Kapitel 7

Ich ging, wie jeden Morgen, durch die Alee.
Doch etwas war anders.
Ich trug ein zaghaftes Lächeln im Gesicht.
Es war klein und unscheinbar, füe Andere fast nicht zu erkennen, aber es bedeutete mir so viel.
Die Blatter wehten zwischen den Bäumen, Bänken und Wohnheimen  hindurch, vom rauschenden Wind getragen.
Der Sturm von gestern war wie weggeblasen.
Die Sonne war zwar nicht am Himmel erkennbar, war von vereinzelten Wolken verdeckt, aber der Himmel besaß eine cremeblaue, ruhige Farbe.

Der kalte Wind wehte mir meine braunen Haare ins Gesicht, ich strich sie mit einer Hand weg und folgte dem Kiesweg.
Dabei knirschten meine Schuhe laut auf Kies, ein unangenehmes Geräusch.

Auf einer der Bänke entdeckte ich Luis.
Er hatte  sich ausgestreckt, seine Körperhaltung drückte Entspannung aus, aber seine Miene wirkte wie immer undurchschaubar.
Ich  beobachtete ihn heimlich, seinen muskulösen Körper, die breiten Schultern, die Klamotten ganz in schwarz.
Dann  erblickte er mich, starrte mich direkt an.
Seine Augen leuchteten in diesem unbeschreiblich schönen, frostigen blaue des Winters, doch sein Gesicht verzog sich augenblicklich zu einer Grimasse.

Hatte ich etwas falsch gemacht oder war er einfach nur schlecht gelaunt? Das bewies, wie schlecht ich kannte und wie schlecht ich ihn einschätzen konnte.
Eigentlich überhaupt nicht.
Trotzdem ging ich auf ihn zu, bedacht darauf jetzt bloß nicht zu stolpern.
Ich kam an der Bank an und versuchte möglichst unbeeindruckt und gelangweilzt zu wirken, was mir gehörig misslang.

Immerhin blieb mein Lächeln stur auf meinem Gesicht, denn heute morgen im Spiegel hatte ich es trainiert und nun schien es ziemlich echt zu wirken.
Nachdem ich mich dazu überwunden hatte, etwas zu sagen, fragte ich: 'Und? Wann wollen wir trainieren?'

Eine Erinnerung schien durch Luis Gesicht zu gleiten oder ich hatte mir das nur eingebildet, sicher war ich mir nicht. Er blitze mich verärgert an, als ihm bewusst wurde, dass ich ihn beobachtete.
'Wir machen erstmal kein Training. Nicht jetzt.'
'Du hast aber zugesagt.', stellte ich stur fest.
'Na und, ich habe gesagt, wir trainieren jetzt nicht.'
Kälte durchfloss seine Stimme als wäre er aus Eis.
Ich wollte aber noch nicht aufgeben.
Ich brauchte dieses Training, brauchte ihn.
Also verschränkte ich die Arme vor meiner Brust, reckte mein Kinn und blickte möglichst selbstbewusst auf ihn herunter.
'Wann dann?'
Er schnaubte laut.
'Vielleicht auch gar nicht.
Ich habe keine Lust.'
Damit stand er auf, drehte sich ohne ein weiteres Wort von mir weg und verschwand.
Blödmann.
Was dachte er sich eigentlich, wie er mit mir umgehen konnte?
Der konnte mich mal.
Meinen Tag würde er mir auf jeden Fall nicht vermiesen.
Dieser Tag würde schön werden.
Das hatte ich mir fest vorgenommen und Luis würde mir ganz bestimmt keinen Strich durch die Rechnung machen.
Das konnte Niemand.
Entschlossen ging ich weiter die Alee entlang und betrat das Schulbäude.
Wenn er dachte, dass er mich jetzt abgewimmelt hatte, hatte er sich heftig getäuscht.
Meine erste Stunde war Mathe. Komischerweise freute ich mich darauf mich mit kniffeligen Aufgaben abzulenken.
Ich war wohl verrückt geworden.

