Kapitel 6

Nach dem Gespräch mit meiner Tante, entdeckte ich Jen im Atrium.
Sie stand dort ganz unschuldig und grinste die vorbeigehenden Schüler an, las wahrscheinlich ihre Gedanken.
Nachdem sie mich gesehen hatte, winkte sie mir aufgeregt zu und zog mich in eine kurze, aber heftige Umarmung.
'Hey, Süße, wie geht's wie steht's?
Ich habe noch nie als Reiseführerin gearbeitet.
Du musst mir am Ende unbedingt sagen, wie ich war.
Ich gebe mir auch ganz viel Mühe, ja?'
Sie schien wirklich aufgeregt zu sein, obwohl es nur um meinen Erklärungsrundgang durch die Schule ging.
Vielleicht konnte ich so erstmal meine Sorgen vertreiben und ein bisschen Spaß haben.
Jen schien nichts von meinen Sorgen zu bemerken, im Moment schien sie nicht auf meine Gedanken zu achten.

Sie verbeugte sich lachend vor mir, verstellte dann ihre Stimme und fing an zu reden.
'Guten Tag, Mrs. Miller.
Folgen sie mir bitte.
Ich darf sie doch sicher duzen?'
'Na klar, Mrs. Croel.
Das wäre super.
Ich freue mich schon sehr, dass du mir alles zeigst.'
Wenn sie eine tolle Vorführung für meine Führung wollte, dann würden würde sie die bekommen.
'Komm, folge mir!'
Ich ging hinter ihr her, verließ das große Gebäude und drehte mich fast gleichzeitig mit ihr um.
'Erster Stopp, die drei Hauptgebäude.' Ich schaute auf die drei großen weißen Gebäude mit den vielen Verzierungen.
Mir fiel auf, dass ich nicht einml über diese Gebäude Bescheid wusste, obwohl ich sie jeden Tag sag.
Ehrlich gesagt, kannte ich gerade mal die Schulräume, die Sporthallen und die Mensa.
Gut, dass sich das jetzt ändern würde

Jen deutete zuerst auf das linke Gebäude.
'Das dort ist das Gebäude für den Sportunterricht. Unten sind viele Sporthallen, doch darüber befindet sich eine große Mensa, fals du beim Training Hunger bekommst.
Sie hat mehr oder weniger gutes Essen, aber das passt schon.'
Jen grinste.
Ich konnte sehen, dass sie sich total wohl in ihrer Rolle als Führerin fühlte.
'Daneben ist einfach nur das Gebäude fur den Unterricht. Viele Klassenräume, die Büros der Lehrer und ein Atrium, wo sich die Schüler aufhalten. Laaangweilig.',
schnaufte sie und wandte sich nun dem dritten Gebäude zu.
Ich wusste nicht, was sich in diesem Gebäude befand, also war ich besonders neugierig auf Jen's Worte. Sie holte tief Luft, um die Spannung zu steigern.
'Dort ist eine große Bibliothek im Untergeschoss.
Darüber sind ein paar Räume, in denen alle Schüler ihre Kräfte üben. Und ähm...'
Jen machte eine Pause und überlegte kurz.
Währenddessen notierte ich mir kurz den Sinn des Gebäudes in meinen Gedanken.
Eine Bibliothek. Das war doch genau das, was ich brauchte.
Da konnte ich nach dem Fenriswolf suchen.
Außerdem übten dort alle anderen ihre Kräfte. Außer ich. Ich bekam alles in Mrs. Infusio's Büro beigebracht. Ich gehörte nicht zu den Anderen. Ich unterdrückte einen Seufzer und sah wieder zu meiner Freundin.

Jen wirkte verwirrt.
'Ich weiß nicht, was in der obersten Etage ist.
Niemand hat uns das erklärt.
Das ist wirklich mysteriös.'
Sie hatte Recht, das war komisch.
Was verbarg sich wohl hinter den dunklen, gruselig wirkenden Fenstern?
Es konnte so vieles sein.
Alte, gelagerte Sachen, geheime Bücher, eingeschlossene Tiere oder Feinde...
Ich schüttelte mich.
Nein, wahrscheinlich war es etwas ganz normales.
Auch Jen runzelte die Stirn.

