Kapitel 60

Ein ganz normaler Tag.
Ich wachte auf, putzte mir benebelt von der Folter in meinem letzten Alptraum die Zähne, wusch mir unter der Dusche die getrockneten Tränen aus dem Gesicht, traf auf einen die Müdigkeit vertreibenden Kaffee und Jen, die versuchte mich aufzuheitern oder sprach wie ein reißender Fluss, um mich abzulenken. Schließlich setzte ich mich meist schweigend und mit hängendem Kopf, manchmal auch  motiviert zuhörend in den Unterricht, fand sogar Interesse an einigen Themen, versuchte in der Pause neben Jen und Justin nicht ganz so deplatziert zu wirken, litt unter der Ignoranz von Luis, verbrachte meinen Nachmittag mit anstrengendem, aber befreiendem Training und half in der Bibliothek beim stets freundlichen Jack aus.
Nachmittags traf ich mich gelegentlich mit Jen und erledigte bis in die Nacht meine Hausaufgaben, um bloß noch nicht einschlafen zu müssen.
Ein auszehrender Tag, der meine kostbare Energie raubte.
Ein trister Tag, der nur wenige Glücksmomente besaß.
Einer von vielen in einer langen Reihe, die gar nicht mehr enden wollte.
Und doch ging es weiter, Schritt für Schritt, ich hatte Ziele, Träume und Wünsche, war nicht mehr in einem endlosen Labyrinth des Unwissens gefangen und verbesserte sogar meine Kampffähigkeiten und die Kooperation mit meiner Kraft.
Es ging trotz allem Übel bergauf, nur leider verweilten meine Gedanken in der Vergangenheit und mein Gepäck noch sehr schwer, da ich es mit Bildern von Luis gefüllt hatte.

Der Geschichtsunttericht war gerade mit einer großen und missmutig empfangenen Hausaufgabe beendet worden, die die Schüler dazu veranlasste teils schmollend, teils gelangweilt und teils müde nacheinander hinauszugehen. Es entstand ein kleiner Knubel an der Tür, weil niemand es abwarten konnte, den stickigen, zumal mit offenen Fenstern zu kalten, Raum, in dem von der eigenen Geschichte erzählt wurde, zu verlassen.
Ich ließ mir Zeit und gab Jen ein Zeichen schonmal vorzugehen, hatte nämlich bemerkt, dass meine Tante den ganzen Unterricht über immer wieder bedacht zu mir gesehen hatte, als wollte sie mir etwas mitteilen.
Sobald alle Schüler hinausgetreten waren, rief meine Tante mich wie erwartet zu sich an den Lehrerpult, blickte mich eine Weile fragend an, was mich eher verwirrte und nickte dann langsam.
'Ich sehe, dass du noch mit vielen Problemen zu kämpfen hast, vielleicht einfach mit einem überladenen Alltag insgesamt, aber da das mit deiner Kraft so gut funktioniert, wollte ich dich fragen, ob du weiter mit mir trainieren willst. Kalvin hat sich angeboten, uns behilflich zu sein, weil er die Nutzung deiner Kraft im Kampf als beeindruckend empfunden hat und vielleicht können wir ja noch etwas mehr rausholen, also nur, wenn du das auch willst.'
Ein kleines Lächeln schlich sich bei dem Gedanken gemeinsam mit meiner Tante und Kalvin an meiner Kraft zu arbeiten, auf mein Gesicht und ich stimmte ihr motiviert zu. Besser werden, wollte ich immer und wenn es etwas gab, was mich glücklich machte, dann mein Training. 'Sicher will ich das. '
Mrs. Infusion schien von meinem so plötzlich hervorschnellenden Elan begeistert zu sein, denn sie erwiederte mein dezent platziertes Grinsen.

'Ich habe mir da auch schon ein paar Gedanken gemacht.'
An Kreativität bei meinen Übungen mangelte es meiner Tante auf jeden Fall nicht und ich meinte sogar an dem Glitzern in ihren Augen zu erkennen, dass auch sie unser Training vermisst hatte.
'Dann sehen wir uns heute Abend in der Sporthalle.'
'Bis heute Abend.', stimmte ich zu, als sie mich ohne Vorwarnung fest an sich drückte. Die spontane  Umarmung, welche ich von meiner Tante, die eher distanziert war, sicher nicht erwartet hätte, war fest, voller mütterlicher Liebe und schenkte mir ein Gefühl der Sicherheit, während meine Kraft sich in mir nur einige Male in hellblauen Wellen aufbäumte und dann rauschend wieder in sich zusammenfiel, wie das vom Wind getriebene Wasser am Meer. Sie mochte das Gefühl der Geborgenheit auch, empfand genau wie ich, weil es zwischen uns ja eigentlich auch keinen Unterschied gab.