***

Der Schultag war anstrengend, doch ich meisterte ihn gekonnt.
In den Unterrichtsstunden hörte ich interessiert zu, meldete mich wissbegierig und sogar in Sport lernte ich eine Menge dazu.
Luis brauchte ich gar nicht, um zu kämpfen.
Kalvin, unser Sportlehrer zeigte mir viele Grundtechniken und ich folgte aufmerksam seinen Anweisungen. Auf meiner alten Schule hätte man mich vielleicht eine Streberin genannt, aber hier war jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Niemand beachtete mich, aber ich wusste, dass ich sehr wohl in der Lage war auf diese Schule zu gehen. Viele andere Schüler konnten sich eine Scheibe von mir abschneiden.

Selbst Sally konnte mich in meinem Eifer nicht ärgern.
Sie beleidigte mich abschätzig, aber ich warf ihr nur ein Lächeln zu und flötete:
'Wie nett von dir, Sally.'
Das hatte sie nicht erwartet, denn die blonde Schönheit grummelte nur in sich hinein.
Manch einer aus meiner Klasse lächelte mir sogar zurück und das hatte ich alles nur Marc zu verdanken.
Ich war ihm so unendlich dankbar, dass er immer da war, wenn ich ihn brauchte.
Nur mit ein paar Worten hatte er mich motiviert und mir somit geholfen mich hier besser zurecht zu finden.
Es ging um die Einstellung, die man an den Tag legte und das war mir jetzt klar.

Mit Jen zusammen saß ich in der Mensa und aß mein Mittagessen, wobei Mensa wohl ein nicht so passendes Wort für diesen Raum war. Er war riesig und viele Tische mit zu Schwänen gefalteten, königsblauen Servietten, Tellern mit Goldrändern und feinstem Besteck standen geordnet auf dem Parkett.
Durch  das viele Licht, das durch die großen Fenster schien, wirkte alles freundlich und einladend.
Es gab zwar nur ein eher kleines Buffet, aber die meisten Schüler trafen sich hier sowieso zum sehen und gesehen werden, wie Jen mir erklärt hatte.

Ich löffelte gierig meine Tomatencremesuppe.
Als ich aufsah, bemerkte ich Jen's fragende Blicke.
'Was ist?'
Ob ich etwa mit der Suppe gekleckert hatte?
Ich schaute peinlich berührt auf mein hellblaues Sweatshirt, aber nirgendwo war ein roter Tomatenfleck zu sehen.
Glück gehabt.

'Du bist so anders heute.
So fröhlich und ausgeglichen.
Bist du ein Klon? Ein Alien?'
Sie sah mich blinzelnd an.
Ich musste lachen.
'Nein, ich bin heute einfach nur gut gelaunt.'
Meine Freundin trank aus ihrem Tee. Sie trank Unmengen an Tee, wie ich bemerkt hatte.
'Aber so schnell?'
'Ich dachte du kannst Gedanken lesen?', forderte ich sie heraus.
'Ja, aber doch keine Gefühle.', rüstete sie sich,'Du machst mir ein winziges bisschen Angst, Süße.'

Ich seufzte leise.
Vorher war ich zu traurig und jetzt zu glücklich.
Konnte man es den keinem hier Recht machen?
'Was ist dir den lieber? Fröhlich oder traurig...' , fragte ich einfach aus neugier und trank einen Schluck Wasser.
Jen musterte mich immer noch, doch dann zuckte sie mit den Schultern. 'Natürlich gut gelaunt.'
'Na dann!'
Sie fixierte mich mit ihren grünen Augen.
'Ich weiß einfach nicht, was du gerade denkst. Manchmal bist du undurchschaubar, da hilft selbst das Gedankenlesen nicht.'
Ich überlegte kurz, ob das mit meiner Kraft zu tun haben könnte, aber ich war nicht mal fähig Illusionen zu erschaffen.

'Tja, das macht es umso spannender.' Jen kratze sich nachdenklich am Kopf, stand auf, zog mich hoch und hackte sich bei mir ein.
'Lass uns gehen.'
Gemeinsam verließen wir den Speisesaal. Jetzt musste ich mich nurnoch meiner Tante stellen.
Das würde das schwierigste an an diesem Tag werden, mein erfolgloser, enttäuschender Kraftunterricht.

