Kapitel 16

Meine Schuhe knirschten auf dem Kies, das Laub zitterte im Wind und die Sonne ging bereits unter, sodass es äußerst kalt war.
Zitternd zog ich meine Jacke enger um mich herum, um diese unnachgiebige Kälte zu vertreiben und dabei war es erst Herbst.
Von irgendwoher flog ein Geruch nach Kuchen durch die Luft, was meinen Magen leise knurren ließ.
Ich ignorierte es, denn vorerst hatte ich andere Pläne, vorerst wollte ich alle meine Sorgen aus mir herausprügeln, im wahrsten Sinne des Wortes.
Als ich an der Treppe vor der Sporthalle ankam, durchfuhr mich ein neuer Gedanke.
Vielleicht konnte ich ja gegen Luis kämpfen, obgleich wir heute morgen schon trainiert hatten.
Zwar nicht lange, da er nicht viel Zeit hatte, aber trotzdem so viel, dass ich meine tägliche Kampfzeit bewältigen konnte.
Und doch war ich noch nicht ausgepowert.
Wollte noch diese Angst und diese Wut und diese Unsicherheit loswerden.

Voller Vorfreude auf mein bevorstehendes Training stieg ich die Stufen herauf und horchte.
Aus dem ersten Raum erklangen leise, zischende Geräusche, sodass ich neugierig meinem Gehör folgte und schließlich um die Ecke in den Raum sah.
Ein kleines, chinesisches Mädchen warf mit glänzenden Wurfsternen auf eine hölzerne Figur.
Diese besaß schon zwei tiefe Schnitte in der Nähe des Herzens und ein weiterer Wurfstern ragte quer aus ihrem Schädel heraus.
Das Mädchen, das wahrscheinlich etwas jünger war als ich, holte aus und platzierte den letzten Wurf in den Hals der Figur, der jetzt leicht zur Seite knickte.

Anschließend drehte sie sich mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht um. 'War ich nicht gut?'
Ich blickte mich kurz um, fragte mich, ob sie mit jemandem anderen sprach, aber ihre mandekförmigen, goldbraunen Augen waren auf mich gerichtet.
'Du warst wirklich gut.', antwortete ich ehrlich beeindruckt und sie verbeugte sich tief.
'Ich bin Yanschu Chiabetti.', stellte sie sich vor.
Ich kam näher und legte meine Tasche in eine Ecke des Raumes, bevor ich antwortete.
'Ich bin Nia Miller.'
Sie riss überrascht die Augen auf und ihr schelmisches Grinsen wurde breiter.
Anscheinend hatte sie schon von mir gehört.
'Die Neue also, die Seltsame.'

'Danke für den tollen Spitzname.
Da fühle ich mich wirklich geehrt.', konterte ich grinsend.
Sie zuckte nur mit den Schultern und ging gespannt näher auf mich zu.
'Ich würde gerne mal gegen dich kämpfen.'
Ich blickte sie stirnrunzelnd an.
'Da musst du dir nicht all zu große Hoffnungen machen.
Ich bin kein guter Kämpfer, denn ich bin erst vor ein paar Wochen hier her gekommen und habe dann meine erste Kampfstunde genommen.' Yanschu nahm ruhig ein bronzefarbendes Ninjaschwert von der Wand, eine Waffe die aus irgendeinem Grund gut zu ihr passte. Dann kicherte sie fröhlich.
'Du kanst hier an und dann hast du gleich mal ein Mädchen durch die Luft geschleudert.'
Ich musste kurz überlegen, um darauf zu kommen, dass sie auf Sally hinauswollte.
Diese Aktion schien sich rasend schnell auf der Schule herumgesprochen haben.

'Und ich habe gehört, dass du Illusionen erschaffen kannst.', sagte sie interessiert und legte abwartend den Kopf schief.
Traurig schüttelte ich den Kopf.
'Ich sollte es können, aber ich bin eine absolute Niete.'
'Starke Kräfte brauchen ihre Zeit.', entschied sie gelassen, was mich ein wenig aufmunterte und drehte das grazile Ninjaschwert in ihrer Hand. 'Wie alt bist du?', fragte sie aus dem Kontext gerissen.
'16'
Sie zog ihre Augenbrauen so hoch, dass ich schon fast dachte, sie würden aus ihrer Stirn springen, und sah dabei unglaublich komisch auch.
'Du wirst doch nicht gegen ein 13 jähriges Mädchen verlieren.', forderte sie mich heraus, obgleich sie für mich  ein ganzes Stück älter aussah, was  an ihrer selbstsicheren Art liegen mochte.
'Du hast sicherlich schon dein ganzes Leben lang gekämpft. Ich bin mir nicht so sicher, ob ich eine Chance habe.'

