Kapitel 24
Ein winzig kleiner Sonnenstrahl bahnte sich kämpfend einen Weg durch das bunte Fenster der Bibliothek, wollte einfach nicht aufgeben, bis er an sein Ziel kam.
Dadurch schimmerte das Licht beim Eintritt in den hochgewölbten Raum in allen Farben des Regenbogens, schien hell wie ein Hoffnungsschimmer, der mich aufwärmte und sich langsam einen Weg in meinen Körper bahnte.
Die Stimmen der anderen Schüler verschwanden im Hintergrund und wurden zu einem leisen, fast kaum hörbaren Tuscheln, als ich mich lediglich auf mich selbst konzentrierte, tief ein und aus atmete und alles andere einfach ausblendete.
Leider war es immer noch greifbar, denn ich spürte das ahnende Ziehen in mir viel stärker als sonst.
Meine Kraft wollte den Käfig zerbrechen, jetzt wo es wusste, was vor ihm lag, doch ich konnte es nicht. Dafür waren die Wände zu dick und es war mir zu kalt, um mich auch nur einen Millimeter zu rühren.
Um mich abzulenken, fixierte ich mit meinem Blick den hellen Holzboden, der durch einen größtenteils durch einen großen, braunen Teppich bedeckt war.
Jack hatte mir geraten mich einen Moment zu entspannen, nicht an das Gefühl des Eingesperrtsein zu denken und mich nur auf meine Atmung zu konzentrieren, was mir wirklich geholfen hatte.
'Ich habe es zum ersten Mal ganz hervorgerufen, noch nie habe ich es so stark gefühlt.
Es war kalt und eng und einfach schrecklich.'
Ich schluckte hörbar den Kloß in meinem Hals hinunter und Jack legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter, wie es meine Tante bereits heute morgen getan hatte.
Ich war wirklich froh, dass mir jemand in diesen schwierigen Zeiten half.
'Wie hast du es so lange zurückhalten können?', fragte er leise und schüttelte scheinbar unbewusst den Kopf.
Natürlich hatte ich keine Antwort, denn ich wusste nichts von all dem.
'Ich weiß es nicht, es war immer in meinem Hinterkopf verborgen, einfach verdrängt.'
'Nun gut, geht es wieder?'
Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, überprüfte, ob die negativen Gedanken und Gefühle noch da waren.
Tiefe Schwärze.
Sonst war da nichts.
'Okay.', meinte ich langsam, presste die Zähne zusammen, und sah wieder Jack an.
Er hielt meinem Blick mit seinen dunklen Augen stand und ich wusste nicht, wie lange wir hier saßen.
Es kam mir nur vor, als würden wenige Sekunden vergehen, es könnte aber auch eine Minute abgelaufen sein.
'Ich habe mich früher oft einsam und ziemlich unfähig gefühlt.
So eine Blockade kann ganz schön verwirrend sein.'
Das wusste ich, diese Emotionen kannte ich nur zu gut. Gedankenverloren zwirbelte ich eine meiner langen, hellbraunen Haarsträhnen um meinen Finger.
'Eine Blockade ist wie ein Vorhängeschloss vor deinem Herzen. Den aus dem Herzen stammt die Magie. Bei dir, und früher auch bei mir, ist die Magie eingesperrt.
Sie kann nicht raus, weil ihr etwas fehlt. Dieses etwas musst du entdecken.'
'Und was war es bei dir?', fragte ich immer noch unsicher, worauf er leicht lächelte.
'Mir fehlte etwas ganz Einfaches, die Antwort ist meist leichter als du denkst. Es war ein Freund.
Weißt du, ich hatte nie einen echten Freund, habe mich immer zurückgezogen.
Ja, die meiste Zeit verbrachte ich allein. Ich fühlte mich nicht von den anderen Verstanden.
Vielleicht kam das daher, dass meine Eltern sich schon früh bei einem Streit um mich getrennt hatten.
Sie waren beide auf ihre Weise da gewesen, körperlich anwesend, aber niemand hatte sich wirklich um mich gekümmert und ich war es gewohnt allein zu sein.'
Ich konnte nur schweigen, während Jack mir etwas so persönliches erzählte und kurz glitzerten Tränen in seinen Augen, die er tapfer weg blinzelte.
Es schien ihn zu beruhigen, sich alles von der Seele zu reden.