'Bleibe immer stark, Nia.', murmelte Mrs. Infusio und ich versuchte stur die dunkle Vorahnung, die in ihren Worten mitschwang, zu ignorieren, was mir am Ende nicht gelang.
Die Neugier siegte.
'Was ist denn los? Ist irgendetwas passiert?', nuschelte ich gegen ihren dunkelgrünen Blazer. Sie löste unsere Umarmung und schüttelte rasch den Kopf, als hätte ich eine Frage gestellt, auf die man mit Ja oder Nein antworten konnte.
Da ich auf eine ehrliche Antwort wartete, gab sie, sich zähneknirschend des Leichtsinns ihrer Worte bewusst werdend, zu: 'Ich kann noch nichts genaues sagen, aber es scheint so, als spitze sich die Situation, in der wie stecken, zu, als hätten sie Pläne. Du weißt, was ich meine.'
Ja, das wusste ich nur zu genau und die unheilvolle Botschaft meiner Tante war mir mehr als klar. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper von einem Moment auf den anderen. Auch für Gabe Hanwen ging es bergauf, nur in eine ganz andere Richtung, und wenn irgendetwas aus meinen Träumen zur Realität werden würde, gab es keine Chance zu fliehen.
Er hatte lange geschwiegen, wohl aus taktischen Gründen gewartet und der nächste Kampf konnte nicht allzu weit entfernt sein.

Nun legte meine Tante einen Finger über die dezent geschminkten Lippen. 'Aber psst, das dürftest du eigentlich gar nicht wissen, dafür ist diese Kenntnis zu neu und zu exklusiv. Erzähle das bloß niemandem, damit würdest du nur Angst und Sorgen in dieser Schule verbreiten. Es ist noch nichts konkretes passiert, wir haben lediglich ein paar Beweise für Aktivität gefunden.'
Ich nickte beinahe ehrfurchtsvoll aufgrund des Vertrauens, welches mir meine Tante entgegenbrachte.
Sie schien im Gegensatz zu mir die Idee unserer Beziehung aufgebaut auf Wahrheit und Ehrlichkeit zu verfolgen und versuchte diese von Geheimnissen erzeugte Funkstille nie mehr auftreten zu lassen. Dies sollte wohl ein Bekenntnis ihrer Bemühungen sein, aber sie konnte nicht ahnen, wie sehr mich diese Worte wirklich in Schrecken versetzten, da ich mich schon wieder zu lange in der Illusion von Sicherheit gewiegt hatte.
'Natürlich sage ich nichts. Ich werde schweigen wie ein Grab und du weißt, dass ich das kann.', ich grinste schief, maß meinen Worten viel mehr Bedeutung zu als sie es könnte, 'Danke, dass du mir davon erzählt hast.'
Sie lächelte zurück wie ein scheues Reh und bestätigte mit ihren Worten meinen Verdacht.
'Ich habe dir gesagt, dass ich ehrlich bin, selbst wenn ich ein bisschen die Regeln umgehe. Zwar weiß ich nicht, wieso dich diese schrecklichen Dinge, die zum Glück noch in ferner Zukunft liegen, interessieren, aber ich schätze wir stecken alle darin und würde das nicht ein risieges Chaos auslösen, hätte ich schon längst dafür plädiert, alle Schüler einzuweihen. Es ist schließlich unsere Zukunft und Gabe Hanwen und seine Leute kennen kein Erbarmen.'
'Ja, sie würden alles tun für ihren Sieg. Die Frage ist nur, ob wir alles verhindern können.'
Ich ließ den Satz absichtlich in der Luft hängen, wollte warten bis er wie ein Echo verebte, aber das tat er nicht und zu weiteren Worten konnte ich mich nach diesem Fazit auch nicht durchringen.

Meine Tante schwieg eisern, wollte sich einer ernüchternden Antwort nicht beugen, bis ich ebenfalls erschüttert von ihrer und vielleicht auch meiner, wahrscheinlich unser aller Einstellung den Raum verließ.
Erst als ich schon wie in Trance den Flur entlang wanderte, schlug sie wissend die Augen zu und murmelte 'Alles, was in unserer Macht steht werden wir tun.'
Ich wusste das schon lange, trug es schon immer in meinem Herzen, denn ein halbherzig gekämpfter Kampf war zum Scheitern verurteilt.
Nur leider kämpften wir im Moment alle für uns selbst, trauten uns die Worte nur ohne Beobachter zuzuflüstern, hatten keinen Anführer, keine treibende Kraft wie unsere Gegner und würden auch keine bekommen.
Es musste immer einen Anfang geben, jemand der Mut bewies und Mut verbreitete, nur der Anfang war schwer und man musste bereit dafür sein.
Waren wir bereit für das, was da lauerte?
Wohl kaum.

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