Kapitel 22
Langsam schritt ich nach rechts und Hannes bewegte sich wie mein Spiegelbild, indem er langsam nach links trat.
Wir umkreisten uns, während er die Axt in seiner Hand lässig hin und her schwang.
Ich blendete den Rest der Halle aus, denn das war der beste Weg sich zu konzentrieren.
Sein Kopf zuckte nur kurz in meine Richtung bevor er lossprang, doch das reichte mir und ich wich rechtzeitig zur Seite aus.
Er wollte sich umdrehen, da schwang ich schon mein Schwert.
Es sauste auf ihn nieder, doch Hannes parierte mühelos und die Waffen schlugen aufeinander.
Wir warfen die Waffen hin und her, in der Erwartung zu treffen, doch der Gegner war immer da, um abzuwehren.
Schweißtropfen kullerten über meinen Rücken, dieser Kampf schien sich hinzuziehen wie Stunden und Hannes war von seiner Technik her im Vorteil.
Sein kurzes, dunkelbraunes Haar klebte an seiner Stirn, doch ansonsten schien er noch ziemlich fit zu sein.
Ich kämpfte erbittert weiter, verbot mir Fehler zu machen, weil sie mein Ende wären.
Dann trat er ein paar Schritte zurück und verschwand plötzlich.
Ich zuckte überrumpelt zusammen. Wo war er hin?
Meine Gedanken schweiften zu Yanschus Tarnerfähigkeit an. Natürlich, Hannes war auch ein Tarner.
In diesem Moment war ich überaus froh, dass ich für diesen Fall geübt hatte, denn nun war mein Vorteil, dass er selbstsicher war und dachte, dass ich schutzlos sei.
Voller innerer Ruhe schloss ich die Augen, ließ meine Kraft ausschweifen und der Raum um mich herum glänzte wie ein Regenbogen in verschiedenen Farbtönen.
Er war schwerer aufzuspüren als Yianschu, war ziemlich gut im Nutzen seiner Fähigkeit.
Beim Ausatmen der angehaltenen Luft entdeckte ich Hannes endlich.
Er näherte sich langsam und leise meinem Standpunkt.
Seine Aura schwappte in einem schlammigen, dunklen grün hinter ihm her, schien seine Tarnkraft gut darzustellen.
Diese Mischung aus dunklem Braun und Grasgrün kam immer näher auf mich zu, sodass ich lächeln musste.
Im nächsten Moment kam seine Axt auf mich zu.
Ich blockte geschickt, was nicht sehr schwer war, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich diesen Schlag kommen sehen würde, und mich mit dem Schlag natürlich auch nicht umbringen wollte.
Er wurde sichtbar und ich zog provozierend eine Augenbraue hoch, weil Hannes noch immer verblüfft wirkte.
Gleichzeitig hatte ich ihm mein Kurzschwert an seine Kehle gelegt.
'Wie hast du das gemacht?', fragte er überrascht, 'Das war ziemlich beeindruckend.'
Er legte mir lobend eine Hand auf die Schulter, was mich verlegen werden ließ.
'Danke. Ich hatte aber auch Hilfe. Eine Freundin hat mir beim Üben geholfen.' Hannes drückte seine muskulösen Schultern zurück.
'Das du das schon kannst, habe ich wirklich nicht erwartet. Luis hatte Recht.'
'Er hat Recht?', fragte ich neuguerig und blickte zu Hannes auf, nachdem ich mein Schwert zur Seite legte. Hannes sprach ruhig weiter und klemmte ebenfalls seine Waffe in die Vorrichtung an der Wand.
'Das du schnell Fortschritte machst, einfach weil du potential hast.
Du lernst wirklich schnell, einen Tarner zu erkennen braucht meist etwas mehr Zeit.'
'Achso.', antwortete ich gelassen und konnte einen zufriedenen Unterton nicht verbergen.
Ich strich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht, als er leise lachte.
'Luis hat momentan keine feste Freundin, hatte er schon lange nicht mehr.'
Ich blinzelte verwirrt, hätte nicht im Leben damit gerechnet, dass er dieses Thema zur Sprache bringen würde.
'Und? Was hat das mit mir zu tun?'
Er zuckte mit den Schultern.
'Nichts, ich dachte nur, ich erwähne es mal, falls du dich gefragt hast, ob er noch frei ist.'
Schnell schüttelte ich den Kopf, konnte aber die aufkommende Röte nicht verbergen.
'Nein', stellte ich mit klarer Stimme fest, 'Das interessiert mich nicht. Außerdem hat er doch sicher einige sinnliche Beziehungen, die man nicht mit dem Begriff "feste Freundin" umfassen kann.'
Hannes nickte und legte dann nachdenklich den Kopf schief, wusste genau worauf ich hinaus wollte.
'Ja, aber das ist nie etwas Ernstes, das kann man nicht vergleichen.'
Irgendwie war es komisch mit jemandem anderen außer Jen über dieses Thema zu reden, doch Hannes schien das lockerer zu sehen.
'Eine Freundin, mit der er keine körperliche Beziehung hatte, gab es auch schon lange nicht mehr in seinem Leben.', er grinste verschlagen, 'Er lässt die Frauen einfach nicht näher an sich heran.
Aber ihr beiden seid Freunde, du siehst gut aus, wieso sollte er da nein sagen.'
Ich schluckte laut, weil mein Hals aus einem mir unerklärlichen Grund staubtrocken geworden war, bevor ich ihm stur antwortete.
'Naja, dafür müsste ich ja erst einmal ja sagen und ich suche gerade nicht nach einer Beziehung.
Er ist mein Kampftrainer, vergessen?'
'Klar.', murmelte er mit rauer Stimme, 'aber Kämpfen kann manchmal ganz schön intim sein, man lernt den Anderen dadurch besser kennen und man kommt sie ziemlich nahe. Wie ich Luis kenne, wird er das früher oder später mal ausnutzen.'
Er zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich nickte langsam.
Ja, das hatte er schon ein oder zweimal, aber er war mir dabei nie unangenehm nah gekommen.
'Aber gut, ich muss jetzt gehen. Der Kampf hat Spaß gemacht.'
'Ja, das hat er.', erwiederte ich und grinste fröhlich, 'Vor allem der Sieg.'
Hannes verzog das Gesicht qualvoll zu einer Grimasse und verpasste mir dann einen Klapps auf die Schulter.
'Das nächste Mal wird das anders enden.', versprach er, drehte sich um und verließ den Raum.
Luis hatte wirklich einen guten Freund.
***
Die Dunkelheit bahnte sich einen Weg hinter mir her, verfolgte mich, jagte mich.
In Form von schwarzen Schatten flog sie auf mich zu und zerstörten alles, was sich ihnen in den Weg stellte.
Die Bäume verdorrten, die kleinen Häuser zerfielen zu Ruinen und die Menschen, die es nicht schafften vor ihr zu fliehen, krümmte sich zitternd am Boden. Die, die noch lebten, schrien und kreischten, als wäre der Teufel hinter ihnen her und vielleicht war er das ja auch.
Ich kannte die sterbenden Menschen, kannte sie alle und konnte ihr Leid kaum ertragen.
Jen, Mrs. Infusio, meine Mutter, Luis... Wieso mussten immer sie leiden? Tränen brannten mir in den Augen und ich hustete, als ich durch eine staubige Aschewolke lief, doch ich musste weiterrennen, dem unheilvollen Dunkel entkommen, auch wenn ich sie alle zurückließ, denn ich wollte nicht sterben.
Ich lief lange weiter, vergaß dass ich überhaupt lief und vergaß den Verlust meiner Freunde.
Der Boden unter meinen Füßen wurde zunehmend weich und erdig, die Bäume raschelten im heftigen Wind, der einen nhenden Sturm ankündigte und je weiter ich lief, desto mehr schien mich der Wald vor meinem Verfolger abzuschirmen.
Nur noch kleine, schwache Bäume verdorrten erbärmlich, während die großen Eichen und Tannen dem Druck stand hielten, sich gegen ihn aufräumen und mir ein wenig Schutz verschafften.
Ich sah zurück, hoffte, dass die Schatten mit der Zeit ganz verschwinden würden.
Nun wabberte hinter mir ein rauchiger, hellgrauer Nebel, der von leuchtenden, gelben Punkten durchzogen wurde.
Ich blieb stehen, als ih bemerkte, dass mich der Nebel eingekesselt hatte und versuchte vergeblich meinen Atem zu beruhigen.
Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und fuhr damit durch den Nebel. Unerwartet durchschoss mich ein heftiger Stromstoß, der mich mehrere Meter nach hinten schleuderte, sodass ich mich am Boden wiederfand.
Sofort stand ich wieder auf, weil ich zu viel Angst hatte, um hier herumzusitzen.
Das gefährliche, dunkle Knurren, das schon einige Male aus dem Wald gekommen war, schallte ohrenbetäubend laut durch meine Ohren und übertönte die Schreie meiner Freunde, die noch immer aus der Ferne erklangen, aber das war wahrscheinlich nur Einbildung.
Ich fasste an meinen Gürtel und schließlich in meinen Stiefel.
Keine Dolch, kein Schwert, keine Waffen.
Ich war vollkommen wehrlos. 'Versagerin', schrie mich eine laute Stimme an und ich wirbelte mit angstgeweiteten Augen herum.
Mein Spiegelbild war wieder da, doch jetzt schien es aus den alten Bäumen zu kommen.
Jeder Einzelne trug mein wutverzerrtes Gesicht und blutrote Augen leuchteten mir entgegen.
'Hast du mich vermisst?', riefen die Stimmen von allen Seiten in einem unheilvollen Chor.
Ich schüttelte widerwillig den Kopf.
Das bist nicht du, das kannst nicht du sein, versuchte ich mich selbst zu überzeugen.
'Ich bin ein Teil von dir, du kannst mich nicht loswerden.
Ich bin dein blutdrünstiger, hinterhältiger Teil, du kannst mich nicht verstoßen.
Wir sind eins.', höhnten die Stimmen und ich hielt mir die Ohren zu, wollte nichts davon hören, doch es funktionierte nicht.
'Hört auf, zu lügen!', schrie ich in den Himmel, wusste nicht an wen genau ich mich wenden sollte.
'Wie kann man nur so dumm und naiv sein. Du kommst hier niemals raus. Ich werde immer da sein und dir deine Angst entlocken.', die Stimmen lachten, 'Nicht immer das Gute siegt.'
Ich atmete tief ein und aus und versuchte das letzte bisschen Fassung zu bewahren.
'Ich glaube dir nicht.', sagte ich so ruhig wie möglich, während ich einen Fluchtweg suchte, aber die Bäume hatten mich umzingelt, schienen sich zu nähern.
'Ein Blick in die Zukunft gefällig?', fragten mich die Stimmen und ein großes, eisernes Portal schwang rechts von mir aus dem Nichts.
Ein Strudel aus Dunkelheit bewegte sich kreisend in ihm und formte sich zu Bildern, deutete eine große Schlacht an.
Tausende kämpften um ihr Leben und viele Tote lagen im Tal, in dem der Kampf ausgetragen wurde. Überall verteilte sich rubinrotes Blut, lief in Strömen über den Boden.
Dann wurde das Bild näher herangezoomt und es war so, als würde ich mit in den Kampf hineingezogen, denn ich konnte plötzlich alles empfinden, den Schmerz der Wunden, die schlechte Luft und die lauten Geräusche von klirrendem Metall auf Metall.
Der Geruch von Tod und Verwesung lag in der Luft, erschwerte mir das Atmen.
Dort kämpfte ich, neben mir Luis und auf dem Boden lagen Jen und meine Tante.
Ich würgte vor Ekel.
Es sah so echt aus, auch wenn es nicht wahr sein konnte.
Da zischte plötzlich ein schwarzer Drache über unseren Köpfen hinweg, bewegte anmutig seine gigantischen Körper und flog genau auf Luis zu, schnappte ihn und zog ihn mit in den Himmel.
Immer höher und höher.
Er versuchte sich frei zu kämpfen, während Blut aus seinen Schultern drang, auf mein Gesicht tropfte.
Dann ließ der Drache in los, er fiel und sein Körper landete mit einem lauten Knacken seiner Wirbelsäule neben mir auf dem Boden.
Ich wusste, dass er tod war.
Im nächsten Moment rammte mir jemand ein Schwert in den Rücken und die blutige Spitze ragte vorne aus meinem Bauch heraus.
Meine Augen wurden glasig, meine Sicht verschwamm.
Alle würden sterben.
***
Wieder einmal saß ich zitternd und voller Angst in meinem Bett, konnte das Gesehene nicht verarbeiten.
Ich wollte mich ja zusammenreißen, versuchte es immer wieder, doch diese Albträume zerstörten mich von innen heraus.
Wütend über meine eigene Schwäche biss ich mir auf die Lippen.
Ich musste stark sein, musste kämpfen und vor allem musste ich mich jemandem anvertrauen.
Nur wollte ich niemandem diese belanglosen und dennoch schrecklichen Träume aufbinden, weil ich niemanden damit belasten wollte.
Sie waren schlimm genug für mich allein.
Ich fuhr mir erschöpft durch das verschwitzte, braune Haar, war nach dem Schlafen alles andere als ausgeruht.
Meine Beine fühlten sich nach dem langen Lauf in meinem Traum schwer an.
Wieso konnte ich diese Träume nicht einfach ignorieren?
Ich zog mich um und machte mich fertig, ließ mir Zeit dabei meine Haare zu kämmen und schaute noch eine Weile stumm aus dem Fenster, ohne an irgendetwas bestimmtes zu denken.
Ich kam 10 min. zu spät zum Unterricht und Mr. Wieland hielt mir verärgert eine Predigt.
'Du bist zu spät, Nia. Ich bin sehr enttäuscht, dass du dir so eine Verspätung gönnst.
Es ist sehr wichtig, dass du all den verpassten Stoff mitbekommst.
Sonst hängst du hinterher.'
Sally lachte gehässig und ihre Freunde stimmten gleich mit ein.
Mr. Wieland betrachtete sie nur mit einem strengen Blick, der sie verstummen ließ, bevor er mir mit seinen rauchigen, blau-grauen Augen ins Gesicht sah, wobei ich einen Hauch besorgnis in ihnen erkannte.
Ich schluckte hörbar und senkte den Blick.
Es war mir klar, dass mein körperlicher Zustand in letzter Zeit nicht gerade gut war.
Ich hatte ein paar Kilo abgenommen und am Kaschieren meiner Augenringe war ich heute morgen kläglich gescheitert.
'Es tut mir leid.', murmelte ich leise und beschämt, 'Ich habe verschlafen.' Naja, Schlafen würde ich das nicht nennen, aber es wäre lächerlich, ihm vor der ganzen starrenden Klasse von meinen Albträumen zu erzählen.
Mr. Wieland nickte knapp und wendete sich dann von mir ab.
'Setzt dich hin. Wir machen weiter.' Schnell und möglichst unauffällig ging ich zu meinem Platz und setzte mich hin, versuchte die Blicke, die auf mich gerichtet waren, zu ignorieren.
Mr. Wieland klatschte laut in die Hände, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, wofür ich ihm sehr dankbar war.
Ich holte schweigend meinen Block heraus und nahm einen Stift in die Hand, um mit ihm herum zu spielen.
Ich drehte ihn immer wieder, bewegte ihn hin und her und bekam reichlich wenig vom Unterricht mit und das beständige Ticken der Uhr lenkte mich einfach zu sehr von den mathematischen Formeln ab.
Als es endlich zur Pause klingelte, entließ uns Mr. Wieland mit einem Haufen Hausaufgaben und ich verließ schnell den Raum, damit ich bloß nicht mit ihm reden musste.
Draußen im Gedränge ließ ich mich einfach durch die Flure treiben wie ein Fisch im Wasser.
Erst einmal brauchte ich frische Luft, kalte Luft, aber es war viel angenehmer als in diesem stickigen Gebäude.
Jen, dick eingewickelt in ihren neuen, grünen Parka, schlenderte gemütlich auf mich zu.
'Du siehst schrecklich aus, Süße.', flötete sie und verzog entschuldigend das Gesicht.
'Danke.', antwortete ich trocken, denn von Jen hatte ich nichts anderes erwartet.
Sie sprach immer aus, was sie dachte. 'Ach was, so meinte ich das doch nicht, nur...'
Ich hob die Hände und unterbrach sie.
'Ich weiß, dass ich nicht gerade perfekt aussehe, aber ich kann auch nichts dagegen tun.'
Jen lächelte mit leuchtenden Augeb und krammte in ihrer vollgestopften Schultasche.
'Also erstens, war das ja wohl die Untertreibung des Jahres und zweitens kannst du sehr wohl etwas tun.'
Ich sah sie fragend an, als Jen eine grüne Box aus ihrer Tasche herausholte.
'Du kannst zum Beispiel diesen Donout essen, um ein wenig mehr Speck anzulegen.', schlug sie vor.
Ich lächelte dankbar, nahm ihn entgegen, hatte eigentlich keinen Hunger, aber ich wollte Jen nicht verärgern.
Mein Blick huschte über den Platz, während ich genießerisch in den Dounat biss.
Ich war immer auf der Hut.
'Und wie geht's dir so?', fragte ich wirklich interessiert.
Bei Gesprächen mit meiner besten Freundin konnte ich mich immer etwas entspannen.
Sie sah mich prüfend von der Seite an.
'Mein Leben ist nicht halb so spannend wie Deines, aber ich und Justin sind ein perfektes Team.
Oh, das muss ich dir erzählen.
Wir hatten ein Date bei ihm, heimlich nach der Sperrstunde, er hatte nur ein weißes T-shirt an und ich musste mich wirklich zusammenreißen bei diesen Muskeln nicht zu sabbern, das kannst du mir glauben, Süße.'
Ich lächelte, während mir ungewollt ein Bild von Luis Sixpack und wie sich seine Muskeln bewegten, wenn er kämpfte.
'Ich kann deine Gedanken lesen.', schaltete Jen sich ein und ich baute schnell eine riesige Mauer vor meine Gedanken.
'Ich hab wirklich keine Ahnung, wieso ich jetzt daran gedacht habe, gab ich zu und errötete leicht, wie so oft in letzter Zeit
Irgendwie dachte ich immer an unpassende Dinge oder geriet in peinliche Situationen.
Jen prustete bereits los, bekam sie gar nicht mehr ein vor lachen.
Ich verdrehte die Augen und wartete bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Meine beste Freundin klopfte mir belustigt auf die Schulter.
'Ach, das kann doch mal passieren.'
Genervt schüttelte ich den Kopf.
'Du musst aber auch immer ohne Erlaubnis meine Gedanken lesen.', stellte ich empört fest und hob die Augenbrauen.
Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und versuchte sich zu verteidigen.
'Ich kann nichts dafür.
Wenn du deine Kraft eine Weile beherrschst, wirst du gar nicht mehr merken, dass du sie anwendest.
Wenn du sie dein Leben lang kennst, musst du nicht mehr nachdenken, um sie zu benutzen, weil sie ich ist und ich bin sie.'
Ich schnaubte laut über ihre kryptischen Worte und leckte mir die schokoladenbeschmierten Finger ab, nachdem ich mir den letzten Bissen des Dounats in den Mund gesteckt und zuende gekaut hatte.
'Von mir noch nicht.
Meine Kraft ist nicht mal annähernd ich. Sie ist nicht mal da.'
Keine Sorge, dass wird schon noch.', sagte sie zuversichtlich.
'Komm gehen wir zum Unterricht.
Ich will nicht auch noch bei meiner Tante zu spät kommen.
Eine weitere Predigt ist heute einfach zu viel für mich.'
Jen schloss den Reisverschluss ihrer braunen Ledertasche und schaute mich interessiert an.
'Du bist zu spät zu Mr. Wielands Stunde gekommen? Der wird aber sauer gewesen sein.
Du arme! Glaub mir, ich kenne das.
Ich habe ihn schon so oft zur Weißglut getrieben.'
Sie grinste verschmitzt, während ich lediglich die Stirn runzelte.
'Ging so, er konnte sich noch zusammenreißen.
Aber ich bin so müde, ich glaube, ich schlafe gleich beim Gehen ein.', sprach ich seufzend das aus, was mir durch den Kopf ging,
'Eigentlich will ich nur, dass dieser Tag schnell vorbei geht.'
Jen öffnete mir höflich die Tür, holte die wenigen Schritte wieder auf und legte mir eine Hand um die Schultern. 'Das wird schon wieder.'
Ich betrat mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern die Klasse, was im Nachhinein ein Fehler war, und wollte gleich zu meinem Platz gehen, doch Mrs. Infusio hielt mich zurück. 'Geht es dir gut, Nia?'
'Ja, klar! Alles okay.', sagte ich wenig überzeugend.
Meiber Meinung nach musste sie nicht gleich fragen, wenn ich nicht fröhlich summend hier rein kam und mich lächelnd auf meinen Platz setzte.
Man konnte schließlich auch mal einen schlechten Tag haben.
Oder eine schlechte Nacht.
Oder viele schlechte Nächte...
Das war doch ganz normal.
Trotzdem musterte mich meine Tante noch einmal prüfend, bevor sie die Stimme senkte.
'Komm bitte nach dem Unterricht zu mir.'
Ich nickte nachgebend und ging zu meinem Platz.
Das würde ja super werden.
Jen, die eigentlich immer neben mir saß, stupste mich unauffällig, mit dem Ellebogen an.
'Hey, was wollte sie?'
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
'Ich muss nach der Stunde zu ihr kommen. Frag mich nicht wieso, ich hab keine Ahnung.'
Dann packte ich mein schweres Geschichtsbuch aus.
Eine Papierkugel traf mich im Nacken.
'Au!', sagte ich laut in die Stille und hielt mir aus einem Reflex die getroffene Stelle, obgleich sie nicht schmerzte.
'Wer war das?'
Ich drehte mich um und sah Sally und Elle kichernd mit einem Haufen Papierkügelchen vor sich liegend, an dem sie die ganze erste Hälfte der Stunde gearbeitet haben mussten. 'Ach, was für ein Kindergarten.', murmelte ich und ließ meinen Koof tief über mein Buch sinken, als ein zweiter Schuß mich am Kopf traf, auf den leises Gekicher folgte.
Mrs. Infusio schien nichts zu bemerken, war zu sehr in ihre eigenen Aufgaben vertieft, aber Jen riss verärgert einen kleinen Teil von ihrem Papier ab und zerknüllte ihn.
Ich schüttelte warnend den Kopf, doch sie grinste nur verwegen, war nicht mehr von ihrem Vorhaben abzubringen.
Entschlossen drehte sie sich um und warf die Kugel mitten in Elles Gesicht. Überall erklang Kichern, weil die anderen Schüler uns benerkten.
Schon warfen alle mit Papierkügelchen um sich und man musste gut aufpassen, um nicht getroffen zu werden.
Tatsächlich musste ich auch grinsen, einfach weil dieses Bild von mit Papierkügelchen werfenden Schülern so komisch war und weil es gar nicht in diese strenge Schule passte.
'Stop! Hört alle auf!', schrie Mrs. Infusio laut, nachdem sie von ihrem Pult aufgesehen hatte und sofort senkte die Schüler den Kopf, schämen sich.
'Das ist so kindisch.', fuhr sie uns an und schob sich die Brille auf der Nase ein Stück höher.
'Nach dem Unterricht müssen alle den Raum sauber machen. Hausaufgaben bekommt ihr auch auf, darauf könnt ihr euch verlassen.'
Die meisten Schüler schauten bedrückt, aber manche lächelten.
Ein bisschen Abwechslung im grauen, öden Alltag schien ihnen ganz gut zu gefallen.
'Also sowas ist mir ja noch nie untergekommen.
Was ist nur mit dieser Klasse los?', murmelte Mrs. Infusio enttäuscht, aber immerhin war meine Laune jetzt ein bisschen angehoben.
Dann besann sie sich anders und holte ihr eigenes Geschichtsbuch heraus.
Ihre Stimme klang schon wieder ganz sachlich und neutral.
'Der Rest der Aufgaben, die ihr jetzt nicht fertig gemacht habt, erwarte ich morgen in meinem Fach zu sehen. Jetzt schlagt bitte die Seite 43 im Buch auf. Heute geht es um die Prüfung des Instituts für Magie.
Eine Prüfung, die ihr alle bestehen müsst und es ist deswegen ein sehr wichtiges Thema.
Also hört bitte wenigstens den Rest der Stunde gut zu.'
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