Kapitel 62
Behutsam lugte ich über die Kante des ersten Kastens, auf dem ich bereits stand und stellte fest, dass mich und der nächste Kasten gut fünf Meter trennten, eine Sprungweite, die ich nicht einmal mit Anlauf hätte bewältigen können, aber Kalvin hatte nicht umsonst von mir gefordert kreativ zu sein und das würde er jetzt auch bekommen.
Ich sprang ab und ließ unter mir eine bauschige, weiße Wolke entstehen, auf der ich dann gezielt landete. Gleichzeitig merkte ich an einem Lufthauch an meiner Stirn, dass nur knapp über meinem Kopf ein zischender Pfeil hinwegschoss.
'Der hätte getroffen. Mehr Konzentration!', forderte Kalvin streng und beim Abschuss des nächsten Pfeils duckte ich mich rasch, bevor ich meinen Weg über den nächsten kurz vor meinem Aufkommen auftauchenden Wolken beenden konnte, die in echt wahrscheinlich nicht so stabil gewesen wären.
Schon sauste der nächste Pfeil auf mich zu. In dem Moment, in dem ich wusste, dass es zum Ducken zu spät war, streckte ich intuitiv meine Hand aus und ließ den Pfeil in der Luft vibrierend vor mir stehen.
Kalvin machte den Mund auf, schloss ihn dann aber wieder, während meine Tante stumm nickte und dabei nachdenklich mit den Zähnen knirschte.
Ich sah das feurige Blitzen eines bevorstehenden Kampfzuges in Kalvins Augen, welches ich so oft bei mir entdeckte, wenn ich meine Gedanken vor einem Spiegel zufällig auf einen Kampf der Vergangenheit oder der Zukunft lenkte, und wusste schon, bevor die Handlung abgeschlossen war, dass er jetzt einen neuen Pfeil hervorziehen und einspannen würde.
Von einer spontanen Idee geleitet, drehte ich den Pfeil vor mir mit einer sachten Handbewegung um und schoss ihn zeitgleich mit Kalvins entgegenkommendem Pfeil los. Beide trafen im drehenden, windenden, zischenden Pflug kraftvoll aufeinander und mein Pfeil durchbohrte den von Kalvin.
Ich grinste fröhlich, fast siegesgewiss, wandte mich von dem Szenario ab, sodass mein Pfeil direkt neben mir klirrend zu Boden fiel, während Kalvins Pfeil nun sicherlich unbeschadet an der Stelle des Aufpralls lag, und wendete mich dem nächsten Teil des Parcours zu, ohne dabei aber Kalvin, der sich schon wieder für den nächsten Schuss vorbereitete, aus den Augen zu lassen.
Eine schlichte, poröse Holzleiter führte mich den Weg vom Kasten herunter.
Dafür würde ich zu lange brauchen. Der Einfachheit halber baute ich eine dicke, hohe Mauer aus roten Backsteinen, um mich von meinen Lehrern abzuschirmen und stieg gemütlich die Treppe hinab. So konnte man das auf jeden Fall machen.
Von hinter der Mauer hörte ich Kalvins leicht empörte aber durchaus belustigte Stimme herüberschallen: 'He, das ist unfair. Du lässt mir ja gar keine Chance.'
Trotz dieser Anmerkung genoss ich noch einen Moment die Sicherheit meiner Mauer und dazu sei gesagt, dass ich eine gute, stabile Mauer inzwischen in jedem Fall zu schätzen wusste, denn sie war ein leicht illusionierter Schutz sowohl gegen physische und psychische Schmerzen als auch gegen wahrheitsliebende Lügenaufdecker.
Eigentlich bräuchte jeder eine Mauer für sich, um seine Ängste, Gefühle und Geheimnisse einzubunkern und ein bisschen Schutz, ein bisschen Privatsphäre zu erlangen. Dann wären wir vielleicht alle weniger angespannt.
Nun musste ich unter einer dunkelblauen, leicht gekrümmt hingelegten Matte hindurchkriechen, die links auf einem Kasten stabilisiert war.
