Kapitel 4
Und wieder war ich in Mrs. Infusio's Büro.
Langsam wurde das zur Gewohnheit bei mir. Dieser Raum war mir fast bekannter als mein eigenes Zimmer hier. Zufrieden schaute ich an mir hinab. Ich hatte mir ein weißes Spitzenoberteil, meinen schönen, dunkelblauen Cardigan und eine enge Jeans angezogen.
Meine Haare waren an den spitzen noch leicht nass vom Duschen, aber das Beste war der leichte Orangenduft meines Shampoos, der um mich herum schwebte. So fühlte ich mich gleich viel frischer und insgesamt wohler.
Nur gegen den Schmerz in meinen Muskeln, konnte ich leider nichts tun. 'Hallo Nia!'
Ich nickte nur erschöpft und ließ mich auf den beigen Sessel fallen, der gemütlicher war, als ich anfangs gedacht hatte.
Auf Mrs. Infusio's Tisch lagen viele Bücher. Alle waren dick und die meisten waren mit einer leichten Staubschicht bedeckt, als wären sie jahrelang nicht mehr gelesen worden. Meine Tante schob sich die Brille auf ihrer Nase ein Stückchen höher.
Sie hatte Augenringe und wirkte sehr müde, weil sie sicher den ganzen letzten Abend damit verbracht hatte, etwas über meine Kraft zu erfahren. Sie gab sich so viel Mühe, für mich.
Außerdem hatte sie auch jemanden verloren, ihre Schwester.
In letzter Zeit war ich nur mit mir selbst beschäftigt gewesen. Ich hatte nicht auf die Probleme der anderen geachtet. Ich wollte ihr unbedingt etwas zurückgeben für ihre Fürsorge. 'Danke, Sahra. Für alles.'
Dabei nannte ich extra ihren Namen, weil sie mich am Anfang darum gebeten hatte.
Meine Tante blickte einen kurzen Moment hoch. Sie lächelte und sah glücklich aus. Vielleicht hatte sie sich ja auch Kinder gewünscht.
'Das ist sehr nett von dir,Nia, aber ich musste dir sowieso helfen, um etwas altes wieder gut zu machen. Es ist sozusagen eine Pflicht.'
Ich fragte mich, was sie wohl falsch gemacht hatte und wieder gut machen wollte, doch Mrs. Infusio stand schon wieder gefasst auf und kam mit einem dicken Buch zu mir.
'Es gab nicht viel über deine Kraft, aber ich habe gelesen, dass du nicht nur Illusionen erschaffen kannst. Du bist auch in der Lage in den Gedanken anderer zu sprechen. Meiner Meinung nach hört sich das einfacher an.'
Ich überlegte kurz.
In den Gedanken anderer Menschen sprechen...
Verrückt.
Doch ich stimmte ihr zu: 'Ja, ich kann es probieren, einen Versuch ist es Wert. Ist dieser Teil der Kraft nicht sozusagen das Gegenteil von dem was Jen macht? Also Gedankenlesen.'
'Ja, so könnte man es bezeichnen. Hier steht darüber, dass du anderen auch Gedanken in den Kopf setzten kannst, von denen sie denken es wären ihre. Deine ganze Kraft funktioniert jedoch nur, wenn dein "Partner" in deiner Nähe steht. Sonst kannst du ihn nicht erreichen.'
Mrs. Infusio's Blick glitt interessiert, ja wissbegierig über die Seiten des alten Buches in ihren Händen.
'Willst du es nicht es nicht einfach mal bei mir versuchen?'
Ich atmete tief ein.
Meine Tante war tatsächlich mein Versuchskaninchen.
Und ich war eine Magierin.
In Gedanken stellte ich mir das Wort Hallo in meinem Kopf vor. Es kam mir am einfachsten vor, so etwas bedeutungloses zu sagen.
