Kapitel 35

Dunkle Schatten bewegten sich zu allen Seiten und verwirrten mich.
Ich wusste weder, wo ich war, noch was ich hier tat, denn der Nebel umschloss mich.
Ich versuchte mich umzusehen, aber es war nichts da. Nur Schwärze und Dunkelheit umflossen mich, wie ein Fluss aus rauschendem, schwarzem Wasser. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl zu ertrinken, im Gegenteil.
Die Luft war erfrischend und roch nach Tannennadeln.
Ich war in einem Wald.
Im dunklen Wald.
Mein Herz pochte laut in meiner Brust, als mir all die schmerzhaften Erinnerungen ins Gedächtnis flossen. Sie alle machten mir klar, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte, zeigten mir meine Schwäche, mein Versagen.
Dann schaute ich zu, wie Gabe Hanwen sich die Artefakte schnappte und lachend im Portal verschwand.
Warte, dass hatte ich nicht gesehen. Er manipulierte mich wieder.
So schnell ich konnte, baute ich eine Mauern vor meine Gedanken und schleuderte alle Erinnerungen von mir weg.
Ich wollte nichts behalten, weil alles von ihm beeinflusst war,wollte nichts mehr spüren, weil er den Schmerz in mich pflanzte, der mich innerlich zu zerreißen drohte.
Doch Samen konnten ohne Hilfe nicht wachsen und das Verbrechen hatte ich selbst begangen.

Die Stille in meinem Kopf war beruhigend, spendete mir Trost, bis plötzlich eine dunkle Stimme erklang. Diese grauenvolle Stimme, die mich jedesmal aufs Neue erschreckte.
'Glaub nur nicht, dass es vorbei ist.
Es hat gerade erst angefangen und du bist ein Teil davon, ein Teil vom Bösen in dieser Welt. Gib es zu, du bist ein kaltblütiger Mörder wie ich. Du bist ein Monster.'
Monster hallte das Wort von unsichtbaren Wänden wieder und echote durch den undefinierbaren Raum.
Ein Spiegel erschien vor mir und zuerst konnte ich nur mich erkennen. Meine große, dünne Gestalt, mein schmales Gesicht, meine warmen, braunen Augen.
Doch dann verwandelte ich mich. Meine Pupillen verfärbten sich in ein blutiges Rot, meine Fingernägel wurden zu spitzen Krallen und meine Haut veränderte sich zu einem schwarzen, alles vernichtenden Schleim, bis alle Menschlichkeit aus meinem Körper gewichen war.
'Du bist viel schlimmer als wir alle zusammen.', lachte Gabe Hanwen, mein Spiegelbild verschwand und ich sah mehrere hundert Tote Gewählte vor mir auftauchen.
'Alles deine Schuld. Das Schicksal nimmt seinen Lauf und Menschen sterben wegen deinen Entscheidungen, deinen Taten, deinen Morden. Ja, Morden, denn wenn es einmal angefangen hat, dann hört der Drang nach mehr nicht mehr so schnell wieder auf.', vernahm ich noch, bevor mein schmerzerfüllter Schrei die trügerische Dunkelheit verbannte.

***

Ich schrie immer noch, als ich aufwachte, hörte erst auf, als ich die Augen aufschlug.
Ruckartig setzte ich mich auf und versuchte meinen Atem zu kontrollieren. Es gelang mir nicht.
Mit einem kurzen Blick umfasste ich die Umgebung.
Krankenhauszimmer, wo auch sonst. Ich war zurück auf der Artztstation in unserem Internat.
Ich legte meine Hände vors Gesicht und rieb mir müde den Schlaf aus den Augen, falls ich überhaupt zum Schlafen gekommen war.
Meine Albträume hatten schon lange nicht mehr ausgesetzt und nun konnte ich mir sicher sein, dass er mich noch weiter verfolgen würde. Gabe Hanwen würde immer in meinen Träumen sein, bis an sein oder mein, Lebensende.

Eine warme Hand legte sich auf meinen Arm und einen kurzen Moment lang spürte ich die Macht, die unter der fremden Haut pulsierte. Genau die gleiche Art Macht, die ich Gesine entzogen hatte,um sie zu töten. Sie wollte auch dieses Mal zu mir.
Entsetzt von diesem Gedanken zog ich meine Hand zurück, weil er mich an Gabe Hanwens Prophezeiung erinnerte.
Nein, dass konnte nicht sein. Ich würde doch nicht wirklich noch jemanden umbringen?

Ich versuchte mich soweit wie möglich von der anziehenden Energie zu entfernen.
Niemand durfte mich mehr anfassen, wenn ich mein Umfeld nicht in Gefahr begeben wollte, weil meine Kraft jederzeit wieder die Kontrolle über mich übernehmen und jemanden umbringen konnte.
Um noch mehr Abstand zu schaffen, sprang ich aus dem Bett.
Ich wollte weg von dieser Person, weg aus diesem Krankenzimmer und weg von diesen bedrückende Gedanken und Träumen.
Mein verletztes Bein knickte ein, sodass ich mich am Bettpfosten festkrallen musste, um nicht hilflos aus den kalten Boden zu stürzen.
Erst jetzt bemerkte ich die Gestalt neben mir, die aufgestanden war, damit sie mir aufhelfen konnte.
Luis.
Was würde er von mir halten, wenn er von meinem Mord wusste?
Was würde er von mir denken, wenn er meine grausamen Gedanken kannte?

Ich trat noch einen Schritt zurück und Schmerz durchzuckte seine Augen wie das Licht der Sonne, das über dem Blau des Meeres flimmerte.
Er dachte wohl, dass ich in meiner scheinbaren Verwirrung Angst vor ihm hätte.
In Wahrheit war ich keinesfalls verwirrt und ich hatte lediglich Angst vor mir selbst, aber wenn ich ihm die Geschichte über die letzte Nacht erzählen würde, würde er mich hassen und ich konnte kein Leben leben, indem diejenigen die ich liebte mich hassten, egal wie selbstsüchtig das klang. Keiner durfte von dieser Nacht erfahren.

'Nia?', fragte Luis behutsam und mein inneres verzehrte sich danach, ihn zu umarmen, aber ich verbot es mir. 'Soll ich deine Tante holen, damit sie dich heilt?'
Ich schüttelte ganz langsam den Kopf. Auch dazu musste sie mich berühren und Berührungen waren für eine Waffe wie mich Tabu, wenn ich die Menschen, die mir wichtig waren, schützen wollte.
Außerdem konnte man manche Sachen nicht einfach heilen, manche Dinge blieben, vielleicht ein Leben lang.
'Lass mich bitte erstmal allein.', krächzte ich leise. Meine Stimme fühlte sich an wie ausgedörrt.
Es mussten bereits einige Tage vergangen sein, seit dem ich das letzte Mal gesprochen hatte.
Wieder entdeckte ich eine Welle des Schmerzes in Luis Augen und es zeriss mir fast das Herz, ihn so zu sehen. Dennoch drehte er sich um und öffnete die Tür.
'Wenn du was brauchst, dann sag einfach bescheid.'
Ich ließ mich langsam an der leeren, weißen Wand herunterrutschen und spürte dabei Schmerzen an meiner verwundeten Seite. Ich hatte diesen Schmerz verdient, denn er zeigte mir, was ich getan hatte.
Eine ganze Weile blieb ich einfach nur sitzten, dachte an nichts und fühlte nichts.
Ich spürte einfach nur diese große Leere.
Bald schon flossen mir Tränen die Wangen hinunter und ich fing hemmungslos an zu weinen.

Irgendwann hatte ich keine einziege Träne mehr übrig, fühlte mich ausgelaugt und leer.
Ich wusste, dass ich schon wieder im Selbstmitleid versank und schüttelte langsam den Kopf.
Mühsam stemmte ich mich hoch, was mit meinen Verletzungen gar nicht so einfach war.
Mein weißes Nachthemd war verschwitzt und zerknittert, sodass ich versuchte, es glatt zu streichen, was mir eindeutig nicht gelang.