***

'Vielleicht müssen wir anders beginnen.'
Meine Tante starrte aus dem Fenster. Ihr Haar war, wieder einmal, zu einem Dutt zusammengesteckt, wobei ein paar Strähnen locker herausfielen.
Fast 2 Stunden hatte ich schon versucht, meine Kräfte zu nutzen und ich war nicht einen Schritt weiter gekommen.
'Weißt du, Nia...', sie stoppte kurz. Mrs. Infusio überlegte immer genau, was sie sagen wollte, nur in ihrem Unterricht klang sie frei, so als ob sie eine innig studierte Rede vortrug.

'Es gibt Menschen, die eine Blockade haben. Das muss nicht immer der Fall sein, wenn die Nutzung der Kraft nicht funktioniert, aber wenn dir etwas fehlt, wenn du etwas brauchst, um aktiviert zu werden, dann nennt sich das Blockade.
Zum Beispiel wenn du in irgendeiner Weise herausgefordert wirst.
Wenn du dich selbst akzeptieren musst.
Oder wenn du findest, was dir fehlt, einen Gegenstand, eine Person, einen Ort, den du sehen musst.'

Ich zuckte hilflos mit den Schultern.
Was mir fehlte?
'Meine Mutter fehlt mir.'
Jeden Tag fehlte sie mir.
Mrs. Infusio drehte sich zu mir um. Ihre Augen glitzerten traurig.
Auch ihr musste meine Mutter viel bedeutet haben.
Wir starrten uns einen Moment an, teilten das Leid ihres Todes miteinander.

Ihre Stimme klang merkwürdig ruhig, als sie fortfuhr.
Ich hätte mich nicht so unter kontrolle gehabt.
'Deine Mutter fehlt mir auch.
Es kann aber nicht sein, dass sie deine Blockade ist.
Du hattest sie bei dir... Sie war da.
Das heißt deine Blockade müsste gesprengt sein.
Auch wenn du zu diesem Zeitpunkt noch nichts von deinen Kräften wusstest.
Es muss etwas sein, was dir fehlt, was du noch nie besaßt und was dich vom ersten Moment anzog.
Tief in dir drin.'
Ahnungslos hob ich die Hände.

'Du weißt wahrscheinlich nicht, was dir fehlt. Es gibt tausende von Möglichkeiten.'
Ich schluckte.
In mir kam die Angst auf, dass ich meine Kraft niemals finden würde. 'Muss es denn so sein?'
Mrs. Infusio schüttelte beruhigenderweise den Kopf.
'Nein, normalerweise gibt es solche Blockaden nur bei besonders Starken und mächtigen Kräften.
Ich bezweifle zwar nicht, dass du stark bist, aber es kann auch sein, dass du einfach ein bisschen Zeit brauchst, um alles zu verarbeiten. Nur du kannst wissen, wann du bereit bist.'

Ich brauchte wirklich Zeit, um alles zu verstehen, denn ich hatte so viel mitbekommen, so viel erlebt.
Trotzdem war ich nervös, ich hasste solche Ungewiesheiten.
'Sind sie sicher, dass ich es weiß. Wann ich bereit bin, meine ich.'

Meine Tante lächelte mir wissend zu. 'Du wirst es wissen. Deine Kraft wird auf dich warten. Oder du auf sie.'
'Und unser Unterricht?'
Meine Tante legte den Kopf schief. 'Ich mag es, wenn du hier bist.
Du bist wie eine Tochter für mich,Nia. Ich möchte...
Ich muss dich beschützen und dazu gehört auch, deine Gabe aus dir herauszulocken.
Wenn du willst, können wir den Unterricht fortsetzen, deine Gedankenverschickung erweitern oder einfach reden.'
Ihre Worte rührtem mich, denn sie war mir auch sehr wichtig.
Ein Lächeln glitt auf mein Gesicht und es war echt, nicht eingeübt, wie der Rest des Tages.
Meine nächste  Bewegung war ein Impuls, ein Gefühl.
Ich ging einfach auf meine Tante zu und umarmte sie fest.

