Kapitel 11
Ich blieb augenblicklich stehen. Doch ich traute mich nicht mich umzudrehen. Vergaß zu atmen. Alles in mir erinnerte an einen einzigen Kampf. Ich wollte sie weder sehen, noch wollte ich mit ihr reden. Ich wollte nur weg. Raus aus diesem großen Raum, der mich einengte wie eine kleine Zelle. Meine Füße wollten mich aus diesem Zimmer hinaus tragen. Ich wollte mir Heather schnappen und raus aus diesem Haus, aus dieser Stadt. Alles einfach hinter mir lassen und vergessen, was ich erlebt hatte. Die Schmerzen, die Enttäuschungen, alles was mich auf die Knie zwingen könnte, da alles unerträglich auf meinen Schultern lastete.
Es wäre jedoch dumm gewesen mich nun auffällig zu verhalten. Wenn sie wirklich etwas wusste und in irgendwelchen dieser Geschehnisse verwickelt war, durfte sie nichts ahnen.
„Was machst du hier?", wollte sie wissen. Ich wusste nicht ob ich es mir einbildete, doch ihre Stimme klang viel kälter als zuvor.
Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Also atmete ich einmal tief durch und drehte mich zu ihr
„Nichts. Ich habe nach dir gesucht. Ich wollte sehen ob es dir gut geht."
Ich war selber überrascht, wie überzeugend ich es rüber gebracht hatte, doch wollte ich diese Frau vor mir nicht unterschätzen. Ihre Gestalt, die im dunklen so mächtig erschien, schüchterte mich zwar ein, doch ich straffte die Schultern und machte, trotz dem Proteste in meinem Herzen, einen Schritt auf sie zu.
„Ist alles in Ordnung? Du sahst so traurig aus als wir von Vater gesprochen haben."
Um meiner Glaubwürdigkeit einen drauf zu setzten zwängte ich einige Tränen hoch. Sie sollte glauben, dass ich mir ernsthaft sorgen um sie machte, obwohl meine einzig wahren sorgen Heather und mir galten.
„Anna, mein liebes Kind.", gab sie von sich. Ihr Blick nahm einen wärmeren Eindruck. Als wäre sie erleichtert, dass ich nichts mitbekommen hatte und streckte ihre Arme nach mir aus. „Komm her."
Ich zuckte leicht zusammen als ihre Hand meinen Arm berührte, um mich an sie zu ziehen. Sie schloss mich in eine Umarmung, bei der es mich sehr viel Überwindung kostete, sie zu erwidern.
„Jetzt geht es mir besser. Danke."
Sie wirkte plötzlich wieder so ganz anders, als zuvor. Es verwirrte mich wie ihre Art sich ständig abwechselte. Mal war sie kalt und streng, dann war sie wiederum so warmherzig und nett, worauf folgend sie erneut angsteinflößend auf mich wirkte. Ich wollte bloß, dass sie mich los ließ und sich mir nicht mehr einen Schritt näherte.
„Na gut. Das beruhigt mich. Dann kann ich mich ja wieder in Ruhe im Büro austoben.", gab ich lächelnd von mir als ich mich von ihrer Umklammerung löste. Sie sah mich durchdringend in die Augen.
„Schatz ist denn bei dir alles in Ordnung? Es muss alles so schwer sein für dich. Du hast die letzte Zeit einfach unglaublich viel durch gemacht. Du weißt hoffentlich, dass du mit mir über alles reden kannst."
Ich schluckte die Unbehaglichkeit herunter und zwang ein erneutes Lächeln auf meine Lippen. Wenn ich eins wusste, dann, dass ich mein Herz niemals bei ihr ausschütten wollen würde. Ich konnte nicht wissen, wohin die Informationen gelangten. Ich ahnte lediglich, dass sie bei ihr nicht sicher waren. Alles was ich letzten Abend gefühlt hatte, war wie weggeblasen und Skepsis füllte meine Seele.
