Ihre Heimat
Um 9 Uhr machen mich meine Gedanken verrückt. Ich kann nicht aufhören durch Bens Profil zu wischen und mir immer wieder seine Bilder anzusehen. Auf den meisten lacht er. Auf vielen ist er mit Freunden, wobei Lucia immer wieder eine davon ist. Auf wenigen hat er etwas anderes als Menschen fotografiert.
Innerhalb der drei Stunden ist es, als würde ich ihn kennen. Und als würde er mir eine verborgene Tür zu Lucia öffnen.
Das letzte Bild von Lucia auf seinen Profil ist ohne ihre Narbe. Sie lacht und sitzt auf dem Boden. Ihre Haare sind leicht durcheinander und ihre Wangen etwas gerötet. Laut der Beschreibung ist sie kurz vorher gestolpert und auf ihren Po gelandet. Sie ist gefallen.
Bevor ich weiter überlegen kann - und das Bild mich weiter verfolgen, klappe ich meinen Laptop zu. Ich sammle ein paar Sachen zusammen und stopfe sie in eine Handtasche, die an meiner Garderobe hängt. Zum Schluss greife ich nach meinem Buch und meiner Jacke, die ich mir nur über den Arm hänge.
Draußen steige ich in mein kleines, altes Auto. Hoffen wir Mal, dass mein Auto auf den ungefähr 200 km nicht schlapp macht.
Langsam kommt mein Auto auf dem Parkplatz Lucias ehemaliger Schule zum stehen. Ich bleibe im Auto sitzen, meine Hände am Lenkrad, mein Blick in den Rückspiegel versunken. Ich sehe mir selbst in die Augen.
Was mache ich hier?
Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Wieso bin ich so? Wieso werde ich von Sachen so schnell besessen?
Ich lasse mein Kopf nach vorne fallen, doch schrecke ich sofort hoch, als ich meine Hupe höre.
"Scheiße!", fluche ich und richte mich schnell wieder auf. Die Hände schlage ich mir vors Gesicht. Das ist wieder typisch. In einer 'Nacht und Nebel Aktion' mache ich wieder irgendwas, ohne genau darüber nachzudenken.
Was mache ich hier?
Ich kann nicht einfach in die Schule gehen und mit Ben oder anderen Freunden von ihr sprechen. Die kennen mich ja nicht. Nur weil ich das Gefühl habe ihn zu kennen, gilt das nicht auch andersrum. Die werden wohl kaum ein Mädchen im Internet gestalked haben, dass Meilenweit weg wohnt und keine Verbindung zu ihnen hat.
Deswegen muss es mir aber auch nicht unangenehm sein einfach auszusteigen. Sie werden mich nicht erkennen.
Ich schlage gerade die Tür zu, als ich die Pausenglocke höre. Das nenne ich Timing. Einen Wimpernschlag stehe ich angewurzelt da, bis ich mich auf den Weg zum Pausenhof mache. Ein kleiner Schulwald grenzt am Pausenhof, ich stehe am Baum gelehnt und beobachte das Treiben. Nicht viele sind draußen, was Schade bei diesem schönen Wetter ist. Die Bilder von Ben zeigen ihn oft auf den Schulhof, weswegen ich große Hoffnung hege. Doch ich finde ihn nicht. Mein Blick gleitet zum Schulgebäude. Es ist riesig. Darin werde ich ihn sicher nicht finden.
Und dann -
Dann sehe ich seinen blonden Schopf. Er kommt gerade zur Tür heraus. Sein Kopf ist gesenkt und er steuert gerade auf eine Bank zu, auf die er sich niederlässt.
Er holt etwas aus der Tasche.
Er holt ein Buch aus der Tasche.
Er holt ihr Buch aus der Tasche.
Statt darin rumzublättern starrt er auf das Cover. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber seine Haltung verrät ihn.
Er spürt Trauer.
Und tief in meiner Brust, da spüre ich sie auch.
Sie brennt.
Sie schreit.
Sie lacht.
Lacht über die Ironie von Lucias Schicksal.
Der Engel, der gefallen ist.
Wie Luzifer einst vor ihr.
Bevor ich - ohne jeglichen Gedanken verschwendet zu haben - handle, verschwinde ich.
Aber das lachen verstummt nicht.
Eigentlich wollte ich noch bei Lucias zu Hause vorfahren. Eine Querstraße davon entfernt habe ich Halt gemacht.
Es ist nicht richtig.
Ich darf den Bogen nicht überspannen. Auch ihre anderen Freunde habe ich nicht aufgesucht. Ben hat mir gereicht. Für den Moment hat mir Bens Anblick gereicht.
Wenn ich meine Augen schließe, dann sehe ich ihn.
Und seine Trauer zerreißt mich.
Auf den Rückweg fahre ich langsamer. Immer wieder mache ich Halt und hole Luft -
hole Luft
die ich brauche.
Ich ersticke im Auto
und kann nicht ohne diese Unterbrechungen fahren.
Der Sonnenuntergang bricht gerade an, als ich mein Auto in der üblichen Parkbucht zum stehen bringe. Wieder bleibe ich sitzen. Wieder lasse ich den Tag Revue passieren.
Was mache ich nur.
Müde und aufgewühlt gehe ich die Treppe zu meiner Wohnung hoch. Ich reibe meine Schulter - trotz der langen Pausen fühlt sie sich steif an. Und als ich vor meiner Wohnungstür angekommen bin, erschrecke ich fast.
"Jeff."
Er sitzt vor meiner Wohnungstür, am Türrahmen gelehnt und seine Kapuze tief in sein Gesicht gezogen. Ein Bein hat er angewinkelt, bei der Erwähnung seines Namens sieht er zu mir hoch.
"Luci.", erwidert er.
Bei der Erwähnung meines Namens stolpert mein Herz.
Es stolpert -
während die Trauer in meinen Körper versiegt und das Lachen in meiner Brust aufhört.
Und ich realisiere,
das er -
mein Heilmittel ist.
Ein Heilmittel gegen meine Besessenheit.
Nach so kurzer Zeit -
ein Lächeln stielt sich auf meinem Gesicht.
bin ich süchtig geworden.
Und ich reiche ihn eine Hand.
Süchtig nach ihm.
Dieses Kapitel widme ich @Akya-Runemoon für ihre lieben Kommentare :) <3 Danke!
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