Danach drehten wir uns um. 
'Hier ist der große Platz.
Die Alee.
Und die Wohnheime aller Schüler.' Sie zeigte jeweils auf den Weg oder die Häuser.
'Die Wohnheime sind aufgeteilt in Kräfte. Eines für die Sprinter, eines für die Kämpfer, für die Fühler, die Denker und so weiter.
Das ist dann noch jeweils in Mädchen und Jungen getrennt.
Von manchen Kräften gibt es mehrere Gewählte, was du sicher auch an den unterschiedlichen Größen der Häusern sehen kannst.'
Ich hörte interessiert zu.
Es stimmte wirklich.
Alle Häuser hatten nicht nur verschiedene Formen und Farben, sie waren auch unterschiedlich groß.

'Bei wem wohne ich denn?'
Ich wohnte bei irgendwelchen anderen Schülern im Wohnheim, so viel stand fest.
'Welches ist denn dein Wohnheim?'
Ich folgte ein Stück der Alee, um mich besser zu orientieren.
Mein Zimmer war in einem kleinen Wohnheim untergebracht, welches dunkelgrün gestrichen war und als einzieges Wohnheim nur eine Etage besaß. 
Bestimmt zeigte ich auf das Gebäude und sah Jen fragend an.
Sie wirkte ein wenig unsicher.
'Nun... Ich glaube, das ist das Haus, von den Sehern. Die, die in die Zukunft sehen können. Sie haben das kleinste Wohnheim, da sie so wenige sind. Ich schätze, du wurdest einfach dazu gepackt.'
Ich nickte nur und schaute unauffällig zur Seite.
Wir mussten ungefähr an dem Ort sein, wo ich das Loch im Busch gefunden hatte.
Da war es!
Ich versuchte lächelnd weiterzugehen, aber Jen hatte, wie sollte es auch anders sein, meine Gedanken gelesen.
Sie riss die Augen auf und blickte zu der Stelle mit dem Loch.
'Du hast einen geheimen Ausgang gefunden!', sagte sie überrascht.

Tolles Geheimnis.
Ich schaute betreten auf meine schwarzen, bequemen Stiefelletten, die mir meine Mutter zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Sie fehlte mir.
Gleich würde mir Jen sicher eine Predigt halten, wie unverschämt und unüberlegt es war diesen Tunnel nicht den Lehrern zu melden.
Ich war mir selbst der Gefahr im klaren, die von einem versteckten Loch ausgehen, dabei wollte ich doch nur einen geheimen Ausgang haben, wenn mir alles zu viel wurde.
'Das ist ja cool! Jetzt haben wir einen geheimen Ausgang, um uns wegzuschleichen.'
Was?
Ich starrte sie verwundert an.
'Aber wir müssten das melden, oder? Zur Sicherheit.'
Sie schüttelte wie immer grinsend den Kopf.
'Nein, es ist ja nicht unsere Schuld, dass es das Loch gibt.
Niemand weiß, dass wir es gefunden haben. Weißt du nicht welche Chancen uns offenstehen?'
Doch das wusste ich.
Trotzdem lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Mrs. Infusio hatte gesagt, man wollte mich umbringen.
'Ach komm, sei keine Spielverderberin, Nia.
Verstehst du nicht, wie toll es wäre, wenn wir so ein Geheimnis hätten. Das ist der Weg in die Freiheit.
Es ist unsere Fahrkarte zu Abenteuern.
Sag nicht, dass du es nicht auch ein bisschen gut findest.
Außerdem hättest du es ohne mich, ja auch für dich behalten.'
Ich seufzte.
So schlimm konnte es nicht werden.

'Okay, es ist ja nur ein Loch.'
Jen umarmte mich.
'Wir müssen unbedingt mal zusammen in die Stadt shoppen gehen.
Das habe ich so lange nicht mehr gemacht und langsam wird online shopping echt langweilig.
Ich fragte mich, mit wie vielen Jahren Jen zum ersten mal auf diese Schule gegangen war, die kleinsten Kinder auf dem Campus schienen 10 oder 11 Jahre zu sein.

Jen blickte in den Himmel.
'Oh... Wenn du noch trocken bleiben willst.'
Dicke tropfen fielen vom Himmel und tropften platschend auf die Erde.
Es wurden stetig mehr.
Ein einzelner Tropfen fiel mir auf die Nase und ich schüttelte mich. Ein Blitz zuckte gefährlich durch die Wolken, verschwand im dunklen Wald.
Viel zu rasch hörten wir einen lauten, dumpfen Donner in der Ferne.