„Ja. Es ist nicht einfach. Aber ich habe dich. Ich weiß dass du hinter mir stehst und mir mit allem hilfst.", erwiderte ich und konnte nicht verhindern dass letzteres eher wie eine Frage klang als eine Überzeugung. Ich betete, dass sie meine Zweifel, die ich ihr gegenüber hatte, nicht herausgehört hatte. Die Ungewissheit, wozu sie in der Lage wäre, bereitete mir Angst, was mich dazu brachte, meinen Blick schweigend durch den Raum wandern zu lassen. Ich wollte überall hinsehen, bloß nicht in ihr Gesicht.
„Natürlich tue ich das. Ich würde alles tun, damit du in Sicherheit bist. Mach dir keine Sorgen Liebling. Ich werde mich ein wenig hinlegen. Geh du doch wieder ins Büro und schau dich weiter um."
Sie hatte mir alles abgekauft, weswegen ich mir innerlich lobend auf die Schultern klopfte.
„Alles klar. Wir sehen uns nachher.", damit drehte ich mich um und ging langsam Richtung Tür wobei mir ein kleiner Safe ins Auge fiel, der sich unter einem Schminktisch befand. Befanden sich darin relevante Informationen, die uns weiterhelfen konnten? Ich musste es wissen aber davor musste ich herausfinden, wie ich das Ding öffnen könnte.
Ein letztes Mal drehte ich mich in ihre Richtung, während sie bereits dabei war die Decke auf dem Bett zur Seite zu schlagen. Ich hatte das Gefühl so viele Daten wie möglich sammeln zu müssen, um das Rätsel um diesen safe lösen zu können.
„Wann habt ihr eigentlich geheiratet?"
Verwirrt sah sie zu mir auf und legte den Kopf schief als sie sagte: „Wie kommst du denn darauf?"
„Ich weiß nicht. Ich möchte einfach nur irgendetwas normales wissen. Wann ist euer Hochzeitstag gewesen?"
„20.10.1990. Es war der zweit schönste Tag in meinem Leben.", erwiderte sie schmunzelnd und setzte einen verträumten Blick auf.
„Welcher war der schönste?", wollte ich wissen.
„Der Tag, als du geboren wurdest. Du warst so klein, rein und unschuldig. Wir konnten unsere Augen kaum von dir reißen. Du warst ein solch wunderschönes Kind. Das werde ich niemals vergessen. Du hast dich mit jedem Tag mehr und mehr in meine Seele gebrannt."
Wieso sagte sie so etwas? Ich war dabei, mich von ihr zu distanzieren. Diese lieben Worte passten nicht zu ihr. Es war als würde jemand anderes aus ihr sprechen. Ich beließ es bei ihren Worten. Schenkte ihr ein Lächeln, bevor ich ihr Zimmer verließ.
Ratlos und total durcheinander stand ich im Flur. Völlig verloren, nicht wissend wo mein nächster halt im Leben sein würde. Bis wohin würde ich kommen, bis mich alles erneut einholen würde?
Heather saß im Büro auf dem Boden, inmitten einem Haufen von Akten, die durcheinander herumlagen.
„Ich finde nichts brauchbares, zumindest bis jetzt. Das sind alles Verträge und irgendwelche Briefe, die an Klienten oder sonst wen gerichtet sind. Berichte über irgendwelche Fälle.", gab sie niedergeschlagen von sich, mit einem entschuldigenden Ausdruck in ihrem Gesicht und ließ die Schultern hängen.
„Ich glaube nicht, dass wir hier irgendetwas finden, dass uns weiterhilft.", erwiderte ich völlig resigniert. „Ich habe vorhin Mutter beim telefonieren belauscht. Es war nicht beabsichtigt. Aber sie sagte irgendetwas von Informationen, die uns niemals in die Hände gelangen werden, da sie diese sicher versteckt hätte. Ich weiß nicht wo diese sich befinden aber ich ahne es bereits. In ihrem Zimmer ist ein safe Heather. Ich muss an den Inhalt. Ich weiß nur nicht wie.", brachte ich sie auf den neusten stand.
