Kapitel 7

Ich bemerkte seine Präsens sofort.
Diese Aura hätte ich überall wiedererkannt.
Schon von weitem konnte ich sie spüren und jedes Mal wurde mein Herz glühend warm.
Jedes Mal zog es mich zu ihm hin und doch konnte ich ihn nicht ansprechen, nicht berühren.
Entschlossen verharrte ich in meiner Position und versuchte möglichst flach zu atmen, weil mein Herz beachtlich schnell und laut klopfte, sodass sich das entstandene Geräusch für mich anhörte wie ein kleines Erdbeben.
Solange er mich nicht sah, war alles gut.

Möglichst genau horchte ich auf seine vorsichtigen Schritte, was leichter gewesen wäre, wenn ich ein Fühler wäre. Meiner Vermutung nach inspizierte er gerade die Puppe, in der immer noch meine goldene Axt hing.  Eine Axt konnte er nicht auf mich zurückführen, denn mit dieser Waffe kämpfte ich äußerst selten. Wahrscheinlich erinnerte sie ihn mehr an seinen besten Freund Hannes, früheren besten Freund, nachdem er uns hinterlistig verraten und an die Ausgeschlossenen ausgeliefert hatte.

'Ist da jemand?', hallte seine raue Stimme durch die Halle und zerschnitt dabei die Dunkelheit.
Ich rührte mich nicht, bis ich seine sicheren Schritte hörte, die an einer der Wände endeten, wo er scheinbar  die die Axt befestigte.
Danach ging Luis wieder zum Ausgang und ich konnte mir gut vorstellen, wie Luis mit wachem Blick den Kopf schüttelte.
Glücklicherweise hatte er nicht das Licht angemacht und mich entdeckt. Aufgeregt wartete ich darauf, dass er die Halle verließ, damit ich mein Training beenden konnte.

Dann ertönte ein unerklärliches, unangenehmes Geräusch, bei dem ich das Gesicht verzog.
'Nia?', erklang seine verwirrte Stimme.
Ich riss die Augen erschrocken auf, bewegte mich aber keinen Millimeter. Wie konnte er wissen, dass ich hier war?
Er konnte mich gar nicht gesehen haben. Nur einen Moment später fiel mir meine Wasserflasche ein, die ich auf die Bank gestellt hatte. Er hatte sie wohl entdeckt und als Meine erkannt. Eilig verschwand er.

Ich wartete noch einen Moment, bevor ich tief ausatmete und meinen Kopf leicht gegen den Kasten hinter mir schlug.
Er hatte kein Interesse mehr.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hätte. Vielleicht, dass er die Flasche mitnahm, um sie mir wiederzugeben, oder dass er das Licht anmachte und nach mir suchte.
Das würde wohl kaum der Fall sein,  nachdem ich mit ihm Schluss gemacht hatte ohne einen wirklichen Grund. Zumindest ohne einen Grund, den er kannte. 
Sicherlich war es am besten so, wie es jetzt war. Ein kleiner Teil hinter meiner Fassade hörte jedoch nicht auf, sich unsere gemeinsame Zukunft vorzustellen.

***

Dieses Mal war es nicht dunkel, denn das silberne Mondlicht des Vollmondes glitzerte durch die Luft und füllte die kleine Lichtung am Rande des Waldes.
Unter mir waren eine nachtschwarze, scheinbar unendliche Tiefe, denn meine Füße baumelten haltlos in der Luft und unter mir hatte sich ein Loch aufgetan.
Schallendes Lachend umgab mich und ließ kleine Schauder über meinen Rücken laufen.
Ich versuchte mich zu bewegen, aber die festen Seile, welche meine Hände über meinem Kopf und meine Beine unter mir fesselten, hielten mich an einer Art Pfahl fest.
Sie lagen zu fest, als dass ich mich hätte bewegen können und doch war mir dieser Pfal lieber als das Loch unter mir, in das ich ohne die Seile stürzen würde.
Irgendwo hinter mir vernahm ich Stimmen, versuchte mich umzudrehen, aber das funktionierte nicht einmal durch schmerzvolle Verrenkungen.

