Kapitel 5
„Niemals!", rief ich lachend in Unglauben. „Doch, wenn ich es dir doch sage!", entgegnete Heather und brach ebenfalls in lachen aus.
„Es war schrecklich. Der Feuchtigkeitsgrad glich einem Wasserfall. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sein Speichel in Strömen floss. Wie ein Wasserfall, wie ich schon sagte. Es war zwar mein erster Kuss, aber selbst da wusste ich, dass etwas gewaltig schief lief.", fügte sie augenrollend hinzu.
„Was hast du dann gemacht?"
„Na was wohl?" Heather versteckte die Röte in ihrem Gesicht hinter ihren Händen und holte tief Luft, bevor sie mir erneut in die Augen sah.
„Ich habe nichts getan. Ich habe ihn einfach machen lassen. Habe es über mich ergehen lassen und den Ekel runtergeschluckt."
„Du hast seine Spucke runter geschluckt?", wollte ich angeekelt wissen.
„Naja ich hatte getrunken. Alle anderen in meiner Stufe hatten bereits mehr Erfahrungen gemacht und ich wollte dazu gehören. Außerdem... Ich meine, wohin denn sonst mit der ganzen Flüssigkeit?", gab sie niedergeschlagen zurück. „Ich bin mir sicher, dein erster Kuss war wahnsinnig romantisch.", fügte sie grinsend hinzu.
„Na ich hoffe doch. Hoffentlich war ich kein Speichelschlucker so wie du!", grölte ich.
Heather griff nach dem Kissen auf ihrem Schoß und schleuderte es mir mit Wucht ins Gesicht.
„Er ließ dich wenigstens nicht verdursten. Ein Durstlöscher eben!"
Sie sah mich ungläubig an. „Ist das dein erst? Ich werde dir nie wieder etwas erzählen.", sagte sie beleidigt.
Meine Gedanken schweiften ab. Wie war es wohl bei mir gewesen, mein erster Kuss? Hatte ich ihn wohl überhaupt schon? War es romantisch? Oder glich mein erster Kuss auch einem Desaster, sowie bei Heather? Wie hatte es sich angefühlt? Eher atemberaubend oder schoss die Reue und der Ekel durch meine Adern? Hatte die Leidenschaft überhand gewonnen und mich alles vergessen lassen? Mal angenommen, ich hätte meinen ersten Kuss gehabt. Könnte ich es noch oder war auch mein Kuss-Talent mit meinem Gedächtnis in Vergessenheit geraten?
Ich wollte gerade zu einer Antwort ausholen, doch wurde von einem klopfen an unserer Zimmertür unterbrochen. Kurz darauf wurde sie einen Spalt geöffnet. Doch es trat niemand ein. Neugierig lehnte ich mich vor und schielte zum Türspalt rüber, um sehen zu können wer sich hinter der Tür befand.
„Hallo? Wollten sie noch rein oder was? Falls nicht, wären wir dankbar, wenn sie die Tür wieder schließen könnten.", fragte Heather laut die unbekannte Person und rollte genervt mit den Augen.
Langsam wurde sie geöffnet. Erstaunt stellte ich fest, dass es meine Mutter war.
„Hallo Anna.", grüßte sie mich zurückhaltend. „Können wir einen Augenblick reden? Alleine?", sagte sie und warf Heather vielsagende Blicke zu.
„Sie heißt Katie.", gab sie unbeeindruckt von sich und sah sie gelangweilt an, was meiner Mutter einen verwirrten Blick entlockte.
„Ich hatte den Schwestern doch gesagt, dass ich keinen Besuch dulde. Was gibt es so dringendes, dass du trotz meiner Bitte hier bist?"
„Ich sagte alleine!", wiederholte sie streng in einem fordernden Ton.
„Bin eben auf Klo!", gab Heather genervt von sich und stand auf. Nur schleichend langsam schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und streckte ihre Glieder seelenruhig. Schleppend ging sie auf meine Mutter zu und löste ihren Blick nicht ein einziges Mal von ihren Augen, ließ sich nicht einschüchtern.
„Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen junge Dame", brachte sie im Vorbeigehen heraus und sah meiner Mutter angriffslustig in die Augen, bevor sie mit lauten, schlürfenden schritten davon trottete und sich im Badezimmer, mit einer laut knallenden Tür, einschloss.
Geschockt über Heathers Unhöflichkeit starrte meine Mutter die Badezimmer Tür an. Auch wenn ich ihr Verhalten unbegründet fand, fand ich es ebenso amüsant. Unterdrückte jedoch das kichern und versteckte das grinsen auf den Lippen, da Mutter ihren, ziemlich ernst wirkenden Blick auf mich richtete. Woher nahm Heather bloß ihren Mut, so mit ihr sprechen zu können?
„Das ist ja unerhört. Ihr müsste man dringend Manieren beibringen.", ärgerte sie sich sichtlich. „Ich habe unsere Familie nicht ohne Grund von solchen Schichten fern gehalten. Sie haben keine Manieren. Liegen uns auf den Taschen, diese Schmarotzer. Und haben einen schlechten Einfluss auf Menschen wie uns."
„Menschen wie uns? Was unterscheidet uns denn so von ihnen? Ich denke viel eher Menschen wie ihr habt einen schlechten Einfluss auf UNS!", sagte ich und wunderte mich über die Art und weise, wie ich mit ihr sprach. Ich konnte selber nicht verstehen, woher diese Worte heraussprudelten. Doch die Wut darüber, dass sie Heather als einen Menschen dritter Klasse abstempelte, die keine Manieren und keinen Anstand besaß, brach aus allen dämmen in meinem inneren. Ich distanzierte mich klar und deutlich von ihr. Machte ihr bewusst, dass ich mich an Heathers Seite wand, sie in Schutz nahm. Vor ihr und Menschen wie sie, doch wusste nicht wer ich war. Ich wusste nicht, wie ich früher war. Teilte mein früheres ich ihre Meinung oder hatte ich mich zu seiner Zeit ebenso gegen sie gestellt? Gegen sie und ihre Ansichten.
„Ich sehe, sie hat dich schon mehr als beeinflusst. So hättest du früher niemals mit mir gesprochen. Und mit jemandem wie ihr hättest du dich nie und nimmer abgegeben. Du kanntest deinen Platz. Aber keine Sorge ich werde dem ein Ende bereiten. Wenn du glaubst, dass du hier tun und lassen kannst was du möchtest und mir auf der Nase trampeln kannst, hast du dich gewaltig getäuscht. Ich dulde solch ein respektloses Verhalten nicht. Schon garnicht mir, deiner Mutter, gegenüber. Das wird ein Ende nehmen. Ich werde mit Mr. Harris sprechen müssen. Sie behindert deine Therapie, wie ich sehe, deutlich und wird dich auf die falsche Schiene führen. Und mit eurer kleinen Mädels-WG ist auch Schluss. Du bist doch kein kleines Kind, dass du rebellieren musst und solch kindische Verhaltensweisen an den Tag legst."
Was fiel ihr ein? Begriff sie nicht, dass sie eine Fremde für mich war? Dass ich ihr gegenüber nichts empfand? Wut keimte sich in mir auf. Kroch durch meine Adern und kämpfte sich einen Weg in die Freiheit. Wollte wüten und toben wie ein stürmischer Wind, der durch Landschaften zog. Sich ihren Weg frei räumen, um letzten Endes sich friedlich aufzulösen.
„Du wirst gar nichts tun. Ich fühle mich wohl und meine Therapie geht dich einen scheiß Dreck an. Kümmere dich um deinen eigenen Kram und lass mich endlich in Ruhe. Wann habe ich dir überhaupt erlaubt hierher zu kommen? Ich meine ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt, als ich sagte, dass ich keinen Besuch dulde und dazu gehörst du auch. Also verschwinde und hör auf dich in meine Angelegenheiten einzumischen!", schrie ich sie an, meiner Wut, ungebändigt, ihren freien Lauf lassend. Es rauschte laut in meinen Ohren, ließ Geräusche von außen nicht zu. Tränen stiegen in meine Augen, die ich versuchte mit dem Kloß, welches sich in meinem Hals aufgestaut hatte und mir das atmen erschwerte, herunter zu schlucken.
„Anna! Es reicht! Jetzt ist Schluss! Ich..."
„Das würde ich auch sagen. Schluss damit. Sie wissen ja wo die Tür ist und ich denke sie wissen genau wie man es benutzt. Immerhin scheinen sie ein ziemlich kluges Köpfchen zu sein.", unterbrach Heather meine Mutter gelassen und kam auf ihr Bett zu, um sich entspannt auf die weiche Matratze des schmalen Bettes fallen zu lassen. Seitlich lag sie da und stützte ihren Kopf mit ihrer Hand ab. Abwartend blickte sie ihr entgegen.
Meine Mutter sah sie bloß entsetzt an und schnappte völlig außer sich nach Luft, nicht wissend, wie sie Heathers verhalten einstufen sollte.
„Das... Das ist doch unerhört. Wie kannst du es wagen so mit mir zu sprechen? Ich glaube dir ist nicht bewusst, wer dir gegenüber steht!"
„Nein, das ist es gewiss nicht. Um ehrlich zu sein interessiert es mich nicht im geringste wer sie sind. Sie sind mir unsympathisch und das reicht mir. Also wenn ich bitten darf... Ich hätte gerne meine Ruhe und die kann ich in ihrer Gegenwart nicht haben..", fuhr Heather unbeirrt fort und trieb Mutter noch weiter zur Weißglut. Ihr Gesicht hatte eine schon fast ungesunde Röte angenommen.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und war mit wenigen Schritten bereits an der Tür angekommen. Doch wurde von Heather ein letztes Mal aufgehalten, bevor sie unser Zimmer verlassen konnte.
„Und bevor ich es vergesse. Ich weiß nicht wer ihnen Manieren beigebracht hat, aber ich finde es äußerst unhöflich, dass sie mich duzen. Ich kann mich nicht erinnern, ihnen das Du angeboten zu haben. Ach und noch etwas. Ich hoffe ich muss sie hier nicht noch einmal sehen. Sie behindern meine Genesung. Einen wunderschönen Tag wünsche ich noch, junge Dame."
Bebend vor Wut raste sie aus dem Zimmer und knallte die Tür voller Wucht hinter sich zu.
„Man man man. Wir sind hier in einem Krankenhaus. Hier wird nicht mit den Türen geknallt!", Schrie sie der geschlossenen Tür entgegen. Wohlwissend, dass Mutter es nicht hören konnte und kicherte kopfschüttelnd vor sich hin.
Geschockt sah ich das furchtlose Mädchen auf dem Bett neben meinem an. Wie sie in der Matratze versank und zufrieden vor sich hin lächelte. Sie wirkte so tiefen entspannt. Ich konnte es mir nicht erklären, wie sie so gegen diese autoritäre und zugleich furchteinflößende Person angehen konnte, ohne einmal mit der Wimper zu zucken. Kein Anzeichen von Reue. Keine Angst. Ich konnte es nicht fassen. Es wollte nicht in meinen Kopf rein, wie ein Mensch so viel Mut in solch einem zierlichen Körper beherbergen konnte. Wo nahm sie sich das her? Sie aß und trank das selbe wie ich. Am Essen konnte es also nicht liegen. Lag es wohl an dem was sie in ihrem Leben gesehen und erlebt hatte? An den schmerzen und dem Leid, welches sie ertragen musste? Lag es wohl an ihrem Stiefvater, von dem sie ungeahnt und ungewollt lernte stark und mutig zu sein? An den erlebten Ereignissen, welche sie prägten? Auch wenn andere es anders sahen und ihr Verhalten als unhöflich abtaten, ich konnte nicht anders als sie zu bewundern.
Wie war ich wohl, bevor meine Erinnerungen sich von mir verabschiedeten? War ich eine Rebellin oder die handzahme Tochter, die dem Willen ihrer Eltern bedingungslos nachkam? Welche Ereignisse machten mich zu dem Menschen, der ich gewesen bin?
„Du bist doch verrückt!", brach ich schließlich in Gelächter und ließ meine Gedanken fürs erste ruhen. Sie bereiteten mir Kopfschmerzen.
„Na na na! Wird hier etwa noch jemand unhöflich?", gab Heather mit einem Augenzwinkern zurück.
„Um ehrlich zu sein, finde ich diese Frau nicht gerade sympathisch. Ich weiß nicht wie sie deine Mutter sein kann. Ihr seid so unterschiedlich. Nicht mal ansatzweise vergleichbar. Bist du dir sicher, dass sie deine Mutter ist? Vielleicht ist sie ja eine Betrügerin?", grübelte sie vor sich hin.
„Heather?"
Ihr Blick richtete sich auf mich. „Ja?"
„Wie machst du das?"
Verwirrt sah sie mich an „Was meinst du?"
„Naja, wie schaffst du es so mutig zu sein? Vorhin, als du mit ihr gesprochen hast, hast du keine Sekunde gezögert, ihr deine Meinung mitzuteilen. Deine Meinung über sie und ihre Art. Du hast nicht gezögert ihr klar zu machen, dass sie dir auf den Geist geht."
Heather legte sich auf den Rücken und sah nachdenklich der Decke empor. Mit dem Zeigefinger spielte sie mit einer Haarlocke. Wickelte es immer und immer wieder um ihren Finger, um es anschließend von ihrem Kopf weg zu ziehen. Sanft fiel die Strähne auf das Kissen und sie legte ihre Hände ruhig neben ihrem Körper auf das Bett.
„Ich war nicht immer so.", fing sie an und pausierte , um einmal tief ein und aus zu atmen.
„Damals, als mein Vater gestorben ist, hatte es mir wortwörtlich die Sprache verschlagen. Ich habe kaum geredet. Hatte mich von meinen Freunden abgewandt. Während die anderen Kinder draußen in ihren Vorgärten gespielt und gelacht hatten, saß ich in meinem Zimmer. Stumm, vor mich hin grübelnd. Mit dem Versuch beschäftigt, die Welt und das Leben zu begreifen. Zu begreifen, wieso Papa nicht mehr da war. Ich konnte es nicht verstehen. Es war in meinen Augen total unlogisch. Verstehst du was ich meine? Es war so unfair, dass mein Vater einfach verschwunden war. Ich konnte nicht verstehen wieso er gegangen war. Der Tod war damals das reinste Rätsel für mich. So surreal. Nichts womit ich etwas anfangen konnte. Nichts und niemand konnte mir erklären, wie er plötzlich nicht mehr an meiner Seite sein konnte. Jeder sagte, er sei bei mir und würde über mich wachen, immer bei mir sein. Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, trugen sie mir , einem sieben jährigen Kind, auf, ich solle versuchen ihn zu spüren. Wie soll ein Kind solch etwas tiefgründiges verstehen, wenn es gerade dabei ist, Eindrücke zu verarbeiten?"
Erneute Stille legte sich um uns,ließ mich die Emotionen aufsaugen, welche sie frei gab, um die Dinge nachvollziehen zu können, die sie fühlte, um sie zu verstehen.
„Als ich auf die High School kam, lernte meine Mutter ihren neuen kennen. Es war schwer für mich mit anzusehen, wie meine Mutter sich auf einen anderen Mann als meinen Vater einließ. Ich wollte es nicht akzeptieren. Ich akzeptiere es bis heute nicht. Und das war die Zeit wo ich anfing, gegen die beiden zu rebellieren. Ich stritt mich fast jeden Tag mit meiner Mutter. Wenn sie nicht zuhause war, kam er mir ständig zu nah. Es war mir unangenehm, also habe ich es meiner Mutter erzählt. Sie war der Meinung, ich würde Dinge erfinden, um die beiden auseinander zu bringen. Ab da fingen auch die Auseinandersetzungen mit ihm ebenfalls an. Ich musste seine Wutausbrüche jahrelang ertragen, wie er meine Mutter immer mehr und mehr einschüchterte, dass sie nicht einmal den Mut aufweisen kann, in zu verlassen.
Er hat ein ziemliches Alkoholproblem, was auch dazu führte, dass er seinen Job verloren hat. Er sitzt jeden Tag faul zuhause rum. Er klebt am Fernseher und tut rein gar nichts. Als ich herausfand, dass er auch ein ganz schönes Drogenproblem hat, habe ich ihn daraufhin konfrontiert. Dieser Mann stillt seine Süchte mit dem hart erarbeiteten Geld meiner Mutter. Während sie versiffte Toilette sauber schrubbt, verprasst er ihr Geld. Die Konfrontation hatte damit geendet, dass er mich zusammen... Nein, er hat mich krankenhausreif geschlagen."
Tränen glitzerten in ihren Augen, während sie immer tiefer in ihrem Herzen kramte. Sie stocherte selber in der frischen Wunde ihres Herzens, welches all die Jahre nicht die Gelegenheit hatte zu verheilen. Sie wurde immer wieder aufgerissen.
Ohne weiter zu überlegen stand ich auf und legte mich zu ihr. Lag auf der Seite mit einem Arm unter dem Kopf abgestützt, mit der anderen Hand griff ich ihre und drückte leicht zu. Ich konnte sehen auch wenn sie nichts weiter sagte, wusste ich, dass sie bloß nach den richtigen Worten suchte, um fortzufahren. Auch sie änderte ihre Position und verlagerte ihr Gewicht auf die Seite, um mich ebenfalls anschauen zu können. Ein Lächeln, welches ihre Augen nicht erreichte, legte sich auf ihre Lippen. Langsam erreichte meine Hand ihr Gesicht und strich einmal über ihre feuchte Wange. Geduldig darauf wartend auch den Rest zu hören. Der endgültige Schritt in ihre Seele. „Weißt du was das witzigste ist?", fragte sie mich und schloss ihre Augen. Die Tränen, die sich in ihren Augen aufgestaut hatten quollen über und liefen erneut unaufhaltsam. Ich rückte ihr näher und überbrückte die kleine Distanz zwischen uns. Drückte sie gegen meine Brust und versuchte ihren Schmerz zu teilen. Wenn möglich nur ein Stück davon aufzunehmen, damit ich sie entlasten konnte. Ich wusste nicht, ob es sie entlastete aber ich wusste, dass ich ihren Schmerz fühlen konnte. Ich spürte das brennen in meinem Herzen und drückte sie noch fester an meinen Körper.
„Die Frau, die sich meine Mutter nennt, kam nicht einmal hier her um zu fragen wie es mir geht. Wenn Vater noch leben würde, wäre das alles niemals passiert. Sie hat sich so verändert. Er ist süchtig nach seinem Zeug und sie ist süchtig nach ihm. Ich habe in ihrem verkorksten leben keinen Platz. Ist vielleicht auch besser so. Ohne sie bin ich offensichtlich besser dran. Ich meine sieh mich doch mal an, seit ich hier bin, habe ich noch kein einziges Mal Schläge kassiert. An einem fremden Ort sicherer zu sein als in seinen eigenen vier Wänden ist doch total verrückt. Bei einigen laufen Dinge einfach verkehrt."
Noch immer stumm betrachtete ich sie mit einem wehleidigen Herzen. In nur wenigen Tagen wurde sie die wichtigste Person in meinem, mir so fremden, leben.
Die Tatsache, dass nicht einmal meine Familie mehr Geborgenheit hervorrufen konnten als sie, überwältigte mich mit voller Wucht. Wie ein klitze kleiner Kieselstein welches den Abhang hinunterrollt, immer größere Steine bis Felsen mit sich hinunter reißt brach in mir alles zusammen. Ich brach mit ihr zusammen und sie zog mich mit in den Abhang. Ich fiel mit ihr und wollte auch nur mit ihr auf dem Boden der Schlucht der Ungewissheit landen. Auf dem Wackligen Boden welches jeden Augenblick einstürzen könnte. Doch egal welcher Abgrund sich unter uns befinden sollte, ich wollte jedes dieser Abgründe mit ihr hinabfallen, erkunden und das ungewisse bestreiten.
„Wieso hast du mir das nicht gesagt? Ich meine dass er dich durch seine Schläge hier her befördert hat. Wozu die Geschichte mit den Autounfall?"
Sie schluckte hart bevor sie mir antwortete.
„Ich habe mich geschämt."
„Es ist in Ordnung. Vor mir brauch dir nichts unangenehm zu sein. Deine Geheimnisse sind auch meine Geheimnisse. Vergiss das nicht. Du brauchst dich wegen nichts vor mir zu schämen. Ich verurteile dich für nichts und stehe hinter dir, egal was kommt!", nahm ich ihr ihre Unsicherheit.
„Du kannst sicher sein, dass ich dich niemals im Stich lasse oder mich von dir abwenden werde. Das verspreche ich dir mit allem was ich habe!", versuchte ich ihr ein wenig Hoffnung zu geben. Über diese Themen zu sprechen viel ihr wahrscheinlich bis heute sehr schwer. Ich hatte das Gefühl, als hätte sie zum ersten Mal über die Lasten auf ihrem Herzen gesprochen, mit jemandem geteilt, um etwas von dem Schmerz freizusetzen und los zu werden.
„Um ehrlich zu sein bin ich meinem Stiefvater wegen der Prügel Attacke auf gewisser weise dankbar. Wenn er mich nicht so zugerichtet hätte wäre ich niemals hier gelandet und hätte dich kennengelernt. Scheint als hätte er zum ersten Mal etwas, in seinem Leben richtig gemacht.", gab sich gähnend von sich. Sie war müde. Müde von all den Dingen, die sie erlebt hatte. Ich wollte ihr helfen. Ihre Stütze sein. Ich wollte, dass die wusste, dass es wieder aufwärts geht. Ich wollte sie aus dem tiefen Loch hinaus ziehen und ihr ein warmes Plätzchen in meinem Herzen schenken, worin ich ihr Geborgenheit bieten konnte.
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