Zuerst war Mrs. Infusio überrascht, doch dann drückte sie mich liebevoll. Ich roch ihr Parfum, ein dezenter Vanilleduft, welches mich an den Lieblingsduft meiner Mutter erinnerte.
Sie waren sich so ähnlich.

'Und wenn es doch eine Blockade ist?'
Unsicherheit schwang in meiner Stimme mit, als ich ihr meine Sorgen mitteilte und mich von ihr löste.
'Auch das schaffen wir. Wir finden schon einen Weg an deine Kräfte zu kommen.
Ich verspreche es.'
Dieses Versprechen gab mir neue Energie.
Meine Tante war für mich da und sie würde mir helfen, meine Kraft zu finden, denn zusammen würden wir das schaffen.
Ich wusste gar nicht, wie ich mich dafür bedanken sollte, weil ein einfaches 'Danke' nicht zu reichen schien.

***

Die Tage an dieser Schule schienen im Fluge zu vergehen.
Aufstehen, Lernen, Kräfteunterricht und wieder Schlafen gehen.
Der organisierte Tagesablauf ließ jeden Tag wie eine Sekunde vergehen und doch nahm ich so viel daraus mit, dass es auch aus jahrelanger Forschung und Übung stammen könnte.

Am Abend saß ich an meinem Schreibtisch.
Das Licht meiner kleinen Lampe leuchtete hell und warm, während ich nach vorne gebeugt über einem Blatt Papier hockte.
Es musste so aussehen, als ob ich mit voller Konzentration etwas zeichnete, dabei kritzelte ich nur gedankenverloren auf einem Blatt herum.
Mein Stift zeichnete ohne mein zutun, das Bild entstand ohne eine bestimmte Intention.
Es war so einfach alles um mich herum zu vergessen, während meine Hand sich einfach weiterbewegte. Gleichmäßig hörte ich das Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier.
Endlich legte ich den Stift weg und blickte auf das Papier.
Erst schienen die Linien sich vor meinen Augen zu bewegen, schienen zu verschwimmen, doch dann formte sich ein Wolf daraus.
Ein unglaublich großer, dunkler Wolf. Der Fenriswolf.
Er war irgendwie in meinem Bewusstsein geblieben.

Mit der Hand schlug ich mir gegen den Kopf.
Ich hatte doch in der Bibliothek nach dem Wolf suchen wollen.
Ob sie noch offen war?
Ich stand auf, schob unauffällig mein Rollo ein Stückchen hoch und blickte aus dem Fenster auf den Kampus, der in der Dunkelheit lag.

Der Himmel war schon schwarz eingefärbt, einzelne Sterne strahlten wie die Lichter eines Leuchtturmes, nur der Mond war nicht zu sehen.
Es musste schon recht spät sein, aber vielleicht hatte die Bibliothek ja noch offen.
Der Bibliothekar würde sicher noch die Bücher wegräumen oder Papierkram erledigen.
Dann konnte ich noch schnell nach einem Buch suchen.
Es juckte mir in den Fingern.
Ich musste unbedingt etwas über diesen Fenriswolf herausfinden. 

Entschlossen schnappte ich mir meine Jacke, steckte meinen Schlüssel ein und ging hinaus.
Die Luft war kühl und frisch, doch irgendwo hinter mir spürte ich wieder diesen Blick aus den Schatten. Ich spürte ihn immer öfters in meinem Rücken, denn er verfolgte mich in vielen Momenten meines Tages.
Es war Einbildung hatte ich mir gesagt.
Dabei war es kein unangenehmer Blick gewesen.
Nichts was mich sonderlich aus den Konzept brachte, etwas alltägliches und nichts bedrohliches.

