Kapitel 9

Kalter Schneeregen prasselte unnachgiebig gegen die Fensterscheiben. Das laute Klopfen erfüllte den ganzen Raum und ließ andere Geräusche dumpf wirken. Ich saß immer noch vor meiner Tante, die gerade etwas in ihren Notizen schrieb. Gespannt wartete ich darauf, womit wir beginnen würden. Ob sie sich schon eine Übung ausgedacht hatte?

In ihrem Zimmer war es wohlig warm, weil die Heizung auf Hochturen lief. Draußen wollte ich jetzt wirklich nicht herumstehen, denn es war kalt, nass und schmutzig, da sich der dunkle Erdboden in einen matschigen Sumpf verwandelt hatte.
Diesem Wetter konnte ich im Gegensatz zum zarten, weißen Schnee gar nichts abgewinnen.
Wenn die kleinen, weißen Flocken sah, die für mich immer aussahen wie wertvolle Kristalle, fühlte ich mich oft merkwürdig frei.
Ich hatte so viele Erinnerungen an wilde Schneeballschlachten, schiefe Schneemänner und Familien von Schneeengeln aus meiner Kindheit. Immer wenn ich Abends nach Hause gekommen war, hatte meine Mutter eine leckere, heiße Schokolade vorbereitet und meine kuschelige Wolldecke auf die Couch gelegt, um mich aufzuwärmen.

Außerdem liebte ich den frischen Geruch des Schnees.
Mein Blick glitt wieder vom beschlagenen Fenster hin zu Mrs. Infusio, die sich leise räusperte. 'Vielleicht können wir erst einmal deine Illusionen-Kraft erweitern.'
Das schien wohl am einfachsten.
Ich wartete darauf, dass Mrs. Infusio weitersprach, aber sie stand ruckartig auf. 'Wir gehen raus.'

'Bei dem Wetter?' Das junge Lächeln schlich sich wieder auf ihr Gesicht. 'Wenn dich das beruhigt, wir gehen in die Sporthalle.' Ich stand ebenfalls auf, denn das Wort Sporthalle klang in meinen Ohren immer gut.
'Ja, das würde mich beruhigen.', erwiederte ich lächelnd, schnappte mir meine Lederjacke und folgte meiner Tante, die bereits an der Tür stand.

Wir joggten eilig durch den Regen, um möglichst wenig nass zu werden. Dabei achtete ich darauf, mich um die Pfützen herum zu bewegen, um nicht auszurutschen.
Als wir endlich ankamen, war ich froh in die Wärme des Sportgebäudes einzutauchen. Frierend schüttelte ich den Schneeregen von mir wie ein nasser Hund, der gerade aus dem Wasser gesprungen war, und schritt dann wieder hinter meiner Tante her. Diese suchte schon eine freie Sporthalle, doch im unteren Geschoss war es um diese Zeit recht voll, denn viele Schüler wollten direkt nach der Schule noch ein wenig trainieren und Kalvin unterrichtete in der größten Halle sogar noch eine Klasse.
Mrs. Infusio nickte ihm kurz zu, was ihn zum Lächeln brachte. Er war wie immer beim Training guter Laune.

Gemeinsam schritten wir über die Treppe in die zweite Etage, um ein wenig Ruhe zu finden, denn oben schien niemand zu trainieren.
Wir traten durch die erste Tür und so langsam fragte ich mich wirklich, was meine Tante nun mit mir vor hatte.
Ob ich etwas ganz Großes, etwas ganz kleines, etwas buntes, etwas dunkles oder etwas abstraktes erschaffen musste? Ob ich das konnte?

Mrs. Infusio entledigte sich ihrer Jacke, also legte ich meine ebenfalls zur Seite. Danach folgte ich ihr in die Mitte der Halle. Meine Neugier stieg zunehmend, war lauter als die Stille bis sie endlich anfing zu sprechen. 'Wir starten mit einer einfachen Übung. Denke aber nicht, dass das Training dich nicht beanspruchen wird. Ich weiß, dass du mehr kannst, als du mir bereits gezeigt hast, denn du hattest eine Blockade, was heißt, dass eine außergewöhnliche Kraft in dir schlummert. Ich werde also versuchen alles aus dir herauszuholen, zumal die Ratsmitglieder das bei deiner Prüfung genauso machen werden, nur noch ein wenig schlimmer...'
Ich schluckte hörbar und versuchte die Gedanken an die Prüfung zu verdrängen.