„Du meinst sie verheimlicht uns etwas?"
Sie sah mich völlig irritiert an und schien zu überlegen.
„Ich meine es nicht. Ich glaube es ziemlich sicher zu wissen. Es ist doch kein Zufall, dass sie jemandem von unserem Vorhaben erzählt, sobald wir uns ins Büro zurück ziehen. Ich konnte erfahren, wann sie mit Vater geheiratet hatten. Und meinen Geburtstag wissen wir ebenfalls. Ich muss es versuchen. Vielleicht sind eines dieser Daten der Schlüssel."
Sie sagte nichts. Schien die neuen Erkenntnisse zu verdauen. Vielleicht versuchte sie die Erkenntnis zu verdauen, dass sie gerade erst angefangen hatte, Mutter ebenfalls wie ich zu vertrauen. Jedoch war uns dennoch klar, dass wir uns einen Plan ausdenken mussten, wie wir unentdeckt versuchen konnten, den Safe zu knacken. Fakt war, dass wir nur noch uns gegenseitig vertrauen konnten.
„Du musst sie ablenken Heather. Hier können wir zunächst nichts weiter tun. Ins Zimmer kommen wir auch nicht. Sie hat sich gerade hingelegt. Wir müssen abwarten. Vielleicht sollten wir uns in der alten Hütte im Garten ein wenig umsehen. Es ist besser als komplett tatenlos hier zu sitzen und Zeit zu verlieren. Wir müssen so viele Informationen wie möglich sammeln, bevor wir hier verschwinden müssen. Wir wissen nicht was auf uns in nächster Zeit zukommen wird. Vor allem wissen wir nicht wie lange wir hier überhaupt noch bleiben können, geschweige denn in Sicherheit sind."
Sie sagte noch immer nichts, stand jedoch auf und kam auf mich zu.
„Dann ab in die Hütte.", sagte sie bloß. „Und wenn wir irgendwas in diesem Safe finden sollten, dass den Stick betrifft, dann schwöre ich, ich werde dieser Frau die Absätze ihrer ganzen heiligen Designer Schuhen abbrechen.", fügte sie noch murmelnd hinzu, als sie an mir vorbei zur Tür ging.
In der Hütte angekommen, sahen wir uns zunächst ein klein wenig überfordert um. Verschafften uns einen kleinen Überblick über den Chaos, der in ihr herrschte. Ich versuchte mich an den Traum zu erinnern. Es sah anders aus. Ordentlicher. Sauberer. Lebendiger.
Der verstaubte Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz. Ein undefinierbarer Schmerz. Ich konnte fühlen, dass dieser Ort etwas besonderes für mich war. Voller Erinnerungen, die mir in diesem Augenblick völlig fremd waren. Die Spinnennetze, die Laken über dem Sofa, der in der Mitte des Raumes stand, die Gartengeräte, die überall verstreut lagen, einige alte Schränke. Alles war so leblos. Als hätte hier eine Ewigkeit keine Erinnerung mehr geschaffen worden.
Ich ging auf den kleinen Tisch zu, der in der Nähe der Tür stand und ließ meinen Blick über sie streifen. Es waren nicht viele Dinge, die auf dem Tisch standen. Nur einige kleine Schachteln gefüllt mit Schrauben oder andere Werkzeuge. Mein Finger langte automatisch auf die verstaubte Tischplatte und strich einmal langsam über die Mitte der Fläche, um einen einsamen Strich auf ihr zu hinterlassen.
„Kannst du dich an irgendetwas erinnern?", fragte Heather leise.
Ich sah mir noch ein letztes Mal den Tisch an, bevor ich ihr antworten konnte.