'Mist.', fluchte ich und joggte durch die Alee.
Jen folgte mir etwas langsamer, ich hörte das bestämdige Quitschen ihrer Schuhe. 
Wir waren froh im warmen Schulgebäude anzukommen und Jen schnaufte genervt.
'Ich muss jetzt noch Hausaufgaben machen. Du kannst natürlich mitkommen und daneben sitzen, aber ich glaube, dass mich das ablenken würde.'
'Ja, mach du ruhig brav deine Hausaufgaben.
Ich glaube, ich gehe heute früh ins Bett. Ich bin total geschafft.'
Jen blickte mich verständnisvoll an. 'Gut, wir sehen uns morgen, Süße!'

Sie war die Einziege, auf die ich mich hier verlassen konnte.
Mit einem letzten Winken verschwand sie nach draußen in den Regen und lief los, um möglichst trocken zu bleiben, was ihr nach dem laut prasselnden Geräusch sicher nicht gelingen würde.
Was für ein Wetter.

***

Eigentlich wollte ich wirklich gerne schlafen gehen, ich hatte aber noch vor mit Luis über mein Training zu reden.
Ich hatte Jen bewusst nichts von meinem zukünftigen Training gesagt, da sie ja eine hartnäckige Abneigung gegen Luis hatte.
Das musste aber nicht heißen, dass er schlecht oder gemein war.
Er hatte schließlich für mein Training zugesagt.
Ich schaute mich im Atrium um.
Ob er noch Schule hatte?
Um diese Uhrzeit wohl eher nicht. Also ging ich vor die Tür.
Es regnete nun in Strömen und die Temperatur schien etwas gesunken zu sein.
Wo hielt Luis sich wohl auf?
Ich überlegte kurz.
In der Bibliothek oder in der Mensa vermutete ich ihn nicht.
Die Turnhalle wäre der wahrscheinlichste Ort, um ihn anzutreffen, wenn er nicht auf seinem Zimmer war.
Ich atmete tief Luft aus, schlang meine Jacke enger um mich und rannte das kurze Stück zur Turnhalle so schnell ich konnte.
Dort angekommen war ich unglaublich nass, meine Haare klebten mir im Gesicht und ich schüttelte mich, wie ein Hund, um die größten Tropfen loszuwerden.
Anschließend öffnete ich die Türklinke des Gebäudes.
Drinnen war es schön warm, doch ein intensiver Duft nach Schweiß und zu viel Deo lag in der Luft.
Ich rümpfte die Nase.
Irgendwo hier musste jemand trainieren.

Ich folgte dem gut beleuchteten Gang mit den vielen Abzweigungen, die zu verschiedenen Turnhallen führten. Alle Hallen waren groß und sahen gleich aus und waren alle leer.
Am Ende des Gangs stieg ich die Treppe hinauf. Es gab ja noch eine zweite Etage mit Hallen.
Im Vorbeigehen blickte ich durch ein geschlossenes Fenster.
Man konnte fast nichts mehr erkennnen, so doll tropfte der Regen gegen das Glas und rutschte an der Scheibe herunter.
Die offenen Türen ließen nur einen Blick auf leere Hallen frei, anscheinend wollte gerade niemand trainieren.

Da hörte ich ein Rumpeln aus der letzten Hallen. Ob das Luis war? Vorsichtig spähte ich um die Ecke. Der Raum war von einem gedimmten Licht erleuchtet, es waren viele Sportgeräte aufgestellt und ein roter  Boxsack hang in der Mitte der Halle. Starke Fäuste schlugen dagegen, sie schlugen in einem gleichmäßigem Rhytmus.
Zu meiner Enttäuschung war es aber nicht Luis, der schlug.
Ich seufzte.
Wie hatte ich auch denken können, dass ich ihn hier so einfach finden würde...
Der Junge am Boxsack hielt inne und blickte zu Tür.
Anscheinend hatte er meinen Seufzer gehört, denn er blickte mich fragend mit leicht zusammen gekniffenen Augen an.
'Äh... Ich suche Luis.', stammelte ich unsicher.
Grandiose Antwort.

