Kapitel 57

Das Stampfen meiner Füße auf dem Boden hörte sich unnatürlich laut an, weil Stille herrschte und weil sie seit langer Zeit zum ersten Mal nicht von pulvrigem, unschuldig weißen Schnee gedämpft wurden.
Nur wenige Schüler saßen schweigend auf den Bänken und blickten irgendwo in die Ferne, während die kahlen Äste sich keinen Zentimeter bewegten.
Es war windstill, der Campus ruhig, die Welt bewegungslos, wäre ich nicht unter dem Stress der Zeit, so schnell ich zu dieser frühen Uhrzeit konnte, zur Sporthalle gejoggt.
Ein kurzer, aber heftiger Alptraum hatte mich mal wieder gut eine Stunde an mein Bett gefesselt, hatte mir die Zeit geraubt, die ich brauchte, um mich fertig zu machen und das übliche, in den letzten Tagen ein wenig schneller hervorgerufene Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern.
Nun hatte ich es nicht mehr geschafft, meine müden Augenringe abzudecken und meine verwirrten Haare durchzukämmen.
Ein schneller Zopf, mühsam während des Joggens gebunden, musste reichen, denn beim Sport würden meine Haare sowieso wieder aus dem Zopfgummi rutschen und danach würde ich duschen, was eine ordentliche Frisur relativ sinnlos erscheinen ließ.
Schon war ich auf der Allee und somit nahe an meinem Ziel, das würde ich noch pünktlich schaffen.
Außerdem hatte ich jetzt schon ein anstrengendes Aufwärmtraining hinter mir.

Gestern hatten Jen und ich noch lange versucht, einen Plan zu schmieden, wie ich Luis ansprechen und im besten Fall überzeugen konnte, gemeinsam einen Neustart zu wagen. Zahlreiche Szenarien, was passieren könnte und wie ich auf unterschiedlichster Weise reagieren sollte, hatten wir uns ausgemalt, damit ja nichts schief ging, obgleich ich mir sicher war, dass die spontane Umsetzung in der Realität etwas anders ausfallen würde als dieses Wunschdenken.
Jetzt bog ich zum Eingang der Sporthalle ein und stieg die Treppenstufen hinauf, ohne an Schnelligkeit einzubüßen.
Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter mir zu, erschreckte mich zwar nicht, weil ich dieses Geräusch gewöhnt war, ließ mich aber kampfbereit und achtsam werden, denn jetzt begann das Training, der liebste Teil meines Tages.
Das stattdessen der Moment, den ich mir so lange erhofft und so viele schlaflose Nächte nach einem Alptraum vorgestellt hatte, auf mich wartete, konnte ich natürlich nicht wissen.

***

Endlich trat ich als letzte Schülerin in die Sporthalle. Die anderen wärmten sich bereits auf, liefen sich warm und tranken noch ein paar Schlucke Wasser. Kalvin saß auf einer der Bänke direkt am Eingang und schien mit von sich gestreckten Beinen und tief gesenkten Liedern ein wenig zu dösen.
Willkürlich fragte ich mich, ob er vielleicht auf mich gewartet hatte, zumal ich noch nie ein Training verpasst hatte, aber wahrscheinlich war er nur ein Langschläfer, der die Müdigkeit noch nicht ganu aus seinen Gliedern vertreiben konnte und sich deshalb noch ein wenig entspannte.
Als ich meine Wasserflasche in seiner Nähe aufstellte, blickte er mit hellwachen Adleraugen auf.
So viel zum müden Langschläfer.

Sein prüfender Blick traf mich, durchleuchtete mich wie ein Röntgengerät und fragend runzelte er die Stirn. 'Hast du nicht geschlafen, Nia?'
Seine direkte Frage mildert er mit einem verschmitzten Grinsen ab, als hätte ich die Nacht aufgrund von wilden Partys, illegalen Ausflügen mit meinen Freunden oder ähnlichen spaßigen Aktivitäten nicht geschlafen.
Ich lächelte ehrlich zurück, das aber mehr gequält als belustigt.
'Nein, nicht wirklich. Sieht man das wirklich so doll?'
Er zog die Augenbrauen hoch, presste die schmalen Lippen aufeinander und nickte mehrmals sachte, als wäre er ein potentieller Käufer vor einem prachtvollen neuen Grundstück, dass er in jedem Fall kaufen wollte, sich aber sicher war, den Preis noch ein wenig senken zu können. 'Ja.'

Ich seufzte leise, aber nahm ihm diese Antwort mit einem selten so hohen Wahrheitsgehalt nicht übel.
'Danke für dein Mitleid.', erwiederte ich spitz, stimmte jedoch gleich darauf in sein schallendes Lachen mit ein, welches nur leider die anderen Schüler auf uns aufmerksam machte.
Sobald er sich beruhigt hatte, fragte Kalvin, nun ganz der Lehrer und nicht mehr der nette, jederzeit kampfbereite Nachbar von nebenan:'Willst du dich nicht lieber ausruhen?'
Schnell schüttelte ich den Kopf. Das bloß nicht, ich brauchte dieses Training. Äußerlich ließ ich mir weder von meiner Müdigkeit oder der stetig lauernden Angst, noch von dem Drang, ein paar Schüler mit Leichtigkeit zu besiegen, etwas anmerken und antwortete nur vage. 'Kein Problem, das geht schon.'

Kalvin klopfte mir liebevoll wie ein Vater auf die Schulter und grinste dann frech. 'Naja, du legst sie eh alle um, nicht wahr?'
Ich konnte nicht anders, als sein Grinsen zu erwiedern und freute mich enorm, das Kalvin nicht so ein Drama um alles machte.
Stattdessen schien er in Gedanken schon ganz woanders zu sein. 'Wir machen aber heute sowieso 'was Besonderes, worauf du dich freuen kannst.'
Wenige Sekunden später drehte er sich um und rief laut und mit einem großen Maß an herrlich ehrlicher Motivation: 'Na dann fangen wir mal an!'

Nach ein paar Übungskämpfen mit unseren Lieblingswaffen, rief Kalvin uns alle in einen großen Kreis zusammen, der wieder einmal um einiges unordentlicher und eiförmiger wurde, als ursprünglich geplant. Scheinbar lag wirklich eine besondere Sportstunde vor uns und dieses Mal wusste ich nicht annährend, was er vorhaben könnte.
Sehnsuchtsvoll hoffte ich auf ein weiteres Teamtraining draußen mit einer der unteren Klassen, denn ein Kampftraining ohne Waffen wäre sinnvoll für mich gewesen, um zu erfahren, ob ich mit meiner Kraft nicht nur bei dem immer etwas distanzierten Kämpfen mit Waffen, sondern auch im durchaus körperbezogenen Nahkampf recht gut kooperieren konnte, da dies mit Jen oder gar Jack als Gegner schwer zu üben wäre.

Kalvin räusperte sich laut und bekam somit wieder meine volle Aufmerksamkeit geschenkt.
'Heute üben wir mal mit einer höheren Klasse, sprich mit älteren Schülern, was eine große Bereicherung für euch sein kann.', er pausierte bewusst, um seinen Blick durch die Reihe an Schülern schweifen zu lassen und sich des aufmerksamen Schweigens jedes Schülers bewusst zu werden, 'Ihr werdet gegen die älteren Schüler kämpfen, weil die Ausgeschlossenen meistens älter sind als ihr.
Dies dient also als gute Übung für einen echten Kampf und ich möchte jetzt kein Gejodel hören, wie unfair das ist. Seht es doch so; wenn ihr verliert, ist das wirklich keine Schande.'
Er zwinkerte uns zu und keiner der Schüler beschwerte sich über viel zu starke Gegner, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Alle warteten nur gespannt, auf die älteren Schüler und schienen im Kopf ihre besten Techniken durchzugehen, denn wenn es hart auf hart kam, waren wir alle bereit, das hatten wir in der Vergangenheit bereits zu genüge gezeigt. Auch heute würden wir alles nutzen, was wir hatten, um gegen die erfahreneren, stärkeren Gegner anzukommen und ein bisschen freute ich mich sogar, diese Herausforderung zu meistern, selbst wenn wir nicht gewannen, wie es im echten Kampf ohne große Verluste der Fall sein müsste, damit ich oder besser gesagt wir alle zufrieden waren.

Gespannt wie ein Bogen und mit einer gewissen Vorfreude wartete ich plötzlich hellwach darauf, dass sich die Tür öffnete, um die andere Klasse hereