augenpaar ihr Herz so schlagen lassen. Diese Augen würde sie nie vergessen und Emma würde sie überall erkennen.
Der Moment dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber er hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Immer wenn sie unterwegs war, suchte sie unbewusst nach dem Augenpaar, aber sie hatte es seit dieser einen Nacht nicht mehr gesehen. Das war ungefähr der Zeitpunkt gewesen, als sie anfing zu glauben, dass sie beobachtet wurde.
Immer wieder drehte sie sich um. Auf der Straße, in der Bahn, an der Supermarktkasse. Aber nie blickten ihr diese grauen Augen entgegen. Mittlerweile hatten ihre Träume nur eine Farbe. Grau. Glitzernd wie Eiskristalle und nicht zu fassen wie Nebelschwaden.
Manchmal dachte sie etwas Graues glitzern zusehen, aber das konnten genauso Reflexionen der Straßenlaternen oder Scheinwerfer der vorbei fahrenden Autos gewesen sein.
Sie wünschte sich so sehr diese Augen nochmals zu sehen. Sie wachte morgens mit Gedanken an eben jene auf und ging abends mit ihnen vor ihrem inneren Auge zu Bett. Sie traute sich nicht mit jemand anderem darüber zu sprechen, denn sie hatte viel zu große Angst vor den Reaktionen.
Emma wusste, dass niemand sie verstehen würde. Galt sie doch sowieso schon als die Seltsame, der Joss-Zwillinge.
Anna, ihre eineiige Zwillingsschwester und sie konnten nicht unterschiedlicher sein. So sehr sie sich vom Aussehen her auch glichen, charakterlich waren sie wie Tag und Nacht.
Emma hatte schon immer einen Hang zu Abenteuergeschichten. Sie hatte sie gelesen, verschlungen, oder sich im Kopf ihre eigenen ausgedacht und sich in diesen verloren. Ihre Schwester hatte darüber immer nur gelacht und ihre Mutter hatte nur die Augen darüber verdreht und den Kopf geschüttelt.
Aber ihr größter Traum war es, einmal selbst ein Abenteuer zu erleben. Nicht nur im Kopf, sondern es zu fühlen, mit allen Sinnen. Und sie war bereit einiges dafür zu riskieren.
Sie war überzeugt davon, dass diese grauen Augen jede Menge Abenteuer bedeuteten. Nur musste sie sie finden und das erwies sich als schwierig, denn sie hatte wirklich keine Ahnung, wo sie anfangen sollte zu suchen.
Wo suchte man etwas, von dem man noch nicht einmal sicher war, dass es existierte? Wo fing man an?
Und wenn sie ihre Augen schloss und tief durchatmete, dachte sie, dass sie vielleicht wieder zum Anfang zurückkehren musste. Dort wo alles angefangen hatte.

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