Der Junge kam zu mir und zog dabei  seine Boxhandschuhe aus.
Ich konnte sehen, wie sich sein Brustkorb schnell hob und senkte. Schweiß lief über sein Gesicht.
Er schnappte sich ein Handtuch und wischte sich damit über sein Gesicht, sodass ich gut seinen muskulösen Körper beobachten konnte.
Jap, er war eindeutig gut gebaut, breite Schultern, trainierte Arme und auch ein Sixpack vermutete ich unter seinem Shirt.
'Luis ist mein bester Freund.
Was willst du von ihm?'
Er stand direkt vor mir und erst jetzt wurde mir bewusst, wie groß er war. Ich würde ihn auf mindestens 2meter schätzen und das nutzte er gleich aus, indem er auf mich herunterlächelte. Durch den Blick aus seinen dunkelbraunen Augen wurde mir unwohl zumute, aber ich konnte sie nicht deuten.
Er hatte gesagt, dass er Luis bester Freund war.
Vielleicht wusste er wo dieser war und die Wahrheit würde er von Luis sowieso erzählt bekommen.

'Ich nehme bald Unterricht bei ihm.'
'Ach, du bist also das neue Mädchen.', sagte er und reichte mir freundlich die Hand, 'Wilkommen an der Schule! Mein Name ist Hannes Jerosey.' Höflichkeit war ihm schonmal ein Begriff, sogar mehr als Luis.
'Ich heiße Nia Miller.'
Sein Grinsen wurde breiter. Er schien irgendetwas über mich zu wissen.
Hoffentlich keines von Sallys Gerüchten.

Stur wiederholte ich meine Frage: 'Wo ist Luis? ...wenn du das weißt. '
Er wandte sich ab, um sich auf eine der Bänke zu setzte.
'Eben war er noch hier. Du hast ihn nur ganz knapp verpasst.'
'Und jetzt?'
'Jetzt ist er gerade gegangen.
Hatte es wohl eilig.'
Er sah mich prüfend an und lachte leise.

'Du freust dich schon sehr auf das Training? Das wird härter, als du denkst.'
Er hatte also bemerkt, dass ich mich auf den Unterricht mit Luis freute.
Ich war wirklich zu durchschaubar.  Das hatte aber etwas mit Luis zu tun und nicht mit dem Training.
Ich sagte nichts dazu.
Hannes schien mir zwar ganz nett, aber ich wollte trotzdem nicht so lange mit ihm in diesem Raum sein. Genau wie Luis hatte er etwas geheimnisvolles an sich und dieses Etwas machte mir ein bisschen Angst. 'Ja, ich kann mir vorstellen, dass es schwierig wird.', sagte ich einfach,
'Ich muss jetzt wieder gehen.'
Hannes lächelte wieder und erwiederte: 'Bis bald.'
Danach verschwand ich in der Hoffnung, dass Luis vielleicht noch irgendwo auf seinen Freund wartete.

***

Sobald ich aus der Tür trat, bemerkte ich etwas zu meiner Linken.
Ich schaute in die Schatten.
Dort war nichts.
Nur der Regen tropfte ununterbrochen auf den Asphalt. Doch auch wenn ich nichts sehen konnte, fühlte ich einen festen Blick auf mir.
Es war so, als würde mich jemand beobachten.
Gruselig.
Das Klingeln meines Handys lenkte mich von diesem Gefühl ab denn das fröhliche Tut-Tut bildete einen Kontrast zum trostlosen Geräusch des Regens.
Ich öffnete den Reißverschluss meiner Tasche und krammte darin herum.
Als ich mein Handy endlich gefunden hatte, zog ich es heraus.
Marc.
Ich nahm ab und hielt mein Handy an mein Ohr.

'Hey'
Beim Klang seiner Stimme schluckte ich. Er erinnerte mich immer an meine alte Welt. Dort war alles so einfach gewesen.
Ich musste mich mit Problemen, wie schwierigen Hausaufgaben, Streit mit Freunden oder Stress aufgrund von vielen Termine rumschlagen.
Im Vergleich zu meinen jetzigen  Sorgen war das nichts.
Mein Leben war so durchgedreht und gefährlich geworden.
Dabei hatte ich das Gefühl, dass dies hier erst der Anfang war.
Wie sollte ich das nur länger als ein paar Tage aushalten?
Der Druck auf meinen Schultern ließ mich auf die Stufen sinken.
Ich hatte schon ein paar mal darüber nachgedacht einfach das neue Leben hinzuschmeißen und wieder ganz normale Sachen zu machen.
In die Schule zu gehen, Ausflüge mit Marc zu machen und einfach nur mit Musik in den Ohren auf meinem Bett zu liegen, während meine Mutter Kekse backte.
Ihre Kekse waren unglaublich gut gewesen.
Nach all diesen einfachen Sachen sehnte ich mich.