'Dann traf ich Pete.', das Lächeln wollte nicht mehr von seinem Gesicht verschwinden, blieb starr an seinen Mundwinkeln hängen,
'Schon bald erkannte ich, dass ein einsames Leben sich nicht lohnte, weil man Freunde und deren Unterstützung in jedem Fall braucht und ich nahm ihn als meinen besten Freund an.
Genau dann zerbrach meine Blockade, ich fühlte mich frei und hatte endlich meine Magie erlangt.
Pete und ich sind unser ganzes Leben lang Freunde gewesen. '
'Und jetzt?', fragte ich in der Hoffnung Jacks Freund kennenzulernen, doch der alte Bibliothekar senkte ehrfürchtig seinen Kopf.
'Er ist letztes Jahr gestorben.
Nun ruht er in Frieden.'
Ich blickte ebenfalls zu Boden und es tat mir leid, dass ich ihn darauf angesprochen hatte.
Es musste schrecklich sein, seinen besten Freund zu verlieren, der einem den Weg zur Magie gezeigt hatte, denn die Beiden mussten darauf aufbauend eine ganz besondere Beziehung gehabt haben.
Ich konnte mir schon jetzt nicht mehr vorstellen ohne Jen zu leben und ich kannte sie gerade einmal ein paar Wochen.
Alleine würde ich ganz bestimmt nicht auf dieser Schule zurechtkommen.
Pete und Jack kannten sich mehrere Jahrzente, eine unglaublich lange Zeit.
'Es tut mir leid.', flüsterte ich zaghaft. Jack machte eine abwertende Handbewegung, aber ich sah den Schmerz in seinen Augen als er sprach.
'Pete hatte ein gutes Leben.
Ich weiß, dass er nichts bereut hat.' Eine Pause entstand.
Wahrscheinlich widmete Jack diese seinem besten Freund, sodass ich ihm die Zeit dafür gab.
'Aber kommen wir wieder zu dir. Fehlt dir etwas? Oder vermisst du etwas?'
Mir fiel beim besten Willen nichts ein. Ich hatte eine gute Freundin,
Jen war wirklich perfekt in ihrer Rolle.
Meine Mutter fehlte mir sehr, doch sie würde nie wieder bekommen.
Brauchte man sonst noch jemanden?
Ich hatte keinen blassen Schimmer, was mir fehlte.
Jack musste doch noch einen anderen Tipp haben.
Zweifel nagte an mir, ich verzog unsicher das Gesicht und Leere schwebte durch meinen Kopf.
'Keine Ahnung.', murmelte ich nachdenklich.
Ich versuchte fieberhaft mir wichtige Erinnerungen oder Menschen, die mir etwas bedeuteten, bildlich vorzustellen, doch je mehr ich nachdachte, desto mehr verwoben sich meine Gedanken zu einem unentwirrbaren Knäul.
'Das tut mir leid. Ich kann dir nicht genau sagen, was dir fehlt, so sehr ich es auch will.', redete mir Jack gut zu, schüttelte seine übriggebliebene Trauer ab und stand langsam auf. Seine Hand stützte er dabei stark auf dem kleinen Holztisch ab.
So alt und zerbrechlich wirkte er sonst nicht.
Die Trauer um seinen Freund schien ihm zuzusetzten.
'Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Bis bald.', sagte er kontrolliert ruhig und ließ mich alleine, wobei ich mir sicher war, dass er seinen Schmerz vor mir verbergen wollte.
Nun hatte ich jedoch das Gefühl, dass ich ihm mehr geholfen hatte, als er mir, was mich leise seufzen ließ.
Bei ihm mochte die Blockade durch Freundschaft zerbrochen worden sein, doch so einfach konnte es für mich natürlich nicht sein.
Mit mechanischen Bewegungen setzte ich mich umständlich in den Schneidersitz, packte meine Hausaufgaben aus und fing an, die Blätter zu bearbeiten.
Dabei drifteten meine Gedanken immer wieder ab, sodass nach der Beendigung meiner Aufgaben am Rand des Heftes einige Kritzeleien von Schneeflocken und Käfigen entstanden waren.
Mein Blick fiel auf die große, schwarze Uhr.
Das Training mut Luis.
Ich hatte es fast vergessen.
Schnell wie der Blitz packte ich meine Sachen ein und rannte aus der Bibliothek.
Hoffentlich kam ich nicht zu spät, was aufgrund der Tatsache das es in einer Minute begann, unumgänglich zu sein schien.