Eigentlich wollte ich mich gleich wieder unter meiner Decke verkriechen, aber wenn ich einschlafen würde, war der nächste Albtraum nicht fern.
Ich entschied mich also für das kleinere Übel und zog mich um.
Auch das Umziehen war um einiges schwerer, als ich angenommen hatte, aber ich wollte ganz bestimmt niemanden um Hilfe bitten.
In einer schwarzen Leggings und einem viel zu großen, gemütlichen Pulli fühlte ich mich gleich viel besser. Es fühlte sich einfach normaler an, meine eigenen Klamotten zu tragen.
Bevor ich hinausging, trank ich noch einen Schluck Wasser aus dem Glas neben meinem Bett und den Blick in den Spiegel vermied ich absichtlich. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, atmete ich einmal tief turch.
Wenn ich mich distanziert und unauffällig verhalten würde, konnte ich sicher auch einen kleinen Spaziergang wagen.
Vielleicht würde ich auch einen Abstecher in die Bibliothek machen, die Hauptsache war, dass ich etwas, das mich ablenkte, hatte.
Draußen schien die fröhliche, gelbe Sonne und es war ein verhältnismäßig warmer, angenehmer Tag.
Dabei passten die vollends kahlen Bäume und das plattgetretene, dunkle Grad viel eher zu meiner Stimmung.

Ich ging möglichst abseits des Pfades, um niemandem zu Nahe zu kommen. Auf meinem Weg entdeckte ich mehrere der jüngeren Schüler.
Ich wusste nicht welche Uhrzeit wir hatten, aber wahrscheinlich war es schon Mittag und die jungen Schüler hatten ihr Pensum an Schulstunden schon hinter sich.
Einige der Kinder sahen mich mit großen, bewundernden Augen an, andere erzählten eifrig ihren Freunden, dass ich etwas Besonderes war. Wenn sie nur die Wahrheit wüssten, dann würden sie nicht mehr so stolz über mich reden. Niemand würde mehr zu mir stehen und deswegen durfte niemand erfahren, was für eine furchtbare Mörderin ich war. Mein Entschluss hatte sich keinesfalls geändert, wurde durch diese Ansicht nur noch verstärkt.

Ich setzte meine Kapuze auf und steckte meine Hände in die Taschen meines Pullis.
Je weniger Aufmerksamkeit ich erregte, desto besser.
Gemütlich schlenderte ich über die Wiese und bemerkte, dass es doch nicht ganz so warm war, wie ich anfangs gedacht hatte.
Dann entdeckte ich ein Mädchen, dass etwas abseits saß und erkannte sie sofort wieder.
Es war Yianschus Freundin, diejenige, die ich getröstet hatte.
Ich verzog schuldig das Gesicht.
Nun hatte sie nicht nur ihren Vater sondern auch noch ihre beste Freundin verloren.
Sie musste sich schrecklich einsam fühlen. Ich wollte ihr nur zu gerne helfen, aber die Nähe eines anderen konnte ich jetzt nicht ertragen. Gesines Tod war zu nah und ich wusste, dass ich jeder Zeit wieder imstande sein würde jemanden umzubringen. Ja, es war selbstsüchtig, schon wieder, aber ich konnte jetzt nicht mit ihr reden.
Ich schluckte hörbar und vertrieb den Gedanken unwillig aus meinem Kopf, bevor ich den Weg in Richtung Bibliothek einschlug.

Vielleicht konnte ich mich dort ungestört in eine Nische setzten und ein Buch lesen. Die Ablenkung würde mir gut tun und so konnte ich mich vor allem von anderen Leuten fernhalten.
Meine Wunden schmerzten und ich spürte bei jedem Schritt, wie tief einige Verletzungen gewesen waren. Ächzend humpelte ich die Treppe zur Bibliothek hinauf und machte die große doppelflügelige Tür auf. Ein leises Quitschen kündigte meinen Besuch an.
Sobald ich drinnen war, merkte ich, dass die Bibliothek eine ganz schlechte Idee gewesen war.
Ich wollte eigebtlich sofort wieder umkehren, aber ich wusste, dass sie mich gesehen hatten und deswegen gab es keinen Ausweg mehr aus dieser unangenehmen Situation.
Jen, Hamnet und Luis saßen an einem Tisch und redeten offensichtlich über mich, denn mir war klar, dass nur ich diese drei zu einem Gespräch bringen konnte. Jen und Luis waren ja bekanntlich nicht die dicksten Freunde.

Augenblicklich sahen sie auf und blickte mich überrascht an und auch viele andere Schüler schauten mich an, als sie mein Eintreten bemerkten. Ich senkte beschämt meinen Kopf und ging schnurstraks zum Tisch meiner Freunde.
So viel zum Thema keine Aufmerksamkeit erregen und mich von meinen Freunden fernhalten. Schon kam Jen quitschend auf mich zugesprungen.
Ich kniff die Augen zusammen und ließ ihre Umarmung über mich ergehen. Dabei achtete ich jedoch genau darauf, ihre Haut in keinster Weise zu berühren.
'Ich hatte solche Sorgen, als du verwundet hier ankamst, Süße. '
Statt ihr in die Augen zu sehen, starrte ich nur auf den Boden.
Meine Wunden waren verglichen mit dem was ich Gesine Hanwen angetan hatte nicht der Rede Wert, denn lediglich ich hatte die Grenze überschritten. 
Vielleicht wäre es besser, wenn sie mich zurückgelassen hätten. Dann würde ich auch nie wieder jemanden verletzten.

'Geht es dir den wiederEs  besser?' ,fragte Luis immernoch besorgt und blickte mich durchdringend, wenn auch unsicher von der Seite an, schien wohl an meine Flucht vor ihm bei unserer letzten Begegnung zu denken.
Ich nickte stumm und wich seinem Blick weiter aus.
'Du hättest wirklich nicht einfach abhauen sollen. Wir hätten doch zusammen einen Plan schmieden können.', sagte Hamnet leise, machte mir jedoch keine Vorwürfe, denn in seiner dunklen Stimme klang nur die Schuld mit, die er wahrscheinlich empfand, weil wir zusammen die letzte Wache gehalten hatten, nach der ich abgehauen war.
Es war ganz schön gemein von mir gewesen, seine Trauer über Ollis Verlust auszunutzen.

Ich biss mir auf die Lippen und sagte immer noch nichts.
Jen merkte wohl, dass ich nicht darüber sprechen wollte und setzte unter dieses Thema einen Schlussstrich.
'Aber es ist schön, dass es dir so weit gut geht. Dann kann das Leben hier ja wieder beginnen.'
Ich dankte ihr sehr für diese geschickte Überleitung, doch ihr letzter Satz hatte einen bitteren Beigeschmack für mich, denn ich wusste nicht, ob mein Leben je so werden würde wie vorher, wenn ich meine Kraft und mich selbst nicht kontrollieren konnte. Wenn ich wusste, dass ich eine Mörderin war.

'Ich glaube, ich gehe mich noch ein bisschen ausruhen. Bis dann!', meinte ich in die entstandene Stille, um von hier wegzukommen, und drehte mich rasch um, damit ich hier wegkam.
'Ich bringe dich zurück. ', schlug Luis hilfsbereit vor und folgte mir schon. 'Ach was, ich schaffe das schon.', versuchte ich es mit einem künstlichen Lächeln über meine Schulter, was keinerlei Wirkung erzeugte.
Einem Gespräch konnte ich wohl nicht aus dem Weg gehen.
Als wir draußen waren, fing er leise an zu reden.
'Es tut mir leid, Nia. Ich hätte besser aufpassen müssen. Das hätte nicht geschehen dürfen. '
Ich ging schneller.
Er gab sich selbst die Schuld.
Genau das, was ich in meiner Situation am wenigsten brauchen konnte, weil ich mich so nur noch schlechter fühlte. Er konnte doch nichts für meinen Zustand, niemand außer ich konnte etwas dafür.
Nur wie sollte ich ihr das nur erklären?

'Es ist nicht deine Schuld.', fing ich wiederstrebend an, blieb stehen und nahm meine Kapuze vom Kopf, um ihn richtig ansehen zu können.
Er musste das jetzt verstehen, auch wenn ich ihm nicht alles erklären konnte, auch wenn es für uns Beide nicht einfach war.
'Es war allein meine Entscheidung und nun muss ich mit den Konsequenzen klarkommen.'
Er sah mich sorgenvoll aus seinen atemberaubend himmelblauen Augen  an und wollte nach meiner Hand greifen, doch ich zog sie weg, bevor er meine Haut erreichte.
Er würde nicht verstehen, warum ich ihn nicht mehr anfassen konnte, obgleich ich so viel für ihn empfand. Es konnte nicht funktionieren.
Berührungen und Nähe waren doch das, was Beziehungen ausmachten und gerade das musste ich ihm für seine Sicherheit verwehren.
Ich wusste nicht, wann ich, oder ob ich überhaupt jemals wieder, imstande war jemanden zu berühren. Das konnte ich ihm nicht aufbürden, er hatte eine richtige Freundin verdient, die ihm all das, was er wollte, geben konnte, die keine Mörderin war und die keine riesigen Geheimnisse vor ihm hatte, die die unsichere Zukunft verschleierten.

In diesem Moment beschloss ich, meine eigenen Wünsche zurückzustellen und mich von ihm fernzuhalten, damit er glücklich werden konnte, denn eigentlich war sein Glück alles, was ich wirklich wollte, selbst wenn es nicht in Verbindung mit mir stand und wenn ich ihn mit einer Anderen sehen musste.
Ich schluclte hörbar und quälte mich durch die schrecklichen Worte.
'Ich glaube, dass das zwischen uns keine gute Idee ist. Wir sollten Schluss machen.'
Er klappte überrascht den Mund auf,  so als wollte er etwas sagen, klappte ihn dann aber wieder zu.
Er hatte wohl mit allem gerechnet außer mit diesem Satz.
'Aber wieso?', fragte er verwirrt und sah mich durchdringend an, 'Ich bin sicher, dass wir das, was auch immer es ist, gemeinsam überstehen können.'
Ich verkniff mir ein kaltes Lachen.
'Nein, das können wir nicht. Manche Sachen kann man nicht einfach überwinden.'
Manche Dinge waren ein fester Teil des Lebens, waren wie durch hartnäckigen Klebstoff an einem befestigt und in meinem Fall unverzeilich.

Luis Gesicht verzog sich schmerzhaft, sobald er meine hoffnungslosen Worte wirklich verarbeitet hatte und in seinen Augen sah ich einen glasigen Schimmer, während er mit sich rang.
Ich wusste nicht, ob er kurz davor war mich anzuschreien oder zu weinen, aber wenn es Letzteres war, dann war es das erste Mal seit ich ihn kannte und das würde ich jetzt nicht ertragen können.
'Es tut mir leid.' , sagte ich leise und ehrlich, wollte schon gehen, als er doch noch begann zu sprechen.
'Lass dir ruhig Zeit.
Ich warte auf dich.'
Das brachte mich dann doch noch aus der Bahn und ich hätte mich am liebsten gleich wieder in seine Arme geschmissen.
Wieso sagte er so etwas?
Wieso verschwand er nicht einfach, wenn ich meine Intention doch deutlich klar gemacht hatte?
Schon spürte ich wie neue Tränen in mir hoch kamen, doch ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen, musste stark sein für ihn.
Er konnte nicht immer auf mich warten. Vielleicht sagte er das jetzt, aber es war der falsche Weg.
Eine Beziehung die auf Lügen aufgebaut war und in der wir uns nicht Berühren konnten, würde nur noch mehr Schmerzen bereiten.
Luis sollte glücklich werden und mit mir an seiner Seite standen die Chancen wirklich schlecht.
Ich würde ihn von dem Glück abhalten, das er wirklich verdient hatte und sein Glück war mir hundert Mal wichtiger als mein Eigenes, welches durch die schauderhafte Nacht bereits ins Ungewisse geworfen wurde.
Ich könnte mir nie verzeihen, ihn zu verletzen.

'Ich denke, dass es besser für uns Beide ist, wenn wir Abstand halten. Vergessen wir unsere Beziehung einfach. Das ist wohl das Beste.', sagte ich emotionslos, drehte mich um und ließ ihn stehen.
Immer weiter entfernte ich mich von ihm, meine Lippen zitterten und eine Welle der Kälte durchfuhr mich, als mein Herz zerbrach.
Es war aus und vorbei.
Ich hatte es verstört, war wieder einmal der Bösewicht. Vielleicht war es ja das, was das Schicksal für mich geplant hatte.
Die Kette, die er mir geschenkt hatte, schien an meinem Hals zu pulsieren, aber diesmal war sie kalt und ihr wärmendes Feuer war erloschen.
Alles in mir drängte mich zu ihm zurückzurennen und ihn zu umarmen, aber das konnte ich nicht tun. Es war nun mal nicht mehr wie früher und meine Entscheidung war eindeutig richtig gewesen.
Vielleicht würde ich das in ein paar Wochen einsehen.
Sobald ich um die Ecke gebogen war, liefen mir die ersten Tränen an den Wangen hinunter.
Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten, alle Dämme brachen, bis ich blind vor Tränen über den Platz humpelte.