'Bist du bereit?' Diese Frage duldete kein schlichtes Nein. Ihre Stimme klang fast so wie Kalvins Stimme, wenn er jemanden aufgebracht zur Ordnung rief, bewusst streng und bereits fixiert auf die bevorstehenden Übungen. 'Ja', sagte ich also deutlich und mein Körper spannte sich schon instinktiv an.
'Erschaffe bitte einen großen Käfig.'
Ich musste ein flüchtiges Lächeln unterdrücken, weil ich wusste, dass, wenn Kalvin diese Worte ausgesprochen hätte, sicher kein nettes Bitte einen Platz in ihnen gefunden hätte.
Zielstrebig sah ich auf die große, leere Fläche vor mich, die nur darauf zu warten schien, belegt zu werden, und holte tief Luft. Das würde nicht allzu schwer werden.
In meinen Gedanken formte ich einen riesigen Käfig mit kühlen, starken Gitterstangen aus einem glänzenden, dunklen Metall, die sich wie ein Netz um und über das Viereck zogen und sich auf meine Anweisungen immer mehr verengten, bis es echt aussah und bis ich zufrieden war.
Dann ließ ich ihn vor mir auftauchen, sodass neine Tante überrascht einen kleinen Schritt zurück trat. So einen großen Käfig hatte sie dann doch nicht erwartet.

'Und jetzt?'
'Erschaffe einen Elefanten.', befahl sie und blitzte mich mit ihren bekannten, braunen Augen an. Ich runzelte verwirrt die Stirn über ihre kreative Bitte, war aber gedanklich  schon dabei einen Elefanten zu formen.
Ein lebendiges Tier hatte ich noch nie geschaffen und doch war ich ruhig, ja fast besonnen an diesem Tag, als ich das Bild eines gemütlichen, grauen Elefanten vor meinem inneren Auge aufkommen ließ. Riesigen Ohren, große, traurige Augen, wie ich sie früher immer bei Elefanten beobachtet hatte, der lange, schmale Rüssel und das dumpfe Geräusch, was er beim tapsigen Laufen verursachte. Er nahm mehr und mehr Form an, während meine Gedankenstränge sich farbenfroh und lebendig um das illusionierte Tier woben, bis es endlich vor uns auftauchte.
Mrs. Infusio ging zu ihm hin, strich über seinen massiven Kopf und der Elefant bewegte seinen Kopf fast von allein in ihre Richtung. Sie verfiel seinem gutmütigen Charm nicht.

'Führe ihn in den Käfig.', erklärte  meine Tante in ihrem besten Bestimmerton, ließ ihren Blick dabei aber nicht von mir ab.
Ich ignorierte ihre ruhigen braunen Augen, die Meinen so ähnlich sahen, dachte jedoch, noch einen blassgoldenen Glanz darin zu erkennen, und hob meine Hand ein kleines Stück nach vorne.
Der Elefant stampfte zum Käfig hin, dessen Tür sich nun quitschend öffnete.
Ich kaute nachdenklich auf meiner Lippe und ließ den Boden leicht vibrieren, sodass Mrs. Infusio erschrocken mit ihrem Gleichgewicht kämpfen musste. Ein bisschen Eindruck schinden, machte mir unglaublich viel Spaß.
Mit seinen traurigen Augen sah das gigantische Tier mich noch einmal an und stieg dann wie befohlen in den Käfig. Ich schloss die Tür mit einer weiteren Handbewegung,  damit ich weniger mit dem Tier zu tun hatte, während es im Käfig saß, und wendete mich zu meiner Tante.

Diese kniff die Augen zusammen und forderte: 'Du lässt das Tier und alles was noch folgt die ganze Übungsstunde dort stehen. Jetzt möchte ich die Illusion eines  Kuchenduftes von dir.'
Ein Duft? Auf diese Idee war ich auch noch nicht gekommen.
Nostalgisch stellte ich mir den Schokokirschkuchen meiner Mutter bildlich vor und atmete dann tief seinen Duft ein.
Liebliche süße durchströmte meine Lungen. Kurz genoss ich die Erinnerung an meinen Lieblingskuchen und an die verschlafenen Tage, an denen meine Mutter mich in den Ferien damit geweckt hatte, einfach um mir eine Freude zu machen, und verteilte die Partikel dann im Raum.
Eine Wolke aus Duftstoffen schwebte zur Decke, entlud sich über der Halle und fast meinte ich wirklich den leckeren Kuchen auf meiner Zunge zu schmecken. Auch meine Tante schnupperte begeistert, sodass ich mich willkürlich fragte, ob meine Mutter ihn auch schon für Mrs. Infusio gebacken hatte.
Nach einem kurzen Augenblick bemerkte ich, dass das nicht sein konnte. Sie hatten ja keinen Kontakt mehr gehabt. Für mich hatte dieser Duft mehr Bedeutung als für meine Tante.

'Und nun, mach das Licht aus und zünde eine Kerze an.' Konzentriert behielt ich die anderen Illusionen aufrecht und ließ einen schwarzen Schatten wie eine Decke um das Licht fließen, sodass es hier unten aussah, als wären die Lampen aus. Dann formte ich eine rote Kerze und stellte sie in die Mitte des Raumes, wobei der Elefant ein leises Geräusch von sich gab.
'Größer.', murmelte meine Tante bedacht. Der leuchtend rote Wachs wuchs fast bis zur Decke und die glühende Flamme ließ ich größer und größer, reißender und gefährlicher  züngeln. Außerdem mischte ich den Geruch von brennendem Kerzenwachs und Hitze in den noch bestehenden lieblichen Kuchenduft.