Luis würde mich umbringen.
***
'Du bist fast eine Viertelstunde zu spät.' , stellte Luis mit herablassender Stimme fest und schaute nicht einmal auf, als ich die Sporthalle betrat.
'Es tut mir leid.', murmelte ich ehrlich, wollte nicht streiten.
Dann lieber ein extra hartes Training.
Niedergeschlagen von diesem Tag warf ich meine Sporttasche auf den Boden und die Flasche kippte heraus und rollte über den Boden.
Ich hob sie wieder auf und warf sie noch heftiger in die Tasche zurück.
Luis sich lamgsam um.
Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, sodass mir der Atem stockte.
'Bist du okay?', fragte er und musterte mich von oben bis unten.
Diese Musterungen war ich so satt und das Einziege, was mich von dem plötzlich aufkommenden Drang ihn anzuschreien abhielt, war das angenehme Prickeln auf meiner Haut, dass er überall da, wo er hinsah, verursachte.
'Mir ging es schon besser.' , gab ich zu.
'Bist du fit genug?', fragte Luis ohne den leisesten Anschein einer Emotion. Grundlos sauer ging ich zum Boxsack und ignorierte seine Frage.
'Ich wärme mich schon mal auf.'
Ich positionierte mich agressiv vor meinem imaginären Boxsackgegner, denn in diesem Moment wollte ich einfach nur draufhauen.
Jeden Ausgeschlossene, der sich mir in den Weg stellen würde, hätte ich ohne mit der Wimper zu zucken zu Kleinholz verarbeitet.
Nur beim Kämpfen konnte ich meine angestaute Frust richtig verarbeiten.
Ich spannte meinen Körper an und atmete tief die warme Luft ein, um sie in einem heftigen Schlag herauszulassen.
Der Boxsack flog schräg nach hinten, aber ich ließ meine Schläge einfach weiter auf ihn einprasseln.
Erbarmungslos.
Ohne zu überlegen.
'Du bist nicht du selbst.', murmelte Luis, doch ich hörte ihm nicht zu. Meine Schläge waren zu laut und ich verlor mich darin, fühlte mich auf gewisse Weise darin geborgen, weil sie mich von meinen Problemen ablenkte.
Ich merkte nicht einmal, wie Luis sich näherte, bis ich seine starken Arme um mich herum fühlte.
Sie hielten meine Schläge auf und ich ließ mich, ohne darüber nachzudenken, in ihn hineinsinken. Meine Augen fielen fast ohne mein zutun zu.
Das machte aber auch keinen Unterschied, denn durch die Tränen, die mir von der Wange tropften, konnte ich sowieso nichts sehen.
Ich drehte mich um und verbarg mein Gesicht in Luis T-Shirt.
Es war mir egal, dass das falsch war.
Es war mir egal, dass ich schwach wirkte.
Es war mir völlig egal, was er von mir dachte.
Ich weinte bitterlich wegen so vielem oder auch einfach Nichts und er strich mir beruhigend über den Rücken.
'Du kannst nicht alles alleine bekämpfen, Nia. Niemand kann das.', flüsterte er mit rauer Stimme.
So sanft hatte ich ihn noch nie erlebt.
'Ich stehe immer hinter dir.', hörte ich seine Stimme, wie von weit weg, vielleicht war es auch nur Einbildung.
Ich schniefte laut und versuchte die Tränen wegzublinzeln, doch es gelang mir nicht.
Nach einer Weile schob er mich zur Seite und drückte mich behutsam auf eine der großen Matten, als wäre ich etwas Kostbares.
Er setzte sich schweigend neben mich, sodass die Matte leicht unter seinem Gewicht einsank, bis meine Tränen endlich getrocknet waren.
Ich fühlte mich ausgelaugt.
'Rede mit mir, wenn es dir schlecht geht.', forderte Luis und ich drehte meinen Kopf weg, weil mir eben doch nicht alles egal war, dass das nur zerbröckelte Fassade war.
Was würde er nur erst von mir denken, wenn er wusste, dass ich nur wegen Albträumen und kleinen Alltagsproblemen weinte?
Es gab so viele Menschen, denen es schlechter ging als mir, und trotzdem heulte ich hemmungslos vor ihm rum.
Seine Hand schon meinen Kopf wieder in seine Richtung.
'Bitte.', sagte er leise und unsere Augen trafen sich.
Blau. Der Himmel. Endloses Blau.