Sobald ich unter der Matte versteckt war, löste ich die rote Mauer auf. Das durchkriechen bereitete weniger Spaß, da ich ähnlich wie Soldaten im Militär eng über den Boden robben musste, was mich fast zu einem unpassenden, kindischen Lachen animiert hätte.
Das nächste Problem würde das herauskommen aus dem kleinen, flachen Tunnel darstellen und ich war mir fast sicher, dass Kalvin, sich meiner komplizierten Lage bewusst, auf die Öffnung zielte und wie ein Adler auf seine Beute auf mein Auftauchen wartete.
Einen Moment blieb ich noch liegen, überlegte, wartete.
Mühsam stand ich auf, Kalvins Pfeil kam auf mich zugeschossen, schien nicht erwartet zu haben, dass ich mich einfach weiter aufrichtete und meine Tante schnappte sorgenvoll ächzend nach Luft, als der Pfeil mich traf, durch mich hindurch schoss und klirrend gegen die Wand hinter mir traf.
Die perfekte Illusion meiner selbst löste sich auf wie eine schillernde Seifenblase, die man frech mit dem Finger zerplatzt hatte.
Die nächste Illusion folgte, bäumte sich auf, trat heraus, ging ein paar Meter, bis Kalvin schoss und sie in Luft auflöste. Bei der dritten Illusion hörte er auf, war verblüfft.
Bei dir vierten grummelte er leise: 'Wie viele von dir gibt es denn?' und tatsächlich hörte ich meine Tante belustigt, wenn auch schüchtern wie ein Schulmädchen, zumal es so untypisch für sie war, kichern.
Es sammelten sich immer mehr Illusionen von mir in einem Kreis an, sodass ich ebenfalls als eine von vielen aufstand, exakt die gleichen Bewegungen ausführte und mich mit starrem, emotionslosen Blick zu den anderen Nias gesellte.
'Und, wer ist die Echte?', fragten wir provokant in einem unheimlichen Chor.
'Ehrlich?', fragte Kalvin verwirrt und seufzte leise, 'Ich habe keine Ahnung.' Auch meine Tante zuckte hilflos mit den Schultern und so langsam fand ich wirklich meine Freude in diesem Spiel. Rasch löste ich meine persönliche Armee von Illusionen auf, stand wieder alleine vor ihnen und bevor Kalvin sich wieder fassen und auf mich schießen konnte, machte ich zwei große Schritte nach rechts, schnappte mir ein lianenähnliches Seil und schwang mich von einem zum anderen Kasten, was mich an das Ende des Parcours direkt neben der Eingangstür der Sporthalle beförderte.
Stolz wollte ich mich zu meinen Lehrern umdrehen, hatte aber nicht bemerkt, dass meine Tante und Kalvin bereits in meiner Nähe standen und sich kampfbereit und mit gezückten Waffen näherten.
Im ersten Moment fühlte ich mich hilflos, aber das brauchte ich nicht, denn ich war alles andere als mittellos, hatte etwas viel stärkeres als eine Waffe, war schon jetzt im Einklang mit meiner Macht und spürte sie warm durch meinen Körper fließen.
Die größte Schwierigkeiten würde wohl darstellen, dass ich nicht die unbezweifelbar königlichen Teile meiner Kraft nutzte. Mit diesem Gedanken warf ich mich mutig, sogar selbstbewusst, in den Kampf.
Zuerst zauberte ich mir einfach ein Schwert, mit dem ich den Schlag meiner Tante abblocken konnte. Dann duckte ich mich geschickt unter Kalvins Schlag hindurch, wusste, dass ich ihn zuerst ausschalten musste, um gewinnen zu können, verwandelte mich in einen kleinen, windigen Vogel und zog ein dickes, braunes Seil einige Male, um seinen Körper, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Innerhalb eines Augenblicks, eines kleinen Wimpernschlages verwandelte ich mich dann in einen großen Adler, war dieses Mal selbst der Jäger und stieß Kalvin kräftig um. Dann flog ich ein Stück hoch, kreischte laut und nutzte den Schreck, der deutlich in den Augen meiner Tante abzulesen war, indem ich mich in dem Bewusstsein, dass sie zusammenzucken würde, auf sie niederstürtzte und erst kurz vor ihr wieder meinen eigenen Körper annahm.
