Kapitel 12

„Katie! Hör mal. Der Boden.", zog Heather meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Was soll damit sein?", wollte ich wissen und sah verwirrt auf den Fleck, auf dem sie stand und mit dem Fuß mehrmals auf dem Boden stampfte, der mit einem alten schmutzigen Teppich bedeckt war und gab somit dumpfe Geräusche durch das aufstampfen.

„Es hört sich hohl an. Und hör mal hier." sie machte einen langen Schritt zur Seite und fing erneut an auf den Boden aufzutreten. Alles war so verwirrend und jede Kleinigkeit wirkte mehr wie ein Bestandteil eines Rätsels, welches ich zu lösen versuchte, um am Ende dieses langen Weges zu mir selbst finden zu können.

Ohne länger zu zögern ging sie vom Teppich runter und schlug es einmal komplett zur Seite, wodurch eine Menge Staub erneut aufgewirbelt wurde, bevor sie sich der hohlen Stelle erneut näherte, sich hinkniete und anfing auf dem verschmutzten Boden herum zu klopfen und dumpfe Geräusche bezeugten, dass sich tatsächlich eine hohle Stelle unter den alten knatschenden Holzbalken befand. Meine Aufregung stieg ins unermessliche, da ich mir nichts darunter vorstellen konnte. Mein Gedächtnis ließ mich erneut wie viele andere Male im Stich. Ließ nicht einmal die winzigste Erinnerung zu.
Heather inspizierte den Boden weiter, um ihr weiteres Vorgehen zu planen, während ich innerlich versuchte einen Kampf gegen meinen Kopf zu bestreiten, den ich bestrebte zu gewinnen.

„Siehst du das? Die Lücke, zwischen den Holzdielen hier ist viel größer. Hol mir mal einen Schraubenzieher. Ich glaube auf dem Tisch lag eins."

Aufgeregt nickte ich bevor ich mich hastig zum Tisch begab, griff nach dem Schraubenzieher und übergab sie Heather. Sie hob die Diele mit Hilfe des Schraubenziehers an und schob sie zur Seite. Hob anliegende Holzdielen ebenfalls an, um sie neben dem Loch ungeachtet aufeinander zu stapeln. Sie durchsuchte das dunkle mit ihren Blicken stumm vor sich hin, während ich vor Aufgeregtheit kaum regelmäßig atmen konnte, während meine Hände vor Anspannung anfingen zu schwitzen und ich sie immer wieder an meiner Hose abstreichen musste, während meine Gedanken vor Aufgeregtheit völlig durcheinander gerieten, nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu erfassen und alles in meinem Kopf schien in einem wilden Feuer verfangen zu sein. Bilder schossen durcheinander vor meinem inneren Augen hin und her, mir nicht die Möglichkeit gebend, sie zu ordnen, zu identifizieren oder zu inspizieren. Meine einzigen Erinnerungen von diesem Ort, die ich bereits in vollen Zügen in meinem Kopf erleben durfte, kamen hoch und ließen mich vom hier und jetzt abschweifen. Ich verlor mich quasi in den Rückblicken meiner Erinnerung. Genoss die Gefühle, die erneut aufkamen. Genauso intensiv und real anfühlend wie beim ersten, zweiten und auch beim zehnten Mal als ich es immer und immer wieder in meinem innersten Revue passieren ließ. Doch sprach die Vernunft aus mir und erinnerte mich erbarmungslos daran, dass ich konzentriert bleiben musste, dass die Realität ebenso wichtig und einflussreich war, wie die einzige Erinnerung mit der ich so vertraut war, obwohl die Situation mir trotz allem so fremd daherkam, da es bloß ein Puzzleteil eines gesamten Werkes zu sein schien.

„Ist etwas darunter?", wollte ich wissen und fokussierte mich auf die gegebenen Umstände, woraufhin sie mit der Taschenlampe ihres Handys hinein leuchtete.
„Da! Es ist ein kleiner Kasten da unten."
Hektisch griff sie danach und schob die Diele zurück an seinen Platz.

„Du solltest ihn öffnen.", sagte sie und schob mir den Kasten entgegen. Mein Herz fing an zu rasen, vor Aufregung. Egal was sich darin verbarg, es löste so viel in mir aus. Ich war aufgewühlt. Als würde mein Herz sich auf das Ungewisse freuen. Als würde es bereits etwas ahnen. Als würde es bereits wissen, dass der Inhalt Freude in mir auslösen würde, aber ebensoviele bedrückende Aspekte in sich verbarg. Es lag total verstaubt vor meinen Knien. In mir kam das Bedürfnis auf, die dünne Staubschicht wegzustreichen, was ich jedoch unterließ und mit den Händen um den Kasten griff, um es aufzuheben. Mit ihm in den Händen ging ich die wenigen Schritte auf das Sofa zu und ließ mich auf ihr nieder, platzierte es auf meinem Schoß. Spürte die Energie, die von ihm auf mich überging. Ließ diese Energie einige Male durch meinen Körper strömen. Ließ sie mich stärken.
Ich konnte mir selber nicht erklären, was es in mir auslöste, dass ich kurz davor stand, etwas über mein eigentliches Leben zu erfahren. Doch gleichzeitig suchte mich die Sorge heim, dass der Inhalt ebenso auch eine Enttäuschung bereit legen könnte.

Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, in welches Chaos dieser klitzekleine Augenblick mein Innerstes versetzte, öffnete ich den Deckel.

Briefe, vertrocknete Blumen, kleine Erinnerungsstücke wie Kinotickets oder ähnliches lagen durcheinander in der Schatulle.
Ich holte die Blumen vorsichtig heraus, da ich es nicht übers Herz brachte, sie grob zu behandeln. Als würde ich mir selber dadurch etwas antun können. Ich legte sie behutsam vor mich auf das Sofa. Ließ den Blick erneut über den Inhalt gleiten. Wusste nicht womit ich anfangen sollte. Als hätte man versucht, mich mit einer Masse an Informationen zu erschlagen.

„Fang mit den Fotos an. Ich will wissen wie er aussieht!", hörte ich Heather mich völlig erregt bitten. Sie saß inzwischen vor mir und sah zwischen mir und dem Inhalt des Kastens hin und her.

Ich atmete ein letztes Mal tief durch, bevor ich nach den Fotos griff, die umgekehrt lagen und drehte sie langsam um. Wollte mir die Zeit geben mich behutsam an den Anblick zu gewöhnen, wollte versuchen mich so schonend wie möglich mit dem Anblick zu konfrontieren.
Irritiert sah ich zu Heather. Der Anblick der Fotos, die teils zerkratzt und zerknittert waren, verwirrten mich. Es löste etwas in mir aus, das ich nicht definieren konnte. Als würde ich eine unerklärliche Wut in mir aufkommen spüren, die in mir den Instinkt hervorbrachte, nachvollziehen zu können, weshalb sie so aussahen, wieso sie sich in solch einem Zustand befanden.

„Was zur Hölle?", gab sie verwundert von sich. Doch ich war ebenso verwundert wie sie. Ich konnte mir keine logische Erklärung für den Zustand der Fotos liefern. Grobe Kratzspuren waren über jedes einzelne von ihnen verteilt. Ob ich das wohl gewesen war? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich zu so etwas in der Lage war. Vielleicht fehlten mir auch einfach nötige Erklärungen um nachvollziehen zu können. Umso mehr ärgerte es mich, dass ich niemanden hatte, den ich fragen konnte. Ich konnte niemandem vertrauen. Mutters verhalten war mir so suspekt. Ich konnte nicht abschätzen, ob ich mich vollends bei ihr fallen lassen konnte oder lieber eine unsichtbare Mauer zwischen uns errichten sollte. Wäre sie in der Lage gewesen, Heather und mich ins offene Feuer laufen zu lassen? Würde sie mich ihnen ausliefern? Ich wusste es nicht, daher hätte ich sie nicht einmal ausgefragt, wenn sie eine fremde auf der Straße in einem fremden Land gewesen wäre.

Auf jedem dieser Bilder war ich abgebildet. Ich sah glücklich aus. Auf jedem einzelnen zierte ein ehrliches Lächeln mein Gesicht. Jedoch war auf jedem Foto das Gesicht des Jungen neben mir bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt. Genauso unkenntlich wie in meiner Erinnerung. Zumindest wenn ich es in meinen Gedanken erneut abspielen ließ. Es fiel mir unendlich schwer, mich an sein Gesicht zu erinnern. Wie ein grober Schleier, der sich um seine Haut geschmiegt hatte. Ich konnte jedoch das Gefühl seiner Hände auf meinem Körper so deutlich wie nur möglich aufrufen und es so intensiv nachempfinden, dass es mich hätte umhauen können.

„Was ist hier bloß los?", murmelte ich verwirrt vor mich hin.

Ein wenig enttäuscht legte ich die Fotos ebenfalls zur Seite zu den vertrockneten Blumen. Ich wühlte weiter zwischen den viele Kleinigkeiten, bis mir das Handy in die Hände fiel, von dem in meiner Vision die Rede hätte sein können. Er hatte es erwähnt und es war definitiv kein Zufall dass ich ausgerechnet an diesem Ort in diesem Kasten, welches unter den Dielen dieser Hütte versteckt wurde, sich dieses alte Handy befand. Ein altes Tasten Telefon, dass deutlich als Ersatz dienen sollte, um Kontaktverbote umgehen zu können und ein großes Geheimnis aufrechtzuerhalten. Geheimnisvoll genug um selbst mir den Einblick zu verwehren, was mich umso verwirrter stimmte.

Da das Akku jedoch leer zu sein schien, packten ich alles behutsam zurück in die Schatulle, während Heather sich an die Arbeit machte, die Holzdielen zurück an ihren Platz zu setzen und den Teppich über den Holzboden sorgfältig auszulegen. Als wäre niemand zuvor auf die Idee gekommen, den selben Aufwand zu betreiben, um irgendwelchen Geheimnissen auf die Schliche zu kommen.
Blöderweise befand sich in der Hütte nichts ebenfalls brauchbares. Aber auch kein Ladegerät, um es aufzuladen, was uns erneut Steine in den Weg legte, zügig voranzukommen. Zumal wussten wir nicht wie viel Zeit uns blieb und wir konnten es bei bestem Willen nicht einschätzen. Woher hätten wir es wissen sollen? Alle diese Geschehnisse und verwirrenden Dinge, waren uns absolut neu. Mir ebenso wie ihr. Für mich war mein Leben Neuland, wie für Heather auch. Ich wusste nicht mehr als sie.

Schleunig verließen wir die Hütte und begaben uns zurück in mein Zimmer, ohne meiner Mutter oder Olga über den Weg zu laufen.
Ich schob den Kasten unter mein Bett und setze mich anschließend auf die Matratze, bevor ich mich auf ihr niederließ. Tief seufzend kräuselte ich nachdenklich die Stirn. Grübelte und kramte in den Tiefen meines Gedächtnisses, um die, aus unserer Aktion, gewonnenen Puzzleteile in logischer Reihenfolge zusammenzusetzen. Aber noch wichtiger war es, das Resultat aus alle dem zu verstehen und ein gewissen zwischen Fazit ziehen zu können. Das konnte ich jedoch nicht tun. Alles war ausnahmslos das reinste Chaos und stürzte gnadenlos auf bestialische Weise über mich ein. Kopfschmerzen plagten mich erneut und raubten mir die Kraft und den Willen weiter über alles nachzudenken. Ich wollte es für einige Minuten zur Seite schieben und einfach vergessen. Ich wollte mehr vergessen, als ich es ohnehin schon getan hatte. Wie sollte ich alles bewältigen? Wie hätte ich es vor dem Unfall hinbekommen? Hatte ich es überhaupt auch nur ansatzweise im Griff gehabt? Meine Zweifel waren unüberwindbar. Mein Herz schmerzlich überbelastet. Meine Seele unwiderruflich verloren.

„Das wird schon alles wieder gut. Glaub mir. Wir werden einen Weg finden, das alles durchzustehen. Versprochen. Schlaf ruhig ein wenig. Das war alles sicher etwas zu viel für dich. Ich wecke dich zum Abendessen und dann schauen wir zu, dass wir dieses Safe knacken."

„Heather?"

„Ja?"

„Wir sollten von hier verschwinden.", sprach die Verzweiflung aus mir. Hatte die Oberhand gewonnen. Ich richtete mich auf und raufte mir die Haare. Wollte Anstalten machen, mich aufzustellen, fiel jedoch zurück auf die Matratze, da meine Knie zitternd nachgaben.

„Was erzählst du denn da? Hör mir zu Katie", fing Heather an und setzte sich neben mich, bevor sie sich meine Hand krallte, um sie fest zu drücken. „Ich weiß, dass alles unglaublich viel für dich ist im Augenblick. Aber wir müssen zunächst so viele Informationen wie nur möglich sammeln bevor wir verschwinden können. Ich weiß absolut nicht wohin, aber auch ohne die Tatsache werden wir abhauen. Weit weg und wenn du dann noch sagst, du willst alles hinter dir lassen und alles vergessen, dann tun wir das. Wir werden irgendwohin gehen, wo uns keiner kennt und es wird nie wieder ein Wort über all das fallen. Glaub mir du wirst es bereuen, wenn du die Chance nicht nutzt.", sagte sie, mir tief in die Augen schauend.

„Beruhige dich erstmal. Versprich mir, dass du das tust. Für mich?"

Stille.

Ich konnte keine Silbe über meine Lippen bringen. Die Gedanken schossen wild in meinem Kopf umher und jeder Gedanke jagte dem anderen hinterher, bis ein Schuss erfolgte und alles in meinem Kopf von einer Sekunde auf die nächste lahm gelegt wurde.

„Na gut. Vielleicht hast du recht. Ich reagiere vermutlich über. Weck mich bitte zum Abendessen und dann planen wir unser Vorgehen."

Damit schüttelte ich ihre Hand ab, legte mich hin und schloss die Augen, bevor ich in einen unruhigen Schlaf verfiel.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top