Ich konnte keine klaren Gedanken mehr fassen, denn diese Augen kontrollierten mich, steuerten meine Gedanken in eine ganz Neue Richtung.
Wenn ich mich nicht ihm anvertraute, wem dann?
Ich formte eine Faust mit meiner rechten Hand und ließ sie wieder locker.
'Ich finde meine Kraft nicht', krächzte ich mit heiserer Stimme, 'und ich habe immer noch Albträume.'
Luis nickte verständnisvoll.
'Sie müssen schrecklich sein.'
Oh, das waren sie.
'Willst du mir davon erzählen? '
Ich schüttelte stur den Kopf.
'Nein.'
Er war ja nicht mein Psychologe oder so.
Luis fuhr sich durch die rabenschwarzen Haare.
'Mann, Nia, hörst du nir überhaupt zu? Du kannst nicht all deine Probleme alleine lösen.
Vertraust du den denn Niemandem?' Meiner Mutter hatte ich vertraut.
Sie war immer für mich da gewesen, wenn es mir nicht gut ging. Manchmal hatten wir stundenlang am Kamin gesessen, Schokolade gegessen und geredet.
Bei ihr konnte ich wirklich alles loswerden, was mir auf dem Herzen lag.
Jemand Anderes sollte nicht wissen, wie schlecht es mir ging, denn im Endeffekt machten sie sich nur irrelevante Sorgen.
'Ich werde nicht gehen, bevor du mir nicht davon erzählst.'
Er bluffte.
'Das ist mein voller Ernst und ich kann handgreiflich werden.', versprach er mir sauer.
Fast musste ich über diese Drohung lächeln.
Irgendetwas von meiner Sturheit hatte wohl auf ihn abgefärbt.
Eine Weile saßen wir schweigend da, bis ich die Stille nicht mehr aushalten konnte.
'Ich träume oft von meinem Spiegelbild.'
Er sah ehrlich verwirrt aus, hätte wohl alles erwartet außer das.
Jetzt dachte er endgültig, dass ich in die Irrenanstalt gehörte, aber es gab kein Zurück mehr.
Entweder Alles oder Nichts.
'Mein Spiegelbild kommt aus dem Spiegel, um mich umzubringen. Es zeigt mir alle meine schlechten Seiten, meine Fehler, meine Schwächen.
Meine Freunde scheinen mich zu hassen, sie schreien mich an.
Dann sehe ich riesiege Kämpfe, die vor uns liegen. Es ist...'
Die Zukunft? Ich wagte nicht, es auszusprechen.
'Jeder, der mir wichtig ist, stirbt.
Mein Herz zerbricht ganz langsam wie bei einer innerlichen Folter.
Ab und zu werde ich selber gefoltert, manchmal fliehe ich vor etwas, vor der Dunkelheit.
Manchmal weiß ich, dass es ein Traum ist, manchmal nicht, doch es wirkt immer so echt.
Ich kann meine Schmerzen nicht zurückhalten, egal wie sehr ich will. ' Eine weitere Träne lief mir die Wange hinunter und tropfte laut auf den schmutzigen Hallenboden.
'Und dieser Mann. Er will mich vernichten. Mit allem, was er hat. Und...', meine Stimme stockte nur kurz, weil die Worte nun unkontrollierbar aus mir heraus sprudelten.
'Tagsüber habe ich schon genug Probleme mit Angriffen, meiner Kraft oder dem einfachen Leben, aber jeder Gedanke führt wieder zu meinen Träumen. Alle sagen mir immer, dass ich so stark bin, aber das stimmt nicht.
Ich bin schwach. Ich kann nicht unter diesem Druck stehen und das ist das Schlimmste daran.'
Dann schmeckte ich metallisches Blut, hatte mir unbewusst auf die Lippe gebissen, um meinen Redeschwall zwanghaft zu unterbrechen.
Nur durch Luis Wärme konnte ich mich noch aufrecht halten, denn bei meinen Worten hatte Luis mich irgendwann in die Arme genommen. Dabei war ich mir bewusst, wie selbstmitleidig ich klang. Ich dachte immer nur an nich.
Wie ein Häufchen Elend lag ich in seinen Armen.
'Diese Träume...
Sie werden weggehen.
Vertreibe sie mit deinem Willen, sei so stark, wie wenn du kämpft und gebe bloß nicht auf, so etwas braucht Zeit.
Und weißt du, wieso jeder zu dir sagt, dass du stark bist?'