Heute Nacht war es jedoch anders. Der Blick war schneidend, gefährlich und ich zitterte unwillkürlich, war mir ziemlich sicher, verfolgt zu werden.
Möglichst ruhig drehte ich mich um. Achtsam suchte ich in den Bäumen und Büschen nach dem Anzeichen eines Verfolgers.
Schon war es weg und ich spürte nichts mehr.
Doch nur Einbildung.

'Du drehst durch.', murmelte ich mir selbst zu.
Hier war nichts, niemand der mich beobachtete.
Wer sollte das auch tun?
Das Internat war sicher.
Bis auf das Loch.
Ich schüttelte diesen Gedanken von mir ab, das brachte doch nichts.
Ich hatte wohl einfach zu viel Fantasie und das war schon immer so.
Ziemlich zügig folgte ich dem Weg. Außer dem knirschenden Kies unter meinen Schuhen und dem einsamen Ruf einer Eule war es ganz still.
Ungewöhnlich still.
Ich schauderte.

Einerseits wollte ich umkehren.
Andererseits wollte ich mir nicht eingestehen, dass ich Angst vor einer Einbildung, vor nichts, hatte.
Also ging ich weiter in die Richtung der Gebäude und als ich endlich ankam, betrat ich die Bibliothek so schnell es ging.
Die Tür fiel leise hinter mir ins Schloss.
Es war dunkel, verlassen, niemand war da.
Komm geh wieder, komm morgen wieder, sagte mein ängstliches Ich zu mir.

Doch von irgendwoher kamen Stimmen, leise und geheimnisvoll redeten sie, was mich neugierig werden ließ.
Natürlich war noch jemand hier, wenn die Tür nicht abgeschlossen war.
Langsam ging ich den Flur mit den hohen Bücherregalen entlang.
Sie reichten bis an die Decke mehrere Meter über mir und alles war voll mit Büchern, Bücher über Bücher.
Es mussten tausende sein.

Meine Füße machten fast keine Geräusche auf den schwarzen Fliesen, ich schlich wie eine Katze dahin.
Die Stimmen wurden zunehmend lauter und gleich würde ich verstehen, was sie sagten.
Das sanfte Licht einer Laterne leuchtete vor mir zwischen den Büchern hindurch.
'Es ist wichtig.
Wir können das nicht auf die leichte Schulter nehmen.'
Das war eindeutig meine Tante.
Aber was machte sie hier?
Mit wem unterhielt sie sich?
Sie konnte nichts böses im Schilde führen, denn ihre Stimme klang besorgt und deswegen konnte ich mich einfach nicht abwenden.
Gebannt lauschte ich einer unbekannten, dunkleren Frauenstimme.

'Ja, das kann sein.
Wir dürfen aber nicht überreagieren,  nur weil sie mit dir Verwand ist. Vielleicht bist du übervorsorglich.' Mit Mrs. Infusio verwandt.
Schlagartig wurde mir klar, dass sie mich meinten.
Ich hatte ein Recht dazu, zuzuhören, beschloss ich.
'Vielleicht hast du recht und ich sorge mich zu sehr um sie, aber ich weiß das sie in Gefahr ist.'
Ich drückte mich enger gegen die Wand, ein großes Buch wackelte und fiel herunter.
Im letzten Moment beugte ich mich weit nach vorne und fing das Buch auf.
Dabei hallte der leise Aufprall meiner Knie auf den kühlen Fliesen durch den Raum.
Nur ein klitzekleines Geräusch, docj jemand drehte sich um, war aufmerksam geworden.
'Was war das?', zischte die Stimme der fremden Frau durch die Bibliothek.
Ich duckte mich dicht hinter das Bücherregal und wagte es nicht zu atmen.
Bloß nicht atmen.

Meine Tante schien nichts bemerkt zu haben, sie war zu sehr auf das Gespräch konzentriert.
'Es war sicher eine Maus, aber das hier ist wichtig, hör mir bitte zu, Jana.'
Ihre Stimme nahm einen ernsteren Tonfall an.
Jana hieß die Frau also, nach diesem Namen musste ich mich unbedingt informieren.
So leise wie möglich stellte ich das Buch wieder an seinen Platz.