'Hallo?', hörte ich wieder seine Stimme.
Heute war der schlimmste Tag gewesen. Sally hatte mich die ganze Zeit geärgert und ich konnte nicht einmal meine Kraft einsetzten, obwohl ich den ganzen Nachmittag geübt hatte.
Umsonst.
Diesen Albtraum konnte ich auch nicht einfach vergessen, er begleitete mich den ganzen Tag wie ein rachsüchtiger Geist und meine Tante vermutete, dass jemand nach meinem Leben trachtete.
Außerdem fühlte ich mich einsam. Immer war ich allein.
Meine Mutter fehlte mir so sehr.

'Nia?', fragte Marc leise.
Eine Träne tropfte mir von der Wange.
Schnell wischte ich sie weg.
Meine Stimme klang belegt, als ich antwortete.
'Ich brauche dich Marc. Kannst du nicht zu mir kommen? Jetzt?'
Wind zog auf und ließ die Regentropfen gegen mich prasseln, sodass ich erzitterte.
Wenn ich jetzt niemanden zum Reden hatte, würde ich sicher zusammenbrechen.
Diese ganze Magiewelt mit ihren Hindernissen und Tücken war einfach zu viel für mich.

'Na klar. Wo bist du denn?', fragte Marc verständnisvoll. Er wusste, dass ich ihn jetzt dringend brauchte. 'Komm vor das Internat. Ich warte an der linken Seite der Hecke. Dort ist ein kleines Loch. Da bin ich.'
Meine Stimme klang belegt.
Eigentlich sollte ich mich nicht heimlich mit Marc treffen und ihm schon gar nichts von dem Loch erzählen, doch das hier war ganz klar ein Notfall.
'Gut, ich komme, warte auf mich.', sagte er und legte auf.
Das laute Tuten meines Handys hinterließ eine unbeschreibliche Leere in mir.
Irgendwo in meinem Rücken spürte ich immer noch diesen Blick, aber ich ignorierte ihn.
Sollte mich doch jemand stalken.
Das war mir egal.
In diesem Moment war mir so ziemlich alles egal.
Ich legte mein Handy zurück in meine Tasche, schloss den Reißverschluss und lief hinaus in den Regen.

Mitten auf dem Platz blieb ich ruckartig stehen.
Das Wasser durchdrang meine Klamotten in wenigen Sekunden, wurde von ihnen aufgesogen.
Doch merkwürdigerweise fühlte es sich gut an.
Befreiend.
Ich hatte noch nie so eine große Lust verspürt im Regen zu Tanzen.
Dieser Drang nach einem kitschigen, tragischen Tanz im Regen, der in Filmen, meistens mit Musik unterspielt, immer unglaublich gut aussah.
Mal abgesehen davon war niemand so verrückt sich einfach in dieses Gewitter zu stellen.
Ich war also allein. Niemand schaute mir zu, weit und breit war niemand da, der mich beobachtete...

Ich erlaubte mir ein paar Tränen, denn man konnte sie nicht von den Regentropfen unterscheiden.
Nur ich wusste, dass sie da waren.

Ich drehte mich zum weinenden Himmel blickend wild im Kreis, schneller und schneller,
verlor einfach meine Orientierung.
Ich blendete meine Gedanken aus und fiel auf die Knie.
Auch den Schmerz beim Aufkommen spürte ich nicht.
Mein Mund öffnete sich kurz und ich spürte den Regen auf meiner Zunge, spürte auch salzige Tränen auf meiner Zunge.
Ein Meer, ein kaltes Meer der Trauer.
Ich schloss die Augen und stellte mir mein inneres Feuer vor, sodass es auflackerte und trotz der Kälte mein Herz warm hielt, mich vor dem Erfrieren schützte, vor dem Ertrinken schützte.

***

Nach einer Weile hörte ich Schritte. Was mich verwirrte war, dass sie aus zwei verschiedenen Richtungen kamen. Zwei Menschen kamen auf mich zu, eilig, bestimmt.
Als hätte einer der Beiden dies ebenfalls bemerkt, verstummten seine Schritte.
Nur noch eine Person schritt in meine Richtung und hob sich somit vom Regen ab.