Schweiß tropfte über meine Stirn. So viele intensive Illusionen auf einmal zu halten, war alles andere als einfach.
'Mach das Licht wieder an und puste die Kerze aus.', befahl meine Tante fast wie in Trance durch diese magische Atmosphäre, was mir zumindest einen Teil der Arbeit von den Schultern nahm. Mit einem starken Puster, der wirklich aus meinem Mund kam, verglomm die überdimensional große Kerze. Wilder Rauch aus schwarzen Aschepartikeln schwob durch die Luft und wurde von einem durchdrungenden Windzug aus dem kleinen Fenster an der Decke getragen.

Mein Atem hatte sich beschleunigt und so langsam nahm ich eine leicht verkrampfte Haltung an.
Mrs. Infusio schien das zu bemerken. 'Willst du aufhören? ',fragte sie vorsichtig von der Seite, war stets verantwortungsvoll und auf meine Gesundheit bedacht.
Ich biss die Zähne zusammen.
Nein, ich hatte noch Kraft, ich wusste, dass da noch mehr war, es  viel mir nur schwer sie zu benutzen und dafür brauchte ich wohl einfach regelmäßige Übung.
Sie sollte noch etwas mehr fordern. 'Noch nicht.', sagte ich also und versuchte möglichst wenig Kraft auf die bereits bestehenden Illusionen zu lenken, was in mir ein Gefühl der Erleichterung aufkommen ließ.
'Gut dann möchte ich Polarlicht an der Decke.', beschloss meine Tante nicht mehr ganz so streng.
Ich sammelte mich noch einen Moment bevor ich loslegte und blickte dann gemeinsam mit Mrs. Infusio erwartungsvoll an die Decke.

Die Farben in meinem Kopf explodierten, konnten endlich alle hinaus, konnten endlich alle fliehen. Dominant leuchtendes Blau, aggressives Rot und sanftes violett machten den Anfang. Lebendiges Grün, fröhliches Gelb und selbstloses Rosa schwammen in Schlieren an ihnen vorbei und ein glitzerndes, weißes Schimmern veredelte das Polarlicht, zauberte ein Licht wie das der Sterne in einer lauen Sommernacht, obgleich es draußen regennasser, kalter Winter war.
Einen kurzen Moment konnte ich die Aussicht noch genießen, spürte einen winzigen Funken Glück unter all diesen Emotionen.

Plötzlich zogen sich alle Illusionen in mich zurück, als würde man mir dieses Glück verwehren.
Alles verschwand, das traurige Tier im Käfig, die erloschene Kerze und das schöne Polarlicht, selbst der  Kuchenduft war weg. Die Leere hatte den Raum wieder eingenommen.
Ich war überspannt wie Strom der durch tausende Leitungen in einer Stadt floss und durch die Nutzung der Bewohner zu sehr verbraucht wurde. Natürlich folgte der Stromausfall und nun durchfuhr eine erdrückende Müdigkeit meinen Körper.
Jetzt erst bemerkte ich, wie wenig ich in den letzten beiden Tagen geschlafen hatte.
Eine ruhige Nacht wünschte ich mir um so mehr. Heute sollte ich wohl früh schlafen gehen.

Erschöpft wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und wendete mich meiner Tante zu. Hoffentlich war sie nicht enttäuscht darüber, dass ich die Illusionen nicht länger halten konnte.
Statt der erwarteten Enttäuschung entdeckte ich reinen, klaren Stolz. Eine Welle ihrer Wärme durchflutet mich und es tat gut diese Wärme zu spüren. Ich genoss das Gefühl mit geschlossenen Augen und entspannte mich und meine verkrampften Muskeln wieder.
'Das hast du sehr gut gemacht.', lobte Mrs. Infusio mich, worauf ich sie tapfer anlächelte. Eigentlich wollte ich endlich in einer lang erwarteten Umarmung liegen, mich der schützenden Nähe einer vertrauten Person hingeben, aber das konnte ich unter keinen Umständen, denn gerade jetzt war meine Kraft hungrig und ich schwach.

'Für heute sind wir fertig. Morgen können wir aber gerne weitermachen. ' Es war ein zu verlockendes Angebot weiter an dem aufregenden Teil meiner Kraft zu üben und gegen Gabe Hanwen musste ich mit allen Mitteln gewappnet sein. Meine Kraft zu nutzen, würde sehr hilfreich sein.
'Üben wir morgen weiter.', antwortete ich und ein kleiner, verborgener Teil in mir erhoffte sich zusätzlich, dass dieses Training mir dazu verhalf, meine Kraft besser zu kontrollieren. 'Wir treffen uns dann noch einmal in meinem Zimmer. Ich glaube, ich habe schon eine ganz gute Idee, was wir machen können.' 
'Was denn?', fragte ich neugierig, als ein geheimnissvoller Zug sich auf das sonst so offene Gesicht meiner Tante legte. 'Das wirst du dann morgen erfahren.'
Hoffnungsvoll blinzelte ich sie mit meinem süßesten, kleines-Mädchen-Blick an wie ein Hundewelpen seine Mutter, doch meine Tante blieb unnachgiebig und schüttelte grinsend den Kopf.
'Freu dich doch auf die Überraschung.'

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