'Ich spüre auch die Gefahr, doch wenn sie von ihr ausgeht, dann wäre es doch besser wenn das Mädchen nicht auf dem Internat ist. Sie...' 'Nein!', schnitt Mrs. Infusio Jana das Wort ab, 'Sie kann Illusionen erschaffen, das könnte nützlich sein und außerdem... du weißt schon, was ich ihrer Mutter gesagt habe.'
Ich wollte mehr wissen, genauere Informationen haben.
Konnten die Beiden nicht klarer sprechen?
'Ist ja gut. Ich versuche ja etwas zu machen. Ich habe schon alle Wachen verstärkt, selbst wenn ich das aufgrund einer schwachen, naiven Waise nicht für notwendig halte.
Wir haben schließlich noch andere Probleme. Aber gut, wenn es dich beruhigt, dann Vertraue ich dir in dieser Angelegenheit, vor allem, wenn Gabe Hanwen im Spiel ist.'

Das reichte, ich verließ eilig die Bibliothek und ließ des sorgenvolle Gespräch hinter mir.
Das die schwere Tür laut hinter mir zuknallte, beachtete ich gar nicht.
Es ging doch um mein Leben.
Wieso erzählte mir denn keiner davon?
Wenn ich diese verrückte Welt verstehen wollte, musste ich wissen, was hier vor sich ging.
Einen kurzen Moment blieb ich stehen und sammelte mich, horchte in die Stille.

Und jetzt?
Erstmal schlafen, denn ich brauchte Ruhe.
Es passierte so viel um mich herum, jedoch bekam ich alles nur wie durch eine undurchdringlichen Wand aus Glas mit, oberflächlich.
Ich ging weiter, den Blick in den Himmel gerichtet, die endlos lebenden Sterne beobachtend, die ein Gefühl der Unnahbarkeit ausstrahlten.
Immer waren sie da, wachten über uns.

Ich knallte ruckartig in eine schwarze Wand.
'Au!', japste ich beim Aufprall.
Das konnte nur mir passieren.
Mein Kopf brummte, aber ich war mir nicht sicher, ob es von dem Gespräch oder von meinem Zusammenstoß gerade kam.
Die Wand drehte sich um.
Luis.
Nicht schon wieder.
'Was machst du hier?', zischte er grundlos wütend.
Er hatte kein Recht mich das zu fragen.
'Was machst du überhaupt hier?', konterte ich empört.
Seine eisblauen Augen, die meine Blicke immer sofort auf sich zogen, wirkten in dieser Nacht viel mehr dunkelblau, ungewiss, gefährlich.
Ein tiefes dunkelblau, wie das Wasser in einem Meer und obwohl er grimmig reinschaute, sah er unglaublich gut aus.
Gegen die Wirkung, die sein Aussehen auf mich hatte, konnte ich absolut nichts ausrichten.

Etwas, das Klang wie ein Knurren kam aus seiner Kehle.
'Ich habe etwas zu erledigen.'
Ich wollte gar nicht wissen, was er hier erledigte.
Jen würde ihm alles zutrauen.
Ich versuchte möglichst gleichgültig zu sprechen.
'Ja, ich erledige ebenfalls etwas.
Dann wäre das ja geklärt.'
Luis zog seine dunklen Augenbrauen hoch, doch er sagte nichts, er schaute mich einfach nur an.
Sein Blick ließ alle Luft aus mir  herausgleiten, verwirrte mich vollständig.
Wie konnte man nur so feindlich und gleichzeitig so sanft blicken?
Ich hoffte, dass man die leichte Röte, die über meine Wangen glitt, in der Dunkelheit nicht sehen konnte, das wäre zu peinlich.

Bevor die Stille sich länger ausbreitete, wendete ich mich einfach von ihm ab und ging.
In meinem Nacken konnte ich Luis Blick immer noch spüren, wie bei unserem ersten Treffen.
Er durchdrang mich, jede Faser meines Körpers, sodass meine Schritte automatisch etwas schneller wurden.
Ich konnte diesem Blick nicht lange standhalten.
Er war zu stechend, zu stark für mich.

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