Danach versuchte ich irgendwie das Wort aus meinem Kopf heraus in Mrs. Infusio's Richtung zu schicken. Kurz bevor ich jedoch bei ihr ankam, versperrte mir eine große, rote Mauer wie eine Warnung den Weg.
Ich konnte mich selbst von außen sehen, wie ich klein, schwach und erfolgslos gegen die Mauer schlug. Meine Fäuste und Rufe prallten einfach daran ab.
In Gedanken ließ ich mich an das kühle Gestein sinken.
Das hatte doch keinen Sinn. Diese Mauer würde ich nie durchbrechen. Sie war zu ihrem Schutz da.
'Das geht nicht.', seufzte ich laut, 'Sie haben eine mentale Mauer vor ihrem Kopf.'
Mrs. Infusio blickte mich fragend an. 'Ich habe nichts gemacht...
Aber ich denke, so ein Abwehrsystem hat jeder, ich habe mal was darüber gelesen, könnte ich mich nur erinnern. Vielleicht musst du einfach einen Weg finden, mit dem du durch die Mauer brichst.'
'Ich habe schon dagegen geklopft, geschlagen, getreten... Nichts funktioniert.', gab ich missmutig zu, doch nun lächelte Mrs. Infusio mild: 'Versuch doch mal etwas unmenschlicheres.
Etwas magisches.'
Ich fasste neuen Mut.
Das könnte klappen.
Also schloss ich die Augen, um ganz viel Magie zu sammeln. Viele verschieden Ideen flossen durch meinen Kopf. Erneut formte ich das Wort Hallo und zog es hinter mir her. Zuerst stellte ich mir vor riesengroß zu sein.
Ich wuchs und wuchs und wuchs. Als mein Körper jedoch über die Mauer hinweg schaute, entdeckte ich, dass sie oben auch geschlossen war.
Wäre ja auch dumm gewesen, wenn nicht. Ich schlug ein paar mal von oben drauf, aber wieder passierte nichts, darauf schrumpfte ich wieder zu normaler Größe.
Mir war klar gewesen, dass es nicht klappte.
Dann hatte ich einen Rambock.
Nichts.
Ich war durchsichtig,
prallte trotzdem an der Wand ab.
Als Nashorn rammte ich gegen die scheinbar undurchdringbare Wand.
Sie wackelte nicht einmal.
Okay, das war verrückt.
Gerade umschlang mich die Enttäuschung wie ein Fischernetz einen hilflosen, unwissenden Fisch, als eine kleine Stimme tief in mir drin mit einer glockenhellen Stimme zu mir sprach. Elysias.
'Du musst an dich glauben. Denk daran, Nia.'
Sie war hier bei mir.
Ich konnte es schaffen.
Sie glaubte an mich, wer auch immer sie war
Mrs. Infusio glaubte an mich.
Meine Freunde glaubten an mich.
All dieses Vertrauen musste doch etwas nützen.
Das hier war real, das war jetzt meine Welt und das musste ich Ihnen beweisen.
Also flog ich in die Höhe.
'Ich kann das!', murmelte ich entschlossen, vielleicht nur in meinen Gedanken, vielleicht auch in der Realität.
Dann sauste ich herunter und flog mitten durch die Mauer hindurch. Um mich herum explodierten die Bruchstücke der Mauer.
'Hallo?', sagte Mrs. Infusio unwillentlich.
Dann verstand sie, dass ich ihr dieses Wort zugesprochen hatte. Freude breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
'Nia, du hast es geschafft.'
'Ja, das habe ich.', stellte ich freudig fest. Es war vielleicht nur ein kleiner Schritt zu meiner vollen Kraft, aber es war das erste Mal, dass ich erfolgreich meine Kraft benutzte.
Es hatte tatsächlich geklappt.
Also gab es wirklich Magie, auch in mir.
Unglaublich.
Danke, Elysias.
Ich wusste nicht ob sie mich auch hören konnte.