Ich wagte es nicht mich zu Bewegen, meine Trance aufzulösen, dafür war das Feuer zu stark.
'Nia?!', rief eine bekannte Stimme.
Marc.
Ich öffnete meine Augen einen winziegen Spalt breit, mein Kopf drehte sich wie von selbst in seine Richtung.
Mein bester Freund kroch umständlich durch das Loch, das ein bisschen zu klein für ihn war.
Marc machte gerade erneut seinen schwarzen Regenschirm auf, da dieser nicht durch das Loch gepasst hatte.
Nachdem ich wie eine Verrückte durch den Regen getanzt war, fühlte ich mich gleich viel besser, doch icj überlegte immer noch zu welcher Welt ich gehörte, war unentschieden und unsicher.

Marc blieb neben mir stehen, hockte sich neben mich und berührte sanft meinen Arm.
'Du bist ja ganz kalt.'
Dann schloss er einfach die Arme um mich. Tief in dieser Urmarmung versunken saßen wir im Regen, abgeschirmt von den kalten Tropfen durch seinen Schirm, abgeschirmt von der Welt, weil wir zusammen waren.

'Du erfrierst noch hier draußen.'
Ich spürte nichts.
Nicht den eiskalten Regen auf meiner Haut.
Nicht Marcs warme Arme um meinen Körper.
Vielleicht war ich schon erfroren, innerlich und äußerlich.

'Komm steh auf! Du musst dich aufwärmen.'
Ich wollte gar nicht aufstehen.
Ich wollte hier sitzen bleiben. Trotzdem hievte ich mich mühsam hoch, weil Marc so hilflos an meinen nassen Klamotten zog.
Ich war ja so eine Heulsuse, immer nur mit meinen Problemen beschäftigt und vergaß dabei die Welt um mich herum.
Langsam folgte ich Marc, der den Schirm über mich ganz wie ein Gentelman über mich hielt, sodass ich keinen Tropfen Wasser mehr abbekam, während Marc sich teilweise dem strömenden Regen aussetzte.
Meiner Meinung nach war das ziemlich dumm, weil ich auch nicht mehr nasser werden könnte, aber ich wehrte mich nicht, bekam das Ganze eigentlich gar nicht mit.

Ich bemerkte gar nicht, wie wir in meinem Zimmer ankamen.
Marc wusste zwar nicht, wo er hinmusste, doch ich war einfach in Gedanken meinen Weg gegangen. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich ins Badezimmer und schloss die Tür hinter mir ab.
Er verstand, dass ich kurz Zeit für mich brauchte, bevor wir darüber sprachen.
Mein Spiegelbild sah schrecklich aus, denn ich war durchnässt, als hätte ich in einem Orkan gestanden.
Vielleicht hatte ich das ja auch.
Mit einem letzten Schluchzer schob ich mir verirrte Strähnen meines Haares hinter die Ohren und atmete ein paar Mal ein und aus.
Dann beschloss ich zu Marc zu gehen, denn er hatte es nicht verdient, so lange ignoriert zu werden, zumal er auch nicht die ganze Nacht hier verbringen konnte.
Deswegen zog ich mir schnell trockene Klamotten an und setzte mich danach zu ihm.

***

Ich lag in meiner schwarzen Jogginghose und einem einfachen, blauen T-shirt in meinem Bett.
Meinen Kopf hatte ich erschöpft und ausgelaugt an die Wand gelehnt, nachdem ich ihm alles erzählt hatte.
Zuerst hatte ich ihm von der Verhörung im Polizeirevier, von dem magischen Internat und den Kräften, was er mir tatsächlich glaubte, oder zumindest nicht weiter danach fragte, und von Jen erzählt.
Auch die Gespräche mit Sally und ihre Gemeinheiten oder meine Übungsstunden hatte ich nicht ausgelassen.
Jetzt fühlte ich mich leer, aber besser.

Marc versuchte sichtlich die informationen zu verarbeiten, während er auf meinem Schreibtischstuhl hockte und nachdenklich in meine Richtung blickte, ohne mich direkt anzusehen.
'Ach... Ich kann das nicht mit ansehen!'
Marc's Stimme hatte einen etwas scharfen Ton angenommen, was mich eindeutig überraschte.
'Was meinst du?'
Ich knetete mein großes, flauschiges Kissen mit beiden Händen und drückte es dann krapfhaft gegen meinen Bauch.
Ich hatte eine andere Antwort erwartet.