***

Und so vergingen mehrere Tage.
Ich versuchte einfach weiterzumachen und an nichts zu denken, an schwarze Leere zu denken.
Meine Nächte waren gefüllt mit schrecklichen Albträumen und die Tage vergingen, ohne dass ich irgendetwas von ihnen mitnahm. Meine Gefühle hatte ich hinter eine riesige Mauer in meinem Inneren geschlossen.
Ich ließ sie nie heraus.
Äußerlich war ich weiterhin an allem interessiert, strengte mich in der Schule an und lachte sogar ab und zu mit Jen.
Trotzdem hielt ich Abstand von  jedem, der mir zu Nahe kommen konnte und ich hatte ständig Angst davor, was passieren würde, wenn meine Kräfte wieder die Kontrolle übernahmen.
Also ließ ich einfach alle Gefühle, Sorgen und freundliche Worte an mir abprallen, isolierte mich.
Über das Ereignis, den Wendepunkt in meinem Leben, verlor ich kein Wort mehr, bis meine Tante mich ein paar Wochen nach der Nacht, die mein ganzes Leben zerstört hatte, zu sich bat.
Ich klopfte an ihre Tür und wartete darauf, dass meine Tante öffnete, doch derjeniege, der mich begrüßte war nicht Mrs. Infusio.
Es war ein älterer Mann.
Sein rundes Gesicht kam mir nicht bekannt vor, also tat ich seine einladende Armbewegung einfach mit einem höflichen Nicken ab und trat ein.
Der ganze Rat sah mich erwartungsvoll an.
Das hier konnte nichts Gutes bedeuten.
'Nia, da bist du ja. Setz dich doch.', schlug meine Tante vor, man sah ihr jedoch an, dass sie sich nicht wohl fühlte.
Unter dem strengen Blick des alten Mannes setzte ich mich auf den letzten freien Stuhl am Rande des Rates und durchsuchte achtsam den Raum nach irgendwelchen Gefahren, obwohl ich hier schon so oft gewesen war.
Schließlich klärte mich Mr. Wieland mich über den fremden Besuch auf. 'Das hier ist Mr. Janke, vom New Yorker Geheiminstitut für Rituale und Pläne der Ausgeschlossenen.'
Und so etwas gab es?
Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was dieser Mann von mir wissen wollte.
Mr. Janke nickte mir lächelnd zu, wollte wohl einen guten ersten Eindruck hinterlassen, um mich gleich schneller zum Reden zu bewegen.
'Und was hat das mit mir zutun?', fragte ich argwöhnisch und mit regungsloser Miene.
'Nun ja.', setzte Mr. Janke mit sachlicher Stimme an,
'Wir müssten für die Sicherheit aller Gewählten ein paar Informationen über die Nacht bekommen, in der nur sie und die Ausgeschlossenen sich auf dem Platz des bevorstehenden und anscheinend ja nicht ausgeführten Rituals befanden.'
'Nein.', sagte ich stur und der Rat sog zischend Luft ein. Er konnte mich kaum zum Reden zwingen.
Dann verschränkte ich die Arme vor der Brust und presste die Lippen aufeinander.
Immer wenn es um die Nacht des dunklen Rituals ging, machte ich dicht, denn niemand sollte über diese Geschehnisse und meine Tat erfahren.
Außerdem konnte ich wirklich nicht darüber reden, ohne dass meine Mauer Löcher bekam, und das galt es in jedem Fall zu vermeiden.
'Bitte, Nia. Ich weiß, dass es dir schwer fällt, aber Mr. Janke braucht nur ein paar grobe Infos.
Wir würden ihn dir nicht vorsetzten, wenn es nicht wichtig wäre. ', flehte mich meine Tante an.
Sie hegte keinesfalls schlechte Absichten. Das würde sie nie.
Ich seufzte leise, sah mit zusammengekniffenen Augen Mr. Janke an und wartete skeptisch.
'Was genau wollen sie wissen?'