Ich schüttelte an seiner Schulter den Kopf.
'Weil du es bist. Du glaubst nicht an dich, aber wir Anderen schon, zu Recht.'
Leise schnaubte ich, widersprach ihm aber nicht, weil ich wusste, dass es keinen Sinn hat.
'Damit du weißt, dass wir immer bei dir sind, möchte ich dir etwas geben.' Er wühlte in seiner Tasche und zog seine geschlossene Hand dann wieder heraus.
Mein Herz machte einen großen Satz und neugierig sah ich auf seine Hand, streckte dann meine Eigene aus, um sie mit aller Kraft zu öffnen.
Natürlich gehabt es mir nicht, denn er war zu stark, lächelte nur belustigt.
'Ich habe es immer bei mir getragen, seit meine Mutter gestorben ist.
Es war ihres und sie sagte, ich solle es der Person geben, die es am meisten braucht, die Kraft braucht, um weiter zu machen.
Einer besonderen Person.'
Er schluckte, wobei sich sein Adamsapfel heftig nach unten bewegte.
Ich schüttelte abwehrend den Kopf, konnte so ein Geschenk nicht annehmen, und war gleichzeitig überrascht, dass er mir so etwas persönliches über seine Familie erzählte.
'Du musst mir nichts aus Mitleid schenken.', murmelte ich und strengte mich an, meine Stimme fest klingen zu lassen.
Fast sah es so aus, als würde Schmerz in seinen endlosen, blauen Augen aufblitzen.
'Das ist kein Mitleid, du brauchst es und ich kann damit nun wirklich nichts anfangen.'
Bevor ich widersprechen konnte, fasste er rasch um meinen Hals herum und schloss eine Kette in meinem Nacken.
Seine Fingerspitzen verursachten ein Kribbeln auf meiner Haut und ich konnte erst wieder klar denken, als er seine Hände von meinem Hals wegnahm.
Die kurze Kette fühlte sich merkwürdig warm auf meinem Schlüsselbein an.
Es war eine kurze Lederkette mit einem kleinen Stern daran, der in einem wunderschönen, matten und unauffälligen Goldton glänzte.
Ich schaute beeindruckt auf den Anhänger und wusste automatisch, dass ich ihn von jetzt an immer bei mir tragen würde.
'Sie ist unglaublich schön!', hauchte ich leise.
'Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.', sagte Luis und musterte mich mit schräggelegenem Kopf,
'Und wenn du sie ansiehst, dann denke daran, dass du nie alleine bist. Deine Freunde stehen immer hinter dir. '
'Wie kann ich dir nur dafür danken?', fragte ich immer noch von seinem Geschenk überrumpelt.
'Hast du schon.', sagte Luis schlicht und eigentlich wollte ich ihn danach fragen, doch er war schon aufgestanden und hielt mir eine Hand hin, damit wir anfangen konnten, zu trainieren.
Ich lächelte glücklich und vergaß meine Probleme für ein paar Minuten.
***
Wir gingen gemeinsam den Kiesweg entlang, die Sonne war bereits untergegangen und die Nacht färbte alles tiefschwarz, sodass man nicht mal mehr die eigene Hand vor Augen sehen konnte.
Einzelne Sterne blitzten golden über uns, erinnerten mich an mein Geschenk, doch der Mond war nicht zu sehen und es war kalt geworden. Ich rieb mir meine Schultern, um die Kälte zu vertreiben, die frostig in mir hochkroch, aber nicht mein Herz erreichen konnte.
Das warme Gefühl, dass nicht nur der Kampf, sondern vor allem Luis bei mir verursacht hatte, war noch nicht verflogen und die kurze Kette mit dem Sternenanhänger baumelte frölich an meinem Hals.
'Na dann.', sagte Luis leise und ich schaute verwundert auf.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir bereits vor meinem Wohnheim standen, hatte nicht gemerkt, dass wir schon angekommen waren.
Unsere Blicke trafen sich für einen winzigen Moment und ich konnte mich nicht davon lösen.
Schließlich fing er an zu sprechen, aber nicht das, worauf ich gehofft hatte. 'Schlaf gut, Nia.'
Er drehte sich einfach um und verschwand in der Dunkelheit.
Ich stand nur da, kaute auf meiner Lippe und suchte die Dunkelheit nach seiner Gestalt ab, die natürlich nicht mehr auftauchte.
Ich musste eine ganze Weile dort gestanden haben, als plötzlich ein lautes, hohes Jaulen die Nacht durchschnitt.
Es war kurz still, bevor es erneut erklang und es war irgendwie vertraut.
Ich riss die Augen auf, erkannte ihn.
Das war mein Fenriswolf.
Sofort war ich wieder hellwach und im nächsten Moment lief ich schon los, was mehr ein Instikt als mein Wille war.
Ich musste einfach zu ihm, weil ich genau wusste, dass er mich suchte.
Meine Schritte klangen laut auf der Straße, hallten an den Wändern der Wohnhäuser wieder und verklangen dann in der Nacht.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, sodass ich schneller lief.
Wie konnte ich nur unbeobachtet hier rauskommen?
Im nächsten Moment fiel mein Blick auf eine alte Schaufel, die im winzigen Gemüsegarten am Rand des Zaunes lag.
Wahrscheinlich war das, was ich hier machte dumm, aber darauf achtete ich nicht, denn es gab so etwas wie ein unsichtbares Band, dass ich immer fühlte, wenn einer meiner Liebsten in der Nähe waren.
Es mochte nur Einbildung sein, aber ich mochte dieses verbundene Gefühl.
Und beim Fenriswolf fühlte ich es auch, als wäre er ein Teil meiner Familie.
Mit einer Hand umklammerte ich die Schaufel, rannte zur Hecke und kniete mich nieder.
Ich begann einfach zu schaufeln, grub die Erde weg und schleuderte sie hinter mich, bis ein kleines Loch entstand.
Ich brauchte lange, bis es größer wurde, arbeitete immer schneller, immer eifriger.
Der Spion würde sich sicher über meine Arbeit freuen.
Endlich war das Loch breit genug, dass ich mich halbwegs hindurch zwängen könnte.
Zufrieden warf ich die Schaufel weg und kroch durch das enge Loch.
Meine Klamotten wurden von der Erde schmutzig und die Zweige des Busches kratzten mir über das Gesicht, aber das störte mich nicht.
Nachdem ich mich aufstellte und mir die Erde von den Klamotten geklopft hatte, atmete ich die kalte Luft ein, die nach Tannen und Kiefern roch. War das richtig, was ich hier machte? Sollte ich nicht lieber umdrehen?
Ein weiteres Heulen schien mich zu rufen und mir den Weg zu weisen.
Jetzt klang er irgendwie verängstigt.
"Schneller" hörte ich Elysias glockenhelle, klare Stimme in meinem Kopf und ich legte wirklich noch einmal an Tempo zu.
Von weitem konnte ich schon das Licht von Taschenlampen durch den Wald schimmern sehen.
Eine böse Vorahnung schlich hartnäckig an mir hoch und meine Hand schoss automatisch zu meinem Stiefel, um den kleinen Dolch herauszuziehen.
Dann duckte ich mich hinter einen großen Stein, um die Situation besser zu überblicken.
'Ha, wir haben dich, du Monstrum!', rief eine gehässige Stimme und irgendjemand lachte mit dunkler Stimme.
Meine Kiefermuskeln spannten sich an. Er war alles, aber kein Monstrum.
Möglichst unauffällig schaute ich hinter dem Stein hervor und erblickte vier Männer, die meinen Fenriswolf umkreist hatten.
Ich konnte nur ihre dunklen Umrisse erkennen, doch von ihnen allen ging der für die Ausgeschlossenen typischen Gestank aus.
Der Fenriswolf hockte winselnd in einem Netzt, das ihm irgendwie die Macht entzog und ihn leiden ließ.
Wie konnte man nur diesem armen Tier so etwas antun?
Wut erfüllte mich, stieg in mir auf und ich spannte meinen ganzen Körper an.
'Und jetzt Boss?', fragte einer der Männer mit seiner tiefen Stimme.
Ich konnte es nicht mit allen gemeinsam aufnehmen, also musste ich zuerst den Fenriswolf befreien.
Wenn er nicht in diesem Netz eingesperrt war, waren sie nur ein winziges Hindernis für ihn.
'Jetzt nehmen wir ihn mit.', erklärte der Mann voller Vorfreude, während ich zwischen den Bäumen umher schlich und bei jedem schmerzvollen Jaulen des mächtigen Tieres innerlich zusammenzuckte.
Sorgsam behielt ich meine Fassung und vermied jede Berührung mit einem Ast oder einem Zweig, die in Höhe meines Kopfes hingen.