'Das meine ich. Du bläst die ganze Zeit nur Trübsal.'
Ich schluckte, dafür gab es Gründe. Marc stand auf, kam zu mir herüber und setzte sich neben mich.
Ich spürte, wie sein Gewicht die Matratze leicht herunterdrückte.
'Versteh mich nicht falsch. Das was dir passiert ist, ist schrecklich und das ganze hier', er machte eine ausladende Handbewegung, 'ist wirklich irreal und verwirrend.
Das tut mir wirklich leid, du glaubst gar nicht wie sehr.'
Er löste meine Hände vom Kissen und nahm sie in seine, die merkwürdigerweise ziemlich warm waren.
Dann sah er mir in die Augen, intensiv.

'Trotzdem geht dein Leben weiter.
Du bekommst hier die Chance auf einen Neuanfang, damit kannst du alles andere hinter dir lassen.
Hier wird dein Leben anders sein, außergewöhnlich sein, aber das heißt nicht unbedingt, dass es schlecht ist. ' Seinr Worte echoten laut durch meinen Kopf bis ich sie richtig verarbeiten konnte.
Sie klangen richtig, aber irgendwie auch nicht, weil ein Neuanfang nicht so einfach war, wie er es darstellte.

'Du glaubst das alles?', fragte ich zweifelnd. Ohne die Magie zu sehen, hätte ich es ja selbst nicht für wahr gehalten.
Er fuhr sich nervös mit der Hand durch das noch leicht nasse Haar, was wirklich gut aussah, wie ich zugeben musste.
'Ja, ich denke schon. Es klingt merkwürdig, aber in meinem Leben werde ich immer wieder neu überrascht und wenn du es glaubst, dann tue ich das auch, denn du bist der Mensch, dem ich am meisten vertraue.'
Ich war gerührt von seinen Worten.
Das mit der Magie hätte ich ihm ganz sicher nicht abgekauft, wenn ich es nicht selbst erlebt hatte.

'Und wenn ich das nicht will? Dieses Leben...'
Gab es einen anderen Weg?
Einen Weg alles hinter mir zu lassen?  Seine Stimme war leise aber bestimmt, als er begann zu sprechen. 'Probier es doch erst einmal.
Wir können ja immer noch etwas zusammen unternehmen, du musst dein altes Leben nicht vergessen und du bleibst immer noch du selbst, versprochen.
Proviere es einfach und werfe diese Chance nicht unüberlegt weg.'
Er hatte Recht, wie immer.
Ich war nicht ich selbst, wenn ich die ganze Zeit Trübsal blies.
An der Vergangenheit gab es nichts mehr zu rütteln.
Nun ging es um die Zukunft.
Diese konnte ich noch bauen, nach meinen Vorstellungen.
'Einen Neuanfang.', murmelte ich, um mich mit der Idee vertraut zu machen.
Ich würde ich selbst sein, nur meine Ängste und Sorgen wollte ich hinter mir lassen, auch wenn das schwer war.

'Einen Versuch ist es Wert.', flüsterte Marc. Ich konnte seinen Atem neben mir hören, leise und regelmäßig, so dicht saß er.
Sein Oberkörper hob und senkte sich. Er schien auf etwas zu warten.
Meine Antwort, wurde mir schlagartig klar.
'Ja, du hast recht.', sagte ich leise, 'Ich probiere es.'
Er lächelte glücklich und tatsächlich musste ich auch ein wenig lächeln.
'Danke.'
Sein Lächeln wurde zu einem zaghaften Grinsen.
'Du gefällst mir fröhlich viel besser.'

Wir unterhielten uns noch eine Weile über belanglose Sachen.
Die Schule, meine wenigen alten Freunde und den neusten Klatsch.
Es war kein interessantes Gespräch, aber ich genoss es so frei zu reden. Irgendwann spät Abends ging Marc nach hause.
Ich vermisste ihn sofort, wollte noch, dass er länger blieb, aber ich wusste seinen Beistand, seine Fürsorglichkeit und seine Zeit für mich sehr zu schätzen.
Er war mein Held.

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