Ihre Narben

Ihre Sicht

Jeff ist erst am Abend wieder verschwunden. Am liebsten hätte ich ihn angeboten hier zu bleiben, doch erschien es mir etwas zu voreilig. Er wirkte durcheinander, vermutlich muss er alles erst verarbeiten. Und dann war da der Kuss ...

In Gedanken berühre ich meine Lippen. Ich schließe meine Augen und lasse ihn Revue passieren. Was hat er in mir nur ausgelöst? Wieso habe ich diese Gefühle so schnell zugelassen?

Schwer schlucke ich. Noch tiefer Kauer ich mich in meine Couch. Meine Brust fühlt sich an, als würden schwere Steine drauf liegen. Er ist gebrochen. Natürlich brauch er Zeit. Er wird sich mir nicht von heute auf morgen gänzlich öffnen können. Doch trotzdem ... trotzdem wünschte ich ihn besser zu verstehen. Was mag wohl passiert sein?

Automatisch greife ich nach meinen Exemplar des Buches und starre auf den Titel.

"Der Fall von Lucia Hoge.", flüstere ich. Sanft streiche ich über die Worte. "Hat es mit dir zu tun?" Ich presse meine Lippen zusammen. Als ich ihn gefragt habe, ob er Lucia kennt, hat er nicht gelogen. Dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass sie irgendwie darin verwickelt ist.

"Lucia.", flüstere ich wieder. "Was ist dein Geheimnis?" Ich schlage das Buch auf und beginne mit der ersten Seite.


-


Ich träume in der Nacht von ihr. Ich sehe sie, wie sie lacht, wie sie mich ihre Hausaufgaben abschreiben lässt, wie sie mit mir ihr Essen teilt. Und ich sehe sie, wie sie blutet, schreit, vom Himmel fällt. Dann -
wechselt die Perspektive.
Und ich
bin sie.
Mit strahlenden Flügeln -
deren Feder nach und nach ausfallen.
Es sind höllische Qualen, doch ich erdulde sie.
Schnitte zieren meine Haut
und lassen meinen Körper schwerer werden.
Meine Flügel verkümmern -
und dieses Mal Falle ich.
In ein dunkles, kaltes Loch. Und ich höre eine Stimme und -
Und es ist seine Stimme. Ich blicke umher und sehe ihn.
Sehe ihn vor mir stehen. Und plötzlich verstehe ich seine Worte:
"Du könntest auch so aussehen. Wie ein Engel."
Und sein Blick streift meinen und ein wohliger Schauer erfüllt mich.
"Sei mein - Mal'ach." Und er streckt seine Hand aus.
"Ja.", forme ich stumm. Ich greife nach seiner Hand, doch greife ich ins Leere.
Er ist verschwunden und

schweißgebadet wache ich auf.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es vier Uhr morgens ist. Mit meinen Handrücken schiebe ich die nassen Haarsträhnen von meiner Stirn und mit Schwung richte ich mich auf. Dabei fällt mein Buch zu Boden.

Ich bin beim lesen eingeschlafen.

Noch immer zittere ich am ganzen Körper, ich hätte ihr Buch nicht vorm schlafen lesen dürfen. Denn obwohl das Buch bisher keine furchteinflößenden Details beschrieben hat, liest es sich, als sei es eine Horrorstory. Tagebucheinträge, Interviews von Bekannte, Freunde und Familie lesen sich, als wäre ich Teil des Geschehens. Ich fühle mit Lucia mit, doch weiß ich auch wie es mit ihr endet. In gewisser Weise kann ich mich mit ihr Identifizieren -
sie -
...
wird in dieser Biografie menschlicher beschrieben, als ich es je in einer Biografie erlebt habe.

Es ist, als würde ich sie kennen.

Ihren Tagesablauf, ihre Ansichten, ihre Freunde. Ihre Wünsche und Ängste, sowie ihre Vorstellungen.
Ich will nicht, dass sie tot ist.
Ich fühle mit ihr.

Ich will, dass das Buch ein gutes Ende hat.
Doch das wird es nicht.

Die schwere legt sich wieder auf meine Brust. Um mich nicht weiter von meinen Gefühlen beeinflussen zu lassen richte ich mich auf.