„Nein.", war alles, was ich über die Lippen bringen konnte. Dabei brannten mir so viele Worte auf der Seele. Wie ich sie jedoch über die Lippen bringen sollte, wusste ich nicht. Mir fehlte die Gabe, sinnvolle Sätze zu formulieren, um mich verständlich zu artikulieren. Alles in meinem Kopf war ein riesiges kryptisches durcheinander.
Meine Beine führten mich zum Sofa, auf dem ich mit diesem Jungen herumgeknutscht hatte. Ich riss das Laken von ihr runter. Ließ es nicht los. Hielt es leblos neben meinem Körper hängen. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Es erweckte eine Art der Geborgenheit in mir, dass meine Glieder mit leben und Wärme erfüllte, mir die fehlende Motivation schenkte.
„Wenn ich mir dein Gesicht so ansehe, würde ich mal schlussfolgern, dass ihr auf diesem Sofa so hemmungslos herum gemacht hattet. Du warst wohl echt nicht die heiligste kleine.", sagte sie kichernd.
Verlegen warf ich das staubige Laken in ihre Richtung und wirbelte noch mehr Staub auf, welche in der Luft, in dem Lichtkegel, der aus dem kleinen Fenster hineinschien und das Innenleben der Hütte in ein warmes Licht eintauchte, in der Luft langsam tanzend vor sich hin streiften.
„Hey, nicht so schüchtern.", ärgerte sie mich kichernd weiter und wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, um die unzähligen Staubkörner vor ihrem Gesicht fortzuscheuchen. „Es ist doch schön, mehr über dein altes Leben zu erfahren. Da ist nichts verwerfliches daran, sich hin und wieder den ein oder anderen Spaß zu erlauben. Ich hätte gerne das Gesicht deiner Mutter gesehen, als sie euch hier erwischt hatte. War bestimmt zum schreien.", lachte sie völlig gelöst von den irren Begebenheiten der letzten Tage. Sie konnte einfach sie selber sein und die Sorgen von sich schieben. Auch wenn es nur für kurze Augenblicke der Fall war, ich konnte mich nicht komplett lösen und loslassen. Trotzdem kicherte auch ich leise vor mich hin während ich den Kopf über ihre Art schüttelte. Es war amüsant sie so zu sehen und das Gefühl der Wärme in mir zuzulassen fiel mir durch ihre Anwesenheit und ihre Art viel leichter.
„Danke.", sagte ich leise in ihre Richtung. „Wofür? Ich habe nicht viel getan."
„Dafür, dass du hier bist, in diesem Augenblick bei mir bist und mir bei alledem beistehst.", gab ich zurück und ließ den Blick erneut durch die Hütte wandern. Es fühlte sich merkwürdig an, hier zu stehen, in einem Raum, wo anscheinend viel geschehen war, wo jedoch nichts mehr daran erinnern ließ. Als wäre es noch nie wirklich genutzt worden. Auf eine Art fühlte es sich normal an. Doch nichts war normal. Keine Erinnerung konnte mich davon überzeugen, dass irgendetwas normal war. Ich fühlte mich meilenweit von jeglicher Normalität entfernt. Die Begegnung mit Heather, die unterschiedlichen Gesichter meiner Mutter und ihre Geheimnisse mir gegenüber, das Haus, mein Zimmer, Geschichten über meinen Vater und nicht zu vergessen, die Frau aus dem Krankenhaus, die nicht kaltblütiger sein könnte. Alles war so grotesk. Hätte man mir vor all den Geschehnissen von allem erzählt, hätte ich mich selber freiwillig zurück in den komatösen Zustand befördert, nur um vor dem ganzen Unsinn flüchten zu können.
„Dann wollen wir mal los legen oder wollen wir hier länger tatenlos herumstehen?", holte mich Heather aus meinen Gedanken.
„Du hast recht. Legen wir los."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top