Mein Herz pochte so laut, dass man es kilometerweit hören müsste, als ich mich neben dem Netz niederkauerte. Nun schien der Febriswolf mich zu bemerken, denn er Stieß einen knurrenden, dunklen Ton aus. Langsam und möglichst leise zerschnitt ich das Netz, das aus einem unbiegsamen, aber durchaus nicht unzerstörbaren Geflecht bestand.
Ich vermied es die Seile mit bloßen Händen anzufassen, weil es dem Fenriswolf so schadete, spürte aber eine beständige Hitze von ihm ausgehen.
Endlich zerschnitt ich das letzte Stück Seil an meiner Seite, als einer der Männer laut schrie.
'He, weg da!'
Ich wirbelte herum und sah grelle, hellgrüne Augen auf mich zukommen, die zu gefährlichen Schlitzen gezogen waren.
Ich schwang mich geschickt zwischen zwei Baumstämmen durch, um dem Feind zu entfliehen und blickte auf den Fenriswolf hinab.
Blut strömte aus einigen Wunden in seinem Fell.
In einem Moment schaute ich sie mir noch besorgt an und im nächsten standen die Männer um mich herum und starrten mich mit ihren grimmigen, mir drohenden Augen an.
Der Rest von ihnen verschwand im Schatten des Waldes.
Abwehrend hob ich meinen Dolch über meinen Kopf und hielt ihn schützend vor mich und der Erste griff bereits an.
Ich blockte geschickt und duckte mich unter einem Schlag Weg, ließ ich meine Füße über den kahlen, matschigen Boden schleifen und riss mein Bein zur Seite, sodass ich einen der Männer zu Boden riss.
Zum Glück waren es im Kämpfen keine besonders gut ausgebildeten Männer und mit einem gezielten Schlag löschte ich den ersten aus, achtete gar nicht dauraf, dass er an diesem Schritt sterben würde, weil ich mich nur auf meine Schläge konzentrierte, als mich plötzlich ein stechender Schmerz in der Wade druchzuckte.
Ich keuchte überrascht auf, hatte diesen Schlag nicht gesehen, was das Schlimmste war, das mir passieren konnte, denn es ließ mich unaufmerksam werden, und schon sprangen sie gleichzeitig auf mich zu. Ich wusste nicht wohin ich sollte, weil es keinen Ausweg gab, und blieb deshalb wie angewurzelt stehen, konnte ich schon den mächtigen Aufprall spüren, ein Schwert das sich auf grausamste Weise in mein Herz bohrte.
Dann tauchte ein weiterer Schatten in meinem Gesichtsfeld auf und eine riesige, graue Gestalt versperrte mir laut knurrend die Sicht.
Er schlug mit der unglaublichen Stärke seiner großen Tatze nach den Dreien, sie fielen alle blutend auf den Boden und es war vorbei.
Der Fenriswolf, wessen Wunden bereits vollkommen verheilt waren, drehte sich zu mir um und bickte mir mit seinem großen, zotteligen Kopf zu, blickte mich dankbar an.
Ich konnte mein eigenes, ebenfalls dankbares Gesicht im leuchtenden, gelben Feuer seiner Augen erkennen und streckte vorsichtig meine Hand aus um ihn zu berühren.
Er zuckte zurück.
'Alles okay.', flüsterte ich mit ruhiger Stimme und streckte meine Hand noch weiter aus, bis ich das weiche, graue Fell an seiner Stirn spüren konnte.
Sanft streichelte ich ihn.
Er ließ mich gewähren und schnurrte leise wie ein kleines Kätzchen, was mich zum Lachen brachte.
Wie konnte nur jemand denken, dass er gefährlich war?
Natürlich wurde der Fenriswolf wütend, wenn man ihn Angriff, wer auch nicht, aber sonst war er überaus gutherzig.
Nun streckte er sich mir entgegen und ich kraulte ihn fester.
Jede Faser meines müden, erschöpften Körpers wurde durch diese Berührung gestärkt, denn ich spürte seine Unbesiegbarkeit überall in mir, zähflüssig und doch angenehm.
Die Wunde an meinem Bein schien sich zu schließen und ein regenbogenfarbendes Licht seiner Macht umgab uns.
Es war, als würde dieses Licht in dunkler Nacht, dieses leuchtende, bunte Band uns Beide stärken.
Stärken für das, was vor uns lag.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top