Es war fast zu leicht, ihr die Beine unter dem Körper wegzuziehen und meine Waffe abwechselnd auf beide am Boden liegenden Lehrer zeigte.
Damit hätten sie nie gerechnet und das war mein Vorteil gewesen.
'Überraschend gut. Als hättest du dein ganzes Leben nichts anderes gemacht.', erklärte Kalvin, nachdem ich die festen Seile um seinen Körper aufgelöst hatte. Meine Tante verschränkte unsicher die Arme vor der Brust und sah mich mit schief gelegtem Kopf nachdenklich an.
'Es wirkt wirklich so, als hättest du eine ähnliche Situation schon ein paar Mal geübt. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie du so schnell, so gut werden konntest. Scheinbar hat das Training mit Jack etwas gebracht.', stellte sie fest und nur ich konnte den kritischen Ton in ihrer Stimme wahrnehmen.
'Das haben wir dort überhaupt nicht geübt.', stellte ich versöhnlich fest, 'Ich glaube, es brauchte einfach diesen einen Moment, wo es bei mir bezogen auf meine Kraft Klick gemacht hat und dann klappte alles viel besser.
Außerdem habe ich ja auch schon einige Kampferfahrungen sammeln können, wo ich zugegebenermaßen nie so kreativ war.'
Kalvin nickte bedacht und verringerte vertraut die Distanz zwischen uns.
'Ja, das hast du leider schon einige Male miterleben müssen.', stellte er fest und blickte mich tief aus seinen weichen, beigen Augen an, die mich an die eines Löwen erinnerten, warum er mich so ansah, wusste ich auch nicht so genau, vielleicht wollte er einfach nur sichergehen, dass es mir psychisch gut ging, 'Und zu diesen Zeiten ist das Böse nie weit entfernt.'
Schnell fragte ich an dieser Stelle nach, um das Thema unseres Gespräches auf die dunkle Vorahnung meiner Tante zu lenken.
'Also wisst ihr, dass bald ein neuer Kampf auf uns lauert?'
Die Besorgnis in meiner Stimme war echt, aber da schwang noch etwas anderes, größeres, wütenderes mit, was ich lieber unterdrückt hätte.
Nun konnte ich nur hoffen, dass sie es nicht bemerkten oder schlichtweg ignorierten.
Schnell vergrößerte Kalvin wieder den Abstand zwischen uns, hatte wohl eine zu heftige Andeutung gemacht und war sich dessen erst jetzt bewusst geworden.
Stattdessen trat meine Tante näher an mich heran und legte mir eine Hand auf die Schulter, worauf ich, weil ich diese Bewegung jetzt nicht erwartet hatte, nur ganz leicht zusammenzuckte, meine Kraft mir aber recht rasch zustimmte, dass sie eine gute Freundin war.
'Sie interessiert sich sehr für die Sicherheit anderer, möchte immer von mir wissen, was sich grob so abspielt, vielleicht weil sie in so viele Kämpfe und Aufgaben involviert war, vielleicht, weil sie eigentlich schon zu viel weiß... aber Nia kann damit umgehen. Sie ist stark, trotz allem, was sie durchmachen musste.', erklärte meine Tante Kalvin ehrlich den Kern meiner Neugier, hatte Kalvin scheinbar als vertrauensvolle Person eingestuft.
Das einzige Problem an ihren Worten war, dass ich es hasste, wenn man in dritter Person über mich sprach, während ich unbeachtet im Raum stand und somit nicht als fast erwachsene, eigenständige Person wahrgenommen wurde.
Leicht verärgert ergänzte ich also: 'Sie steht hier neben euch im Raum und kann für sich selbst sprechen.'
Meine Tante wandte den Blick mir zu und lächelte entschuldigend, nahm aber noch nicht die Hand von meiner Schulter, wartete erst auf Kalvins Antwort.
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