Dann tauchte meine Mutter neben mir auf. Tränen lagen in ihren großen, braunen Augen und ich wollte sie unbedingt trösten.
Sobald ich den Mund öffnete, kam nichts mehr als ein Krächzen heraus. Ich versuchte erneut zu sprechen, aber meine Stimme war wie verschwunden.
'Wegen dir.', stellte sie kalt fest.
Ich wollte das nicht. Bitte verzeih mir doch. Ich vermisse dich, Mom.
All das versuchte ich ihr mit meinem Blick zu sagen, aber sie verstand mich nicht.
Luis tauchte direkt neben ihr auf und sah mich mit hasserfüllten, blauen Augen an.
Seine Augen hatten die liebevolle Provokation und das Funkeln verloren, das sie sonst immer besaßen.
'Wie konnte ich mich nur jemals in dich verlieben. Es ist wirklich nicht schwer, dich zu hassen, nachdem ich dein wahres Ich kennengelernt habe.'
Ich atmete tief die modrige Luft ein, um mich zu beruhigen.
Das konnte nicht stimmen, das war nicht real.

Jen trat ähnlich wie eine böse Königin  mit hoch erhobenem Kopf
und gefährlich blitzenden Augen, deren grüne Sprenkel lebhaft hin und her zu tanzen schienen, aus dem nachtschwarzen Schatten heraus.
'Du bist eigentlich mehr eine Ausgeschlossenen als eine Gewählte, Süße.' Dabei betonte sie besonders meinen Kosennamen.
Ich schloss meine Augen, weil ich ihre Gesichter nicht mehr sehen wollte, presste die Lippen aufeinander, um zu verdrängen, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen und stellte mir vor mich in einem weichen Wattebausch zu befinden, um die bosartigen Stimmen, die an meine Ohren drangen, abzudämpfen.
Trotzdem hörte ich den gellenden Schrei von Gabe Hanwen, welcher mich erzittern ließ.

'Ab in die Hölle mit ihr!'
Die Seile an meinen Armen und Beinen wurden durchgeschnitten und ich fiel tiefer und tiefer in das endlose Loch. Gelangte dort hin, wo mich jeder sehen wollte, zu dem Ort, an den ich eigentlich hingehörte...

***

Der Schock stand mir noch immer ins Gesicht geschrieben. Ich hatte ihn heute morgen einfach nicht abschütteln können. Dafür hatte mich der letzte Albraum zu tief verletzt. Alles in mir schrie danach wegzulaufen oder sich irgendwo an einem sicheren Ort zu verstecken, aber wie oft hatte ich mir schon eingestanden, dass ich nicht vor den Albträumen weglaufen konnte, weil Gabe Hanwen die Kontrolle über mich hatte und mich immer verfolgen, mich immer jagen würde?
Sehr oft.
Und wie oft hatte ich schon meinen Instinkt und meine Angst unterdrückt, gelächelt und so getan als wäre alles okay?
Zu oft.
Selbst wenn ich weinen würde, hätte Gabe Hanwen nur das erreicht, was er die ganze Zeit wollte, denn der Sinn meiner Träume war einzig und alleine, mich vollkommen zu brechen und meine Lebensenergie zu zerstören, so wie ich es mit seiner Tochter gemacht hatte.
Das Letzte, was ich machen durfte war aufgeben und mich verstecken. 
Ich hielt mir eine Hand an die Schläfe  und vezog das Gesicht, als mich ein erneuter Schmerz durchfuhr. Die Kopfschmerzen, die die Träume mit sich brachten, schienen mal wieder meinen Schädel zu zerdrücken.
Eisern folgte ich weiter dem Weg durch die Allee, hielt aber schließlich den Schmerz nicht mehr aus.
Ich stoppte an einer Bank und kramte in meiner Schultasche.
Nachdem ich die Kopfschmerztabletten endlich gefunden hatte, warf ich gleich zwei von ihnen ein. Die Packung war bald alle, doch es war schwer ohne Aufsicht meiner Tante an eine Neue zu kommen. Ich sollte wohl sparsamer mit ihnen umgehen.
Grummelnd warf ich die Tabletten zurück in die Tasche und steckte mir eine verlorene Haarsträhne hinter das Ohr, weil der starke Wind mir die Haare ins Gesicht geweht hatte. Vielleicht hätte ich mir heute doch lieber einen Zopf binden sollen.