Er nickte mir anerkennend zu, doch seine höflichen Reaktionen prallten weiterhin an mir ab.
Ich würde mich ihm nicht öffnen, wenn mir seine Fragen nicht gefielen. 'Zuerst würden wir gerne wissen, was für ein Ritual Gabe Hanwen geplant hat.', sprach Mr. Janke vorsichtig und auf jedes seiner Worte bedacht.
Ich antwortete ihm und versuchte dabei hartnäckig, die Erinnerungen an diese eine Nacht zu verdrängen. 'Es ging um ein Ritual, mit dem er jedem die Magie rauben kann.
Damit will er über die Gewählten siegen.'
Alle im Raum sahen mich erschrocken an.
So etwas hatten sie nicht erwartet. 'Und er hat das Ritual weshalb nicht ausgeführt? ', fragte Mr. Janke nun direkt und tippte dabei unruhig mit seinem Kuli auf die Tischkante.
'Ich glaube, dass er die meisten Artefakte für das Ritual noch besitzt. Er hat sie mitgenommen. ', wich ich seiner Frage aus und Mr. Wieland schüttelte mit bösen Vorahnungen den Kopf.
'Also gab es einen Kampf aus dem er fliehen konnte. Oder habe ich das falsch verstanden?', fragte Mr. Janke nun und hob dabei die buschigen Augenbrauen.
'Naja, es gab einen indirekten Kampf.', wiegelte ich gesperrtes Gebiet ab, doch natürlich hackte er nach. 'Es waren also noch andere Gewählte da?'
Ich schenkte ihm einen bösen Blick, weil er endlich aufhören sollte.
'Nein, ich war allein.'
'Aber wie haben sie das geschafft, die Ausgeschlossenen zu überwältigen?'

'Ich habe sie mit einer Illusion getäuscht. ',sprach ich vage die Notantwort aus, die ich mir bereits vor ein Paar Tagen zurechtgelegt hatte.
Mr. Janke nickte, als hätte er vermutet, dass ich das sagen würde. Trotzdem schlichen sich Zweifel in seine nächste Frage.
'Aber wieso waren mehrere Tote auf dem Platz?'
'Ich habe sie mit Illusionen dazu aufgewiegelt, sich gegenseitig zu bekämpfen.' , log ich.
Meine Tante nickte mir anerkennend zu, was ich jedoch nicht wirklich wahrnahm.
Ich hatte diese Sätze mehrere Male vor dem Spiegel geübt, falls es zu einem solchen Gespräch kommen sollte. Nun saßen sie perfekt, das konnte ich dem Gesicht meines Gegenübers ansehen, zumal er mir ganz sichtlich glaubte.

Dann war seine Aufmerksamkeit auf einen neuen Punkt gerichtet.
'Und die tote Gesine Hanwen?' Seine Frage brachte mich völlig aus dem Konzept, als Bilder unseres Kampfes durch meinen Kopf schossen und schließlich auch der Moment, in dem ich sie herzlos umgebracht hatte. Diesmal kamen die Bilder von mir und nicht von Gabe Hanwen.
Ich presste meine Zähne fest aufeinander, um einen Würgereiz zu unterdrücken.
'Ich habe jetzt genug fragen beantwortet.', stellte ich fest und stand auf.
Mr. Janke erhob sich mit mir.
Sein forschender Blick ließ mich noch einen Moment verharren.
'Sie haben sie umgebracht.', meinte er und es war ganz klar eine Feststellung.
'Wir haben gekämpft. ', meinte ich ausweichend und ging einen Schritt auf den Ausgang zu, weg von ihm.
Er hielt mich fest.
Bei der Berührung konnte ich seinen hartnäckigen, olivgrünen Lebensgeist spüren, der stark in ihm pulsierte.
Ich zog meine Hand zurück, als hätte ich mich an ihm verbrannt, bevor meine Kraft zuschlagen konnte.
Jetzt nicht daran denken, Nia.
Immer mit der Ruhe.

'Sie haben also...', setzte Mr. Janke ohne umschweifen an, als ich ihn unterbrach.
'Ich bin hier fertig und jetzt lassen sie mich gefälligst in Ruhe!'
Ich hatte ihn fast angeschrien und das ziemte sich für eine Schülerin ganz und gar nicht, aber er hatte es herausgefordert.
Bevor ich noch irgendeinen anderen Gedanken fassen konnte, riss ich die Tür auf und lief hinaus.
Nichts funktionierte mehr seit der grauenvollen Nacht, alles ging schief.
'Nia, warte doch. Niemand macht dir Vorwürfe.', rief mir meine Tante hinter her.
Klar, weil sie alle dachten, dass ich nur eine einziege Person und das in einem Missgeschick umgebracht hatte. So war es aber nicht gewesen.
Sie kannten nicht diese kalte Seite von mir.
Bevor ich am Ende des Ganges angekommen war, drehte ich mich noch einmal zu ihr um.
Meine Stimme war deutlich und ernst.
'Vergessen wir das hier einfach.' Damit war mein nächster Abgang erfolgreich gesichert.

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