Eine Dusche. Eine Dusche ist genau das, was ich jetzt brauche.

Das kalte Wasser fühlt sich gut auf meiner erhitzten Haut an. Entgegen meiner üblichen Dusch-Routine lasse ich mir Zeit. Wieder und wieder denke ich über das Gelesene nach und wieder und wieder fühle ich mich Lucia ein Stück mehr verbunden.

Meine Hand gleitet beim Einseifen über meinen Körper. Einige Stellen meiner Haut fühlen sich rau an, automatisch ziehe ich meine Hand weg und betrachte die Stellen. Meine Narben. Eigentlich lasse ich sie beim einseifen immer aus. Dieses Mal war ich zu sehr in Gedanken versunken. Angespannt presse ich meine Lippen zusammen, ist es wirklich ein so unbedeutendes Gefühl?
Vorsichtig streife ich die Stellen wieder mit meinen Fingerspitzen. Ich spüre es kaum. Früher konnte ich vor Schmerzen kaum atmen. Fasziniert streife ich immer wieder über meine Narben, sie sind inzwischen ein Teil von mir. Sie schmerzen nicht, ich nehme sie kaum noch wahr und sie ... sie sind schön.

Früher habe ich nie so gedacht.

Lucia ... hatte auch Narben. Narben, die ihr von ihrem Mörder zugeführt wurden. Und eine im Gesicht, die sie sich - laut ihrer Freundin - selbst zugefügt hat, während sie im Matheunterricht zur Toilette verschwunden ist.

>Es hat nicht aufgehört zu jucken<, soll sie gesagt haben. Und einen Augenblick lang huscht in mir die Erinnerung auf, dass meine Haut vor meinen Narben auch immer so schrecklich gejuckt hat.

Ist das ... eine reale Erinnerung? Oder vermisch sich gerade meine Wahrheit?

Schlagartig nehme ich meine Hände von meinen Narben.

Ob sie ihre Narben wohl angenommen hat?

-

Um 6 Uhr halte ich meine Gedanken kaum noch aus. Unsicher klappe ich meinen Laptop auf und besuche Lucias Social Media Seiten. Viel erfährt man dabei über sie nicht. Sie hat ihre Privatsphäre wirklich sehr ernst genommen oder kein Interesse an Social Media gehabt. In der heutigen Zeit vermutlich gar nicht Mal so verkehrt.

Frustriert will ich den Tab schon schließen, da kommt mir ein anderer Gedanke.

Vielleicht ist sie nicht im Internet präsent, aber gilt das auch für ihre Freunde?

Als Erstes suche ich nach Elina, doch finden kann ich sie nicht. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sie keinen Account besitzt, aber vermutlich verwendet sie nicht ihren richtigen Namen. Zudem kommt, dass ich gar keine Ahnung habe wie sie aussieht. Als Nächstes suche ich nach Ben. Er und Elina werden recht häufig in dem Buch erwähnt, ich gehe davon aus, dass die zwei ihre besten Freunde sind. Beziehungsweise waren.  Auch für Ben scheint meine Suche erst aussichtslos. Ich habe mehr als ein Duzen Profile abgeklappert, bei denen ich mir nicht sicher sein konnte, ob es sich um die gesuchte Person handelt. Viele Anhaltspunkte habe ich nicht. Doch - 
beim letzten Versuch werde ich fündig.

Ich stoße auf ein Profil, welches der Öffentlichkeit frei zugänglich ist. Dafür, dass er kein Influencer ist, hat er sehr viele Follower und Beiträge gepostet.
Und auf einigen Fotos ist auch sie abgebildet.

Das muss er sein.

Seinen letzten Beitrag hat er zwei Wochen vor der Ermordung von Lucia hochgeladen. Davor hat er in regelmäßigen, kurzen Abständen Bilder gepostet und die Außenwelt mit seinem Leben behelligt. 

Wie es ihm wohl seit dem Tod seiner besten Freundin geht?


So, ein neues Kapitel :) Danke an die Leute, die immer so lieb Votes und Kommis dalassen. <3 freue mich jedes Mal riesig :)
Das nächste kommt nächste Woche :D



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