Erst als ich hochblickte, bemerkte ich seinen wachen Blick, selten war ich so unachtsam. Meine Kopfschmerzen hatten wohl meine Wahrnehmung geschwächt.
Luis Augen waren ernst zusammengekniffen und er hielt seinen intensiven, durchdringenden Blick starr auf mich gerichtete, als ob er mich schon lange beobachten würde. So langsam kribbelte mein ganzer Körper von seinen Blicken.
Sie waren noch härter als sonst, noch bestimmter, als wollte er etwas herausfinden, nur indem er mich ansah. Vielleicht lag dieses ungewisse Gefühl, aber auch an der Tatsache, dass Luis mich schon seit Wochen nicht mehr wirklich angesehen hatte.

Meine Gedanken flogen zurück zu dem Moment, wo seine Augen das letzte Mal so wütend geglänzt hatten. Mir wurde unwohl, sobald die Erinnerung an meinen Traum in mir aufkam und mich mit erbarmungsloser Kälte erfüllte.
Genauso schnell wie sie da war, unterdrückte ich sie wieder.
Noch hatte ich die Kontrolle.
Sein Blick glitt jedoch nicht von mir ab, sodass ich mich wieder in Bewegung setzte und meine Schritte verschnellerte, um aus seinem Radar zu entkommen.

Die Schultür hinter mir zu lassen, entspannte mich sichtlich, denn Luis blieb natürlich draußen. Den Teil von mir, der wollte, dass Luis mir folgte, ignorierte ich standhaft.
Wieso sollte er das auch tun?
Sein Blick war in keinster Weise liebevoll gewesen.
Eher das Gegenteil.
Damit musste ich zurechtkommen, denn er würde mir nach dem Ende unserer Beziehung sicher keinen freundlichen, sanften Blick oder sein leises Lachen schenken.
Irgendwann würde ich auch noch über ihn hinwegkommen, so wie Jen es mir versprochen hatte.
Niemand hatte sein ganzes Leben lang Liebeskummer.

Andererseits gab es doch noch Hoffnung. Wenn ich meine grauenvolle Kraft unter Kontrolle bekam, ihm alle meine schrecklichen Geheimnisse erzählte, ohne dass er mich für das Monster hielt, das ich war, ich bis dahin noch nicht tod war, er wegen des abrupten Beziehungsendes nicht mehr sauer auf mich war und wenigstens noch den Bruchteil seiner vorherigen Gefühle für mich besaß, dann konnten wir doch wieder zusammenkommen und dann würde alles gut werden.

'Hey Süße!', ertönte plötzlich Jens Stimme neben mir.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich aus meinen wirren Gedanken geschleudert wurde und blinzelte sie an.
'Hast du einen Kaffee?', fragte ich flehentlich, doch sie schüttelte bedauernd den Kopf.
'Ne, heute leider nicht, ich habe ein wenig zu oft auf die Schlummertaste meines Weckers gedrückt und musste mich gerade voll abhetzen. Dafür bin ich aber noch echt pünktlich. Das muss dein guter Einfluss sein, Süße.' Ihr Kosenname schien nich auszulachen. 'Wahrscheinlich.', brachte ich stumpf hervor.
Sie durchschaute mich sofort. 'Schlecht geschlafen?'
Ich nickte fast unmerklich und versuchte nicht zu zeigen, wie schrecklich diese Nacht wirklich für mich war. 'Nicht viel und nicht gut geschlafen.', erwiederte ich knapp.

Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung und schlenderten durch die Schulflure.
'Und du?', erkundigte ich mich freundlich, weil Jen um einiges besser als ich gelaunt war.
Sie schien nur auf diese Frage gewartet zu haben. 'Ich hab gut geschlafen. Gestern Abend war es echt schön. Schade, dass du nicht dabei warst.'
Ich hob die Augenbrauen. 'Ganz ehrlich? Ich hätte sowieso nur eure liebliche Zweisamkeit gestört.'
Jen kicherte leicht errötend, was meine Vermutung bestätigte. 'Das stört mich doch nicht. Wir hätten uns ja benommen. Und wenn doch, hätten wir dich ja einfach mit irgendwem verkuppeln können.'
Ihr Grinsen war heute mal wieder unglaublich ansteckend, aber ich konnte mich noch nicht zu einem eigenen Lächeln hinreißen lassen.
'Ein weiterer Grund nicht mit euch zu kommen.', stellte ich schlicht fest und vermisste insgeheim noch immer den warmen, wachmachenden Kaffee.

Jen legte den Kopf schief, wobei ihre heute unordentlichen gekämmten Locken fröhlich hin und her wackelten. 'Ach komm schon. Das war ein Witz. Justin mag dich auch. Er hat gesagt, er nimmt mich, so wie ich bin und du gehörst auch mit dazu.'
Ich war fast gerührt von ihren Worten, bis sie noch etwas hinzufügte. 'Zumindest zum Teil.'
Gespielt verärgert, aber auch ein wenig verwirrt schnaufte ich.
'Zum Teil? Willst du mich halbieren?' 'Naja, ob ich die Hälfte abbekomme, ist noch ungeklärt, zumal es ja noch andere Anwärter gibt, die auch einen Teil von dir haben wollen. Ich versuche es aber, wenn du willst.', erklärte Jen sachlich als spräche sie über einen leckeren Kuchen.
'Die Liste meiner Freunde und Verwandten, die ein Stück von mir haben wollen, ist wirklich nicht mehr lang. Sie zuckte nur mit den Schultern. 'Bleibt mehr für mich.'
Meine Mundwinkel zogen sich ein kleines Stück nach oben, was man schon fast als Lächeln abstempeln konnte.

Sie klopfte mir auf die Schulter, bevor wir weitergingen, wobei ich froh war meine Lederjacke und einen dicken Pulli anzuhaben. So konnte ich ihre Lebensenergie nur ganz sanft spüren.
Wir stiegen die Treppe hinauf, um zum Unterricht zu kommen.
Mein Kopf dröhnte noch immer, als hausten dort hunderte Bienen, aber die Tabletten begannen langsam, ihre Wirkung zu zeigen.
'Hast du heute Zeit?', fragte meine beste Freundin und verzog nachdenklich den Mund, als Pläne sie irgendetwas.
Ich sah sie bedauernd an.
'Nein, nicht wirkkich. Ich muss zu meiner Tante, aber vielleicht sind wir schnell fertig und ich habe danach noch Zeit.'
'Gut, dann ruf' mich an, wenn ihr früher fertig werdet. Was macht ihr denn überhaupt?'
Ich zuckte die Schultern, weil ich ihre Neugier nicht befriedigen konnte.
'So genau weiß ich das auch noch nicht. Hörte sich wie die Fortsetzung von meinem Kraftunterricht an.'

Jen sah mich mit zusammengekniffenen Augen von der Seite an und versuchte anscheinend meine Gefühle zu dem Treffen in meinen Gedanken zu lesen.
Ich gab ihr den Richtigen Teil frei, bevor sie noch in meinen Albträumen schnüffelte.
'Freust du dich denn nicht? Das ist doch spannend?', hakte sie fast schon überrascht über meine Verärgerung und Langeweile nach.
Ich seufzte laut und blieb vor der Klasse stehen, in der ich jetzt Unterricht hatte.
'Es gibt durchaus Schöneres.'
'Aber auch durchaus Schlechteres.', erklärte Jen und warf mir dabei einen aufmunternden Blick zu, welchen ich nur erschöpft und müde erwiedern konnte.
'Ein kleines Schläfchen zum Beispiel wäre mir jetzt um einiges lieber.'
Sie fing wieder an zu Grinsen.
'Genau die richtige Einstellung.'

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