Trotz dessen gab ich nach, konnte ihrem Angebot nicht wiederstehen und nahm mir ein Kurzschwert von der Wand.
Luis hatte mir erklärt, dass ich nur die Schwächen meines Gegners herausfinden musste.
Doch bevor ich auch nur über irgendetwas nachdenken konnte, begann der Kampf.
Unsere Waffen klirrten aufeinander, erzeugten eine merkwürdige Art von Musik, und wir drehten uns eher wie in einem spielerischen Tanz, als wie in einem Kampf.
Ab und zu sah ich Yanschus lange, schwarze Zöpfe durch die Luft fliegen, aber sonst konzentrierte ich mich nur auf unsere Schwerter, wie sie zusammenkamen und sich wieder lösten, um anschließend erneut gegeneinander zu schlagen.
Sie war wirklich gut und schon bald atmete ich schwer.

Beim Kämpfen arbeitete ich mit unüblichen Techniken, die Luis mir gezeigt hatte, denn Yanschu schien die meisten nicht zu kennen.
Geschickt duckte ich mich in einem günstigen Moment und zog ihr, natürlich mit meiner Hand und nicht mit dem Schwert, die Beine unter dem Körper weg.
Sie war nicht sehr schwer und ich wusste, dass dieser Trick gut  funktionierte, weil Luis ihn heute morgen bei mir angewendet hatte. Yanschu stieß einen erschreckten Laut aus und kippte rückwärts um, sodass ich ihr siegessicher das Schwert an den Hals streckte.
Was ich niht erwartete, dass sie von einem Moment auf den anderen einfach verschwand.
Nur verschwommene Linien, die durch den Raum huschten verieten sie kurzzeitig.
Verwirrt blickte ich mich um, als mir auch schon ein Schwert an die Kehle geschoben wurde und gleichzeitig Yanschu hinter mir erschien.
Sie kicherte leise.

'Wie hast du das gemacht?', fragte ich verblüfft, sodass Yanschu wild mit der Hand wedelte.
'Ich bin eine Tarnerin, praktisch, nicht wahr?'
Ich nickte langsam, denn ich hatte noch nie einen Tarner in Aktion gesehen.
'Da wir Freunde sind', meinte Yanschu feierlich, 'könnte ich dir zeigen, wie man sich wehrt, wenn jemand im Tarnmodus ist.'
'Das wäre sehr nett.', erwiederte ich wissbegierig, hörte aber bereits das, aber aus ihren Worten heraus, worauf sie schon wieder schelmisch grinste.
'Aber nur wenn du mir ein paar von  deinen Tricks zeigst. Die sind echt beeindruckend.'
'Klar, warum nicht?', stimmte ich lächelnd zu und Yanschu setzte ein strenges Gesicht auf.

'Dann werden wir heute lernen, wie man gegen unglaublich coole Tarner, wie mich, kämpft.'
Ich stellte mich freudig in Angriffsposition und blickte das kleine Mädchen auffordernd an, sodass sie unbeeindruckt fortfuhr. 'Zuerst einmal musst du deine Augen vergessen. Du musst dein Gehör einsetzten.'
'Ich habe kein außergewöhnlich gutes Gehör wie Fühler.
Wie kann ich dich dann hören? ', protestierte ich und dachte an die Fahigkeit meiner Mutter.
'Wo du Recht hast, hast du Recht.', stellte Yanschu grinsend fest, 'Trotzdem solltest du mich hören können. Streng dich an, dann schaffst du es schon.'
Mit diesen unbeirrten Worten wurde sie wieder unsichtbar und ich konnte nur noch ab und zu ein verräterisches Schimmern in der Luft sehen.
Ich schloss langsam meine Augen und horchte nach Geräuschen im Raum. Zuerst konnte ich nichts wahrnehmen, aber nach einem kurzen Moment hörte ich ihr flaches Atmen ein Stück neben mir und ich lächelte.
'Du bist links von mir, Yanschu.'
Leise Schritte bewegten sich über den glatten Hallenboden, als Yanschu nach rechts schlich.
'Bist du bereit?'
'Wofü...', setzte ich an, als plötzlich ein zischender Schlag durch die Luft sauste. Ich riss erschrocken die Augen auf und duckte mich unter einem kurz auftauchenden Schwert hindurch.
'Guter Reflex, aber du musst die Augen zulassen!', erklärte Yanschu und ein weiterer Schlag folgte, dem ich nur knapp ausweichen konnte.

Mit ein paar Schritten entfernte ich mich von dem kleinen Mädchen, die ganz schön Temperament und Schlagkraft hatte, und schloss meine Augen erneut.
Ich hörte das heftige Schlagen meines Herzens, doch nach ein paar Schlägen, hatte ich mich etwas gefangen und hörte nur Stille, als  mir plötzlich jemand ein Schwert an die Kehle legte.
Ich htte sie kein bisschen gehört, als sie sich genähert hatte.
'Tja!', meinte Yanschu ein wenig enttäuscht, ich senkte mit meiner Hand ihr Schwert und drehte mich zu ihr um.
'Es ist zu kompliziert, wenn man gleichzeitig hören und kämpfen muss. Dafür müsste ich all meine Kampfschritte auswendig können.'  'Nun...', überlegte Yanschu und legte den Kopf schräg wie ein Hund, wobei ihre langen Zöpfe sich schwankend zur Seite bewegten.
'Wahrscheinlich ist es einfacher, wenn man schon sein ganzes Leben lang gekämpft hat.'
Ich verzog das Gesicht und biss mir auf die Lippen, wollte aber nicht aufgeben und überlegte fieberhaft, wie ich mir einen eigenen Vorteil schaffen könnte.

Da kam mir  eine Idee.
'Lass es mich nochmal versuchen.', bat ich.
'Natürlich! ', sagte Yanschu fröhlich und war auch schon wieder verschwunden.
Ihr schien das ganze sichtlich Spaß zu machen.
Konzentriert achtete ich wieder auf mein Herz, das gleichmäßigen im Takt schlug.
Da war etwas in mir, ein Schimmern, ein Leuchten, vielleicht meine veborgene Kraft und ich hatte sie schon oft bemerkt, immer als Verrücktheit abgetan.
Doch als ich die Ausgeschlossenen aufgrund ihrer dunklen Austrahlung sofort erkannt hatte, während Jen und ich von ihnen in der Stadt überrascht worden waren, hatte ich bemerkt, dass es ein sehr nützliches, intuitives Gefühl war.
Ich wusste nicht, ob das jeder Gewählte konnte oder ob es zu meiner Illusionengabe gehörte wie das Gedankenverschicken und ich hatte ebenfalls keine Ahnung, ob ich es hierbei anwenden konnte, aber einen Versuch war es wert.

Ich spürte innerlich, wie der ganze Raum still dalag.
Nur kleine Wellen von weißem, gleißenden Licht stiegen hinter mir auf, rankten sich wie Nebelschliere durch den Raum.
Yanschu näherte sich so leise wie möglich, ihre Füße konnte man kaum auf dem Boden erahnen, wenn man nicht wusste, dass sie da war, aber ihre Aura hatte sie verraten und ich konnte sie spüren.
Ich fühlte, wie sie sich bewegte, sich anschlich.
Bestimmt öffnete ich die Augen, drehte mich so schnell wie möglich um und schwang mein Schwert in ihre Richtung.
Yanschu blockte überrascht und bewegte sich zur Seite, um mich zu verwirren und erneut anzugreifen, doch ich war in der Lage jede ihrer Bewegungen zu verfolgen, wusste jetzt genau wo sie war.

Voller Kraft schlugen wir mit den Schwertern aufeinander ein.
Es war ein recht fairer Kampf und das, obwohl Yanschu unsichtbar war. Schließlich entfernte sich Yanschu erschöpft von mir, wurde sichtbar und jubelte laut.
'Du hast es geschafft!'
Ich grinste stolz, während sie sich mit zusmmengekniffenen Augen schon wieder in Angriffsposition stellte.
Es schien sie nicht wirklich zu interessieren, wie ich sie bemerkt hatte und sie war nun volkommen auf meinen Teil der Abmachung fixiert, sodass ich es ihr gleich tat und mich in Angriffsposition sinken ließ.
'So jetzt bist du dran, zeig mir ein paar coole Tricks.'
Wir kämpften weiter bis es dunkel war und wir beide erschöpft, aber zufrieden und mit neuen Fähigleiten in unsere Wohnheime zurückkehrten. Nach einer kurzen Dusche legte ich mich sofort ins Bett, denn morgen würde sicher ein weiterer spannenderer Tag werden und ruhig und entspannt war noch kein einziger  gewesen.

***

Ich stand in einem dunklen Wald, umgeben von tiefer Dunkelheit.
Alles war still, keine Regung, kein Geräusch, nur mein schneller Atem war zu hören.
Vorsichtig bewegte ich mich einen Schritt nach vorne.
Wusste das irgendetwas auf mich lauerte.
Es knirschte laut und plötzlich fiel ich in eine unglaubliche Tiefe, sodass mir mein Schrei im Hals stecken blieb. Dann schlug ich hart auf dem kalten Boden auf, die ganze Luft wurde aus meinem Körper gepresst und ich rang vergeblich nach Atem.
Hier war nichts, rein gar nichts, und ich war alleine, nur umgeben von spöttischer Schwärze und tonloser Leere.

Meine Glieder schmerzten schrecklich und hatte das Gefühl, dass mein Körper wie eine Vase in viele hundert Scherben zersplittert war.
Doch ich konnte nicht ungewiss hier liegen bleiben, ich musste hier raus, huer weg, einfach nur entkommen.
Mühsam zog ich mich mit den Armen hoch, stützte mich beim Aufstehen ächzend an einem Stein ab und schaute ich mich in meiner neuen Umgebung um.
Eben noch war es dunkel gewesen, doch jetzt erhellte sich der Raum vor mir flackernd, als hätte jemand ein Feuer entzündet, nur das es dafür viel  zu kalt war, denn ich zitterte bereits und mein Atem bildete kleine, weiße Wölkchen.

Ich stand in einem kleinen, einengenden Raum, der rundum mit bis zur Decke reichenden, glänzenden Spiegeln bestückt war, die mir meine verwirrten, ängstlichen Blicke darlegten.
Nur Eines war komisch. Die Decke war geschlossen und auch an den Wänden schien kein Ausgang zu sein. Wie und wo war ich hier rein gefallen?
Aber noch viel wichtiger:
Wie kam ich hier wieder raus?
Panik stieg in mir auf, drohte mich in eine Schockstarre fallen zu lassen und erschuf das Bedürfnis in mir, mich in einer Kugel auf dem Steinboden einzurollen und alles zu vergessen, bis ich aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung erkannte.
Schlagartig drehte ich mich um, doch da war nichts gewesen, nur mein Spiegelbild.
Und es lachte mich aus.
Verwirrt starrte ich in meine haselnussbraunen Augen, die sich langsam in ein dunkles Blutrot verfärbten. 

Ich zuckte vor dem Spiegel zurück, weil ich aussah wie ein Zombie aus einem dieser bekannten Gruselfilme und das schien ich, oder es, auch zu sein, denn lange Finger schossen hinter mir hervor und umfassten meinen Hald, was mich würgen ließ.
Mein Blick fuhr erschrocken herum und ich blickte einem weiteren Ich in einem der Spiegel ins Gesicht, dessen Hand sich wohl versälbstständigt hatte, dessen Hand mich umbringen wollte.
Ich versuchte tief Luft zu holen, aber es gelang mir nicht, nur ein Ächzen entrang meiner Kehle und die meine Sicht verschwamm.
Instinktiv trat ich mit voller Wucht in den Spiegel, die Hand krümmte sich zusammen, bildete eine wütende Faust, während der Spiegel unversehrt blieb.

Voller Angst, die sich zunehmend in mir ausbreitete, drehte ich mich im Kreis und beobachtete die vielen Spiegelbilder, die mich nun mit unendlichem Hass in den roten Augen anstarrten, bevor das Erste fälschliche Abbild von mir die Stille brach, indem sie begann zu sprechen. 
Dabie klang ihre Stimme genau wie meine Stimme, nur emotionsloser und furchterregender.
'Du bist dumm! Du kannst nichts! Denkst du ehrlich, dass du hier lange überlebst? Niemals, denn das ist nicht deine Welt, du wirst es nie schaffen, egal wie sehr du willst. Sie werden dich fangen, foltern, töten.', sie lachte laut und gehässig, zeigte mir meine Ängste, während das zweite Spiegelbild ebenfalls seinen Beitrag leistete und zu meinem Entsetzten Luis Stimme besaß.
'Ich hasse dich über alles, werde nie dein Freund sein, du bist naiv, wenn du das glaubst.
Niemand an dieser Schule mag dich, akzeptiert dich, denn du bist eine Last und eine Gefahr für uns. '
Er sprach weiter auf mich ein, während in meinen Augen Tränen glänzten, weil die nächste Stimme eindeutig von meiner Mutter war, die mich ausschimpfte, weil ich nicht endlich aufgab und mich in Sicherheit brachte.
Anschließend folgten die Stimmen einer enttäuschten Jen, von Sally und Elle, die mich laut mit Schimpfwörtern bewarfen und von Marc, der mir vor warf kein richtiger Mensch zu sein, abnormal zu sein, und ich wusste, dass er Recht hatte.
Irgendwie hatten sie alle Recht und ihre Stimmen wurden immer lauter, drängender, sodass unter ihnen versank wie unter den schäumenden Wellen eines Sturmes.

Mit zusammengebissenen Zähnen krümmte ich mich zusammen, versuchte sie auszublenden, aber das ging nicht.
Ich kniete bereits, war am Boden, doch sie hören nicht auf, ließen mir keine Ruhe.
Ein weißer Rauch qoll aus allen Ecken des Raumes, breitete sich rasend schnell aus, während die Stimmen pausenlos auf mich einredeten.
Ich atmete eine weiße Rauchwolke ein, hustete laut und versuchte Luft zu bekommen, als die abgehackte Stimme des Mannes, denn ich in jedem meiner Träume hörte, vernahm.
Sie schrie mich an, sodass meine Trommelfelle zu platzen schienen. 'Du bist verloren, gib endlich auf!' Betäubt schlug mein Kopf auf dem Boden auf, alles war wieder still.
Es war vorbei.

***

Ich schreckte wieder einmal aus einem schrecklichen Albtraum auf, blickte mit angstgeweiteten Augen an die weiße Wand über mir.
Tausend Gedanken flogen mir durch den Kopf, hatten mich geweckt, mich vielleicht auch durch meine Träume geleitet.
Meine Unterlippe zitterte heftig, also biss ich auf sie drauf, bis ich den metallischen Geschmack von Blut in meinem Mund schmecken konnte und mein Atem raste, als wäre ich hunderte Kilometer gerannt, um mein Leben gerannt.
Es waren nicht einfach belanglose  Träume, es waren Schatten, schwarze Löcher die mich selbst am Tag beeinflussten und mir Angst einjagten.
Ich hatte immer tief in mir vergraben, wie viel mir diese Albträume ausmachten.
Ich hatte die ganze Zeit versucht sie zu verdrängen, doch sie wurden zunehmend grausamer.

Nach einer langen Weile, einer kleinen Ewigkeit, die ich einfach nur in meinem Bett saß, an die mir gegenüberliegende Wand starrte und an nichts dachte, schob ich meine Decke weg.
Ich musste aufstehen, die Träume vergessen und einfach weiter leben, Ich wusste, dass meine Freunde nicht so über mich dachten wie die Stimmen in meinem Traum.
Okay, Sally und Elle vielleicht schon, doch das war mir egal, denn sie zählten nicht.
Mühsam riss ich mich zusammen,  atmete tief ein und aus.
Das tat ich immer, um mich zu beruhigen, es half jede Situation unter Kontrolle zu halten, denn nichts ist unmöglich, wenn man nur daran glaubt.

Entschlossen stand ich auf, wenn auch ohne meine gestrige Motivation. Ein kurzer Blick auf die Uhr, zeigte mir, dass es bereits halb 10 war.
Na super.
Entweder ich hatte ziemlich lange geschlafen oder ich hatte ziemlich lange einfach nur in meinem Bett gesessen und vor mich hingestarrt, zwischen Raum und Zeit gefangen.
Ich mied einen Blick in den Spiegel und beschloss erst einmal, warm zu duschen.
Eine Ausrede dafür, dass ich nicht in der Schule war, würde mir schon noch einfallen.
Ohne groß darüber nachzudenken, schickte ich Marc noch eine Gutenmorgen Nachricht.
Wir hatten uns zwar auseinandergelebt, doch ich wollte ihn in diesem ganzen Gewühl nicht komplett verlieren.
Es passierte einfach zu viel verrücktes, seit ich auf dieser Schule war und jeder Tag war ein neues Abenteuer oder eine neue Herausforderung.

***

Ich rubelte meine Haare mit einem Handtuch trocken und seufzte zufrieden.
Nach einer langen, heißen Dusche fühlte ich mich gleich viel besser.
Das Einziege was mich störte, waren die dunklen Ringe unter meinen Augen, welche ich nach einem unbegründet ängstlichen Blick in den Spiegel entdeckte.
Ein Traum war und blieb eben doch nur ein Traum.
Mein Handy vibrierte klappernd auf der kleinen Komode neben dem Waschbecken.
Schnell sah ich nach, wer mir eine Nachricht geschickt hatte.
Marc hatte mir zurückgeschrieben.
'Bist du nicht im Unterricht?'
Ich zuckte die Schultern schrieb ihm zurück.
'Nein, ich bin im Wohnheim.'
Seine Antwort folgte sofort.
'Du schwänzt Schule?'
'Vielleicht :)'
'Böses Mädchen'
Ich konnte mir gut vorstellen, wie Marc in diesem Moment den Kopf schüttelte und in mir entstand das Verlangen, ihn wiedersehen.

'Hast du heute Mittag Zeit?'
Gespannt sah ich auf mein Handy und wartete auf seine Antwort, konnte nicht einmal die paar Sekunden abwarten, ohne hin und her zu wippen.
Ich hasste diesen Moment, in dem man auf die Nachricht einer wichtigen Person wartete, egal wie belanglos sie war.
'Um halb 4 im Wiesengrün Café?' 
Nach einem knappen
'Ja, freu mich' legte ich voller Vorfreude mein Handy weg.
Vielleicht brauchte ich eine kleine Auszeit, bevor es dann wieder mit aufgeladener Kraft weiterging.
Jetzt musste ich nurnoch überlegen, wie ich meine Tante dazu brachte, mich zu Marc fahren und mir die heutigen Fehlstunden zu verzeihen.

***

Ich schritt gemütlich über den Hof, hatte keine Eile an mein Ziel anzukommen.
Es gefiel mir auf dem Campus, vor allem, wenn ich durch die Alee wanderte, den Schutz und den Schatten der Bäume genoss.
Die Ruhe der großen Eichen, deren wenige Blätter leise im Wind raschelten und die wachsamen Blicke der alten Statuen wirkten irgendwie beruhigenden auf mich.
Das bevorstehende Gespräch mit meiner Tante verursachte eher ein gegenteiliges Gefühl und leider hatte ich auch hier draußen ein oder zwei Beobachter, die mich teilweise interessiert, teilweise ängstlich anstarrten.
Statt mich jedoch, wie üblich in meinem weichen, grauen Schal, den ich manchmal auch als Decke nutzte, zu verstecken, reckte ich mein Kinn höher.
Mir sollte es egal sein, was die Anderen dachten.

Gerade wollte ich in das Schulgebäude einbiegen, als mir meine Tante auch schon eilig entgegenschritt und sie wirkte alles andere als erfreut darüber, dass ich nicht in der Schule war.
'Nia, wo warst du?', fuhr sie mich wütend an, wobei Enttäuschung ihre Stimme färbte.
Ich hatte mich im voraus entschieden nicht mit ihr zu streiten und steckte meine kalten Hände in die Jackentaschen.
'Es tut mir leid.
Mir ging es heute Morgen nicht besonders gut und da hatte ich mir gedacht...'
Sie hob die Augenbrauen, schien sich fürchterlich darüber aufzuregen, dass ich nicht in der Schule war und wirkte dabei, wie ich feststellen musste, noch strenger als meine Mutter, wenn sie mir eine Predigt hielt.
'Du hast dir gedacht, dass du ja einfach mal schwänzen kannst?
Ohne Grund?'
Ich schwieg, um meine Worte höflich zu wählen, während sie mich mit ihren Blicken ausgesprochen böse anstarrte.
Okay, es würde schwieriger werden als erwartet.

'Es tut mir ja leid, aber ich brauche wirklich mal einen Tag Auszeit von... nun ja von allem. Eine kleine Verschnaufpause, verstehst du?', sagte ich ehrlich und sah sie flehentlich an, bis meine Tante langsam, wenn auch wenig überzeugt nickte.
'Ich habe mir Sorgen gemacht, du kannst nicht einfach von der Schule wegbleiben, ohne mir Bescheid zu geben.', erklärte sie seufzend und schob ihre Brille ein Stück höher.
Wieso machte sie sich denn immer gleich sorgen um mich?
Ich war nicht völlig hilflos und nur weil meine Mutter gestorben war, weil ich eine Waise war, brauchte ich nicht ihre ständige Sorge, um mich besser zu fühlen, nein ihre Sorge regte mich nur noch mehr auf, doch damit ich in einem meiner Temperamentausbrüche nicht wieder alles kaputt machte, senkte ich schuldig den Blick.

'Na, immerhin geht es dir gut.
Ein nächstes Mal wird es nicht geben.', sie senkte die Stimme ein wenig, obgleich ihre Worte keine Wiederrede duldeten, doch der nächste Satz war wohl nicht für lauschende Ohren gedacht.
'Hattest du wieder Albträume?'
'Ja, aber nicht so schrecklich wie sonst.', log ich künstlich Lächelnd und hoffte, dass sie dies nicht durchschaute. Noch mehr von ihren Sorgen konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.
Mrs. Infusio schaute mich noch einen kurzen Moment an, als würde sie mir nicht glauben, sodass ich beschwichtigend nickte, was sie als Anlass dafür nahm, diese Aussage gelten zu lassen.

Sie wollte sich gerade umdrehen und mich alleine lassen, als ich ihr meine Bitte so höflich wie möglich vortrug.  'Kannst du mich bitte heute Nachmittag in die Stadt fahren?
Ein bisschen Abstand würde mir, glaub ich, ganz gut tun.'
'Ahchja?' , fragte sie nöglochst ruhig und bejahte die Frage dann geschlagen.
'Wegen mir. Aber nur ausnahmsweise, nur dieses eine Mal.' Dann murmelte sie noch etwas wie, '...wieso mach ich das nur.', wobei ich meine Tante schon fest an mich drückte.
Unsere Umarmungen waren auch so etwas wie eine Routine geeorden, denn insgeheim sehnte ich mich  nach liebevoller Fürsorge, nach Umarmungen und nach persönlichen Gesprächen, ob ich das zugeben wollte oder nicht, und Mrs. Infusio schien die perfekte Wahl zu sein, weil sie für mich ein bisschen so war, wie eine zweite Mutter.
Nachdem ich mich mit einem 'Danke', blickte Mrs. Infusio überrumpelt an. Sie war sich ihrer Rolle als zweite Mutter wohl nicht so ganz bewusst oder es war ihr einfach unangenehm; dass uns einige Schüler beobachteten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen drehte ich mich um, verließ schlendernd den Platz und die kopfschüttelnde Mrs. Infusio. Den Rest des Mittags saß ich auf einer abgeschiedenen Bank, schrieb noch eine Weile mit Marc und hörte Musik, versuchte alle meine Probleme auszublenden, was mir nicht mal ansatzweise gelang.
Zwischendurch lief einmal Sally an mir vorbei, die mich böse musterte, worauf ich ihr nur schelmisch winkte und fröhlich 'Hallo Sally!' rief, was sie mit hochrotem Kopf weglaufen ließ.
Man konnte mich für verrückt erklären, weil ich so ausgelassen schien, aber niemand konnte wirklich  in mich hineinsehen.
Ich hatte zwar auf den glücklichen Modus geschaltet, der schlechte Themen vermied, aber in meinem Inneren sah es ganz anders aus.
Das Schlimmste daran war inzwischen die Angst vor der Nacht, vor dem Träumen um genau zu sein. Doch das würde ich solange, wie möglich vor mir weg schieben, denn die Sonne schien noch und am Tag, zumindest redete ich mir das ein, konnte mir niemand etwas antun.
Ich durfte nur nicht schlafen.

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