***
Anschließend übten wir noch den ganzen Nachmittag.
Ich wurde immer schneller und sicherer.
Am frühen Abend beherrschte ich das "Gedankenverschicken" schon richtig gut, es war einfach und ich konnte in weniger als einer Sekunde einen, oder sogar mehrere Sätze in Mrs. Infusio's Gedanken schleudern, ohne Anstrengung.
Das überraschende dabei war, es machte mir sogar richtig Spaß.
'Es wäre gut, wenn du deine Kraft auch bei anderen ausprobierst. Natürlich erlaubt.'
Ich grinste kurz.
Woran sie nur dachte.
Ich war doch immer ganz brav.
'Ja, klar. Ich bin sicher Jen wird sich freuen auch mal Versuchskaninchen zu sein.'
Mrs. Infusio nickteund schaute auf ihre große Uhr. Es war schon halb sieben, wie die Zeit verging.
Ich wollte mich zum gehen aufmachen, doch Mrs. Infusio hielt mich noch kurz zurück.
'Heute ist ja die Versammlung des Rates...', fing sie an, 'Ich werde den Anderen von dir und der Sache mit deinem Funken erzählen. Es tut mir leid, wenn das ein wenig in deine Privatsphäre eingreift, aber es ist wichtig für unser aller Sicherheit.' Mrs. Infusio blickte aufrichtig und fast flehentlich bittend.
'Ja, aber wenn es schon darum geht? Was ist an Gabe Hanf... oder wie er auch immer hieß so besonders? '
Mrs. Infusio seufzte resignierend.
'Er ist der Anführer der Bösen, also derjeniegen, die gegen uns stehen. Im Moment scheint es so als würden sie an einem Ritual arbeiten.'
Ich versuchte kurz die neuen Informationen zu verarbeiten.
Das Böse also.
'Was für Rituale machen sie denn?'
Mrs. Infusio verzog das Gesicht.
'Das ist ganz unterschiedlich. Man kann Monster erschaffen, tote Leute zum Leben erwecken, eine ganze Armee verstärken...
Es sind grausame Rituale dabei.'
'Oh, das ist schlecht. Das heißt die... Bösen haben einen Plan.', schloss ich.
Meine Tante nickte traurig: 'Ja und es wird schrecklich. Doch unsere Glück ist das Einzige, was bleibt.'
'Glück? Zufall oder wie?', fragte ich verwirrt.
Was war das nur für eine verworrene Welt?
'Ja, in anderen Worten, wir haben nur die Hoffnung, dass sie es nicht schaffen.
Es gibt meistens etwas, das schwer zu beschaffen ist. Zum Beispiel eine besondere Blume, die es nur einmal auf der Welt gibt oder auch ein Opfer eines bestimmten Menschens. Wir müssen unbedingt herausfinden, was sie brauchen.
Deswegen muss ich auch jetzt los zum Treffen des Rates. Es gibt viel zu besprechen.'
Ich nickte verständnisvoll, hätte aber gerne noch weiter darüber geredet.
'Darf ich den morgen erfahren, was passiert ist?'
Mrs. Infusio schaute mich anklagend an und ich setzte zur Überzeugung noch schnell hinzu.
'Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was passiert. Ich stecke da mittendrin.'
Mrs. Infusio sah noch einen Moment aus, als würde sie mit sich selbst, um eine Antwort ringen, bevor sie ruhig antwortete.
'Ja, du hast recht. Wir können morgen nach deiner Geschichtsstunde darüber reden. Jetzt muss ich aber los.'
Damit war ich einverstanden.
Ich folgte meiner Tante zufrieden nach draußen.
Während sie ihre Tür mit einem kleinen, goldenen Schlüssel abschloss, fragte ich noch: 'Ach... Machen wir morgen weiter mit dem Training?' Das Nicken von Mrs. Infusio war etwas gehetzt, aber sie lächelte.
'Du hast gute Fortschritt gemacht. Ich bin stolz auf dich, Nia.'
Mit diesen Worten verschwand sie in den nächsten Gang. Ein warmes Gefühl floss durch mich hindurch. Sie war wirklich stolz auf mich.
Ein Lächeln glitt über mein Gesicht.
Ein Schritt in die richtige Richtung.
***
Langsam schlenderte ich zurück zu meinem Zimmer.
Die Abendsonne leuchtete sanft zwischen den dicken, bauschigen Wolken hindurch.
Der Wind fuhr durch die Bäume und die Blätter raschelten leise.
Ich schirmte meine Augen mit einer Hand vor der untergehenden Sonne ab, als ich eine Lücke in der großen Hecke entdeckte.
Zuerst dachte ich, es wäre einfach nur eine Stelle, an der die Hecke zerstört war, jedoch bemerkte ich nach einem weiteren Blick, dass nicht nur die Hecke an dieser Stelle fehlte. Dahinter war ein Stück aus dem strombespannten Zaun herausgeschnitten worden.
Es war ein Durchgang aus diesem gut gesicherten Internat nach draußen, einen den ich nie erwartet hätte.
Jemand hatte sich einen Fluchtweg verschafft und ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte. Es gefiel mir zwar nicht, dass diese Lücke für alle kommenden Feinde zugänglich war...
aber es war doch ein nützlicher Weg hinaus. So konnte ich zum Beispiel Marc treffen, ohne dass ich meine Tante damit belästigen musste.
Vielleicht war es doch gar nicht so schlecht.
Neugierig kroch ich auf allen vieren durch das kleine Loch.
Dahinter fing ein stiller Wald an, ein dunkler Wald und doch ein beeindruckender Wald.
Große Tannen, Buchen und Eichen standen dicht aneinander und verbaten der Sonne einzudringen.
Die riesigen Wurzeln flossen um die Bäume und dicht wie eine Decke mit braunen und orangen Blättern bedeckt.
Im vereinzelt und nur schwach durch die Blätter und Tannen gedrungenen Licht der Abendsonne glänzte alles golden, wirkte majestätisch.
Es war einfach zauberhaft, so als wäre auch dieser Wald magisch. Noch vom Anblick dieses schönen Waldes abgelenkt, hörte ich Schritte hinter mir.
Sofort kroch rückwärts durch das enge Loch im Busch, stand auf und klopfte mir den Dreck ab.
Kurz danach bog auch schon ein Mädchen mit schwarzem Haar um die Ecke. Sie musterte mich argwöhnisch, wie ich da auf der Wiese stand, ging aber mit hoch erhobenem Kopf einfach weiter.
Wieso gab es hier so viele Tussis?
Ich pustete hörbar die Luft aus, die ich eingeatmet hatte.
Das hier würde erstmal mein Geheimnis bleiben, so viel stand fest. Mein Ausweg, mein Schlupfloch aus dieser anstrengenden Welt.
Unauffällig ging ich zurück auf den Weg, inzwischen war ich hundemüde. Über alles weitere konnte ich auch noch morgen nachdenken und das Loch würde wohl auf mich warten.
***
Ein dunkler Schatten drängte sich in mein Blickfeld.
Ich wich zur Seite aus, obgleich ich meinen Angreifer nicht kannte.
Das Lachen eines Mannes schallte zwischen den dunklen Bäumen hin und her, wurde vom rauschenden Wind getragen und verhallte zwischen ihren Blättern und Nadeln. Nebelschwaden zogen auf, trugen Aschepartikel mit sich durch die Luft, und es wurde kalt, frostig, winterlich.
Der Wald.
Wie kam ich hier hin?
Ich wusste es nicht.
In meinem Kopf war nur eisige Leere, als hätte die Kälte jeden Gedanken eingefroren, als hätte ich meine Erinnerung verloren.
Schnelle Schritte erklangen hinter mir.
Ich wollte mich nicht umdrehen, wollte nicht sehen wer oder was dort lauerte
Ich wollte weglaufen vor allem.
Also lief ich los, schnell und schneller. Meine Füße fanden einen Weg zwischen den Bäumen umher.
Flink sprang ich über die Wurzeln und floh vor meinem Feind, immer weiter in den Nebel,
in die Dunkelheit,
ins Ungewisse.
Stundenlang schien ich bereits zu laufen, ich war erschöpft, verzweifelt und meine Füße brannten,
kein Ende war in Sicht, denn die Schritte waren noch immer hinter mir, gleichmäßig und laut, viel zu laut für einen Menschen.
Ich musste weiter.
Ich stolperte, fiel schmerzvoll auf eine besonders große Wurzel und unterdrückte ein Ächzen.
Verdammt.
Alles umsonst.
Die tiefe Stimme hinter mir wurde lauter, sodass ich einzelne, abgehackte Worte verstehen konnte
Verfolgen, Foltern, Töten.
Eiskalte Schauder zogen durch meinen Körper. Ich versuchte aufzustehen, aber es gelang mir nicht.
Jemand packte mich grob an der Schulter und zog mich hoch.
Seine Finger bohren sich in meine Haut, immer tiefer, verhindern jeden Befreiungsversuch.
Ein Schrei blieb in meiner Kehle stecken.
Niemand würde mir helfen.
Keiner konnte mich hören.
Wieso war ich in diesen Wald gelaufen?
Nun war die Stimme des Mannes direkt an meinem Ohr, ich konnte seinen kalten Atem auf meiner Haut spüren.
'Du wirst sterben.
Genauso wie deine Eltern wirst du diese Welt schon bald verlassen.
Doch vorher...'
Sein Satz endete drohend im nichts.
Dann schallte sein hartes, raues Lachen wieder durch den Wald, diesmal näher und lauter.
Auch seine andere Hand ruhte nun auf meiner Schulter, langsam bohrten seine Finger sich wie Nadeln tief in meine Haut.
Blut rann meine Schultern herab.
Schließlich kam endlich ein Schrei in mir auf und ich riss meinen Mund weit auf und schrie.
Ich schrie so laut ich konnte durch den Wald, doch dieser verschluckte das Geräusch wie das Zwitschern eines kleinen Vogels.
Ich wusste, dass es vorbei war.
***
Ich schreckte auf und mein Schrei blieb mir im Hals stecken.
Meine Decke war um meine Beine gewickelt, ich war vollkommen verschwitzt und meine beiden Hände waren zu Fäusten geballt.
Noch einen Moment verweilen die Bilder in meinem Kopf, dann gelingt es mir sie zu verdrängen.
Ein Traum.
Nur ein ganz gewöhnlicher Albtraum, doch alles war so real gewesen.
Ich schüttelte mich, im Versuch den Traum abzuwerfen, aber er klebte an mir, wie als wäre er mit dem Harz der Bäume des Waldes befestigt.
Ich wollte nicht an ihn denken und trotzdem blieb er bei mir.
Nach einigen Sekunden, wickelte ich mich ungeschickt aus meiner Decke und stand auf.
Es war sicher noch sehr früh, aber so konnte ich einfach nicht mehr einschlafen.
Wieso träumte ich so etwas schreckliches?
Und wer war dieser Mann in meinem Albtraum?
Ein Hirngespinst wahrscheinlich.
Das kam davon, wenn mein Körper alle diese verrückten Ereignisse am Tag verarbeitete.
Erschöpft stützte ich mich gegen meinen Kleiderschrank.
Meine Muskeln schmertzten noch vom Training gestern, doch das war nichts gegen diesen Albtraum.
Ich strich mir über die nackten Schultern, um sicher zu gehen, dass keine Nadeln darin steckten, so paranoid war ich schon.
'Keine Angst.', fuhr Elysias beruhigende stimme durch mich hindurch. Erst erschrak ich, weil sie so selten zu mir sprach, doch ihre Stimme hatte eine sehr entspannende Wirkung auf mich.
'Okay, okay.', flüsterte ich leise und bestimmt.
Vielleicht sollte ich diesem Tag doch noch eine Chance geben, selbst wenn mein Start nicht der Beste war.
Ich zog mich also an und kämte meine Haare.
Am Ende beobachtete ich mich im Spiegel.
Mein Gesicht verriet allen Stress der letzten Tage und vor allem einen gewissen Schock über meinen Traum. Ich hatte schon versucht meine endlos dunklen Augenringe abzudecken, doch mein Ergebnis war eindeutig amateurhaft.
Mit einem tiefen Seufzer nahm ich mir Jacke und Tasche und ging hinaus.
Mein Muskelkater machte mir beim gehen zu schaffen, sodass es wahrscheinlich eher aussah als würde ich humpeln, aber hier war sowieso niemand, der mich beobachtete, dafür war es zu früh, vielleicht halb acht.
Ich hatte keine Lust die ganze Zeit hier draußen in der Kälte zu sitzen, aber an Einschlafen war auch nicht mehr zu denken. Langsam und unentschlossen schlenderte ich durch die Alee.
Es war still und nur leises Gekicher und Geplapper drang an meine Ohren.
Ein paar einzelne Schüler gingen über den Campus, alle waren zu zweit oder dritt unterwegs.
Nur ich war alleine, was mich komischerweise an meine alte Schule erinnerte.
Als ich am ersten Tag an meiner Schule war, fühlte ich mich fürchterlich allein. Ich hatte zwar einen Freund, Marc.
Doch er war noch nicht angekommen, weil meine Mom mich immer zu früh losschickte, damit ich ja nie zu spät kam. Ich stand dort und beobachtete die anderen Schüler.
Manche grüßten mich knapp, vereinzelt wurde ich ignoriert und die meisten Schüker hatten es einfach eilig in die Schule zu kommen.
Ich stand alleine vor dem großen Tor und wartete.
Schließlich betrat ich alleine das Gebäude und suchte mir in meinem neuen Klassenzimmer missmutig einen Einzelplatz in der letzten Reihe.
Meiner Mutter hatte immer gesagt, man dürfe niemandem Fremden vertrauen und deswegen blieb ich meist alleine. Warum sie das sagte, wusste ich nie, aber sie wurde dabei immer so ernst und traurig, sodass ich eine gewisse Angst zu Fremden aufbaute, seien es nur meine Mitschüler.
Zum Glück hatte sich das mit der Zeit etwas gelegt.
Nachdem endlich der Gong ertönte, hechtete Marc in unsere Klasse und stellte sich einen Extrastuhl an meinen Tisch. Damals war ich unglaublich froh gewesen ihn zu sehen, nicht alleine zu sein.
Außer ihm hatte ich nicht viele Freunde, aber es spottete auch niemand über mich und es drohte mir schon gar niemand an, mich zu verprügeln.
Dort war ich ganz gut angekommen. Aber wieso fiel mir das hier so schwer?
Ich fand keinen Anschluss, vielleicht hatte ich Jen, aber selbst sie konnte nicht den ganzen Tag mit mir abhängen. Sie hatte noch andere Freunde.
Wahrscheinlich gehörte ich einfach nicht hier hin.
Vor allem Sally gab mir das Gefühl ein Außenseiter zu sein, wenn sie mich mal wieder ärgerte oder mich mit Schimpfwörtern betitelte.
Niemand sonst interessierte sich auch nur ein bisschen für mich. Es ist ja nicht so, dass ich gerne ganz viel Aufmerksamkeit hätte, aber ein paar Freunde mehr...
War das zu viel verlangt?
Ich hatte schon öfters mit dem Gedanken gerungen einfach wieder auf meine alte Schule zu gehen, aber die Geschehnisse und Geheimnisse hatten mich hier gefesselt.
Mit hängendem Kopf ging ich weiter und wich den Pfützen aus.
Vielleicht brauchte ich auch einfach ein bisschen Zeit, ich war ja noch keine ganze Woche hier, also hieß es Geduld zu haben.
Apropos Geduld.
Ich wollte unbedingt jetzt schon wissen, was sie in der Versammlung besprochen hatte. Neugier keimte in mir auf.
Es war sicher noch genügend Zeit vor dem Unterricht und vielleicht war meine Tante ja in ihrem Büro...
Bevor ich mich zurückhalten konnte, ging ich auch schon die große Steintreppe des imposanten Gebäudes hinauf.
Ich klopfte kurz, höflichkeitshalber, machte dann aber sofort die Tür auf.
Mrs. Infusio blickte erschrocken von ihrem Schreibtisch hoch, als hätte sie Angst vor etwas.
Nachdem sie erkannt hatte, dass ich es war, legte sich Sorge in ihre Augen.
'Nia...' , fing sie unsicher an, 'Ich dachte, wir reden erst heute Mittag...'
'Ich hab auch jetzt Zeit', sagte ich direkt und machte die Tür hinter mir zu.
Abwarten und Tee trinken gehörte noch nie zu meinen Stärken. Trotzdem versuchte ich mich zu zügeln, legte meine Tasche auf den Boden und verschränkte die Arme vor der Brust.
Dann fing ich ruhig an zu sprechen, obgleich ich nicht wusste, was ich sagen sollte: 'Bitte schauen sie mich nicht so voller Sorge an, ich will nur die Wahrheit wissen. Ich kann das vertragen, es bringt mich ja schließlich nicht um, oder?'
Offensichtlich.
Ich breitete die Arme entschuldigend aus, versuchte es mit einem Lächeln und verschränkte sie dann ein zweites mal vor mir.
Mrs. Infusio räusperte sich leise. 'Ich verstehe dich, Nia.'
Sie schüttelte den Kopf, als würde sie das Gespräch bereuen und redete dann leise weiter.
'Aber ich glaube es ist schlecht, wenn ein Mensch so viel auf einmal erfahren muss und ich will dich wirklich nicht belasten.
All diese Sachen, die du einfach in dich hineinsaugst.
Und das ist gerade erst der Anfang dieser. Ich würde dir nur zu gerne etwas abnehmen, aber das geht nicht, und deswegen ist es besser, wenn wir das Ganze langsam angehen. '
Sie sah mich nun direkt an und ich merkte, dass meine Tante sich sorgen um mich machte.
Wahrscheinlich stimmte es, so etwas war belastend, führte zu Albträumen und machte Menschen im Extremfall kaputt.
Ich wusste, dass es mir nicht guttat. Ich hatte es von Anfang an gewusst. Ich merkte bereits, dass es mich zerfressen würde, ganz langsam und unentdeckt und ich wusste nicht, was ich dagegen tun konnte, aber das wahr kein Grund die Wahrheit vor mir zu verstecken.
Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen und ich wollte mich nicht schon wieder in einem schützenden Kokon der Lügen verstecken.
Dieses Mal würde das anders laufen, weil ich mitreden konnte.
'Ich will die Wahrheit wissen.'
Meine Tante seufzte, als hätte sie bereits erwartet, dass ich so etwas sagen würde.
'Du bist genauso stur wie deine Mutter.', stellte sie fest und kam näher zu mir, wobei ich dies als Kompliment ansah.
'Aber gut. Ich erzähle es dir.'
Ihre Augen wirkten sorgenvoller und sie senkte den Blick bedacht.
Da war irgendetwas wichtiges, etwas gefährliches, das bereits lange und lauernd auf mich wartete.
Und das würde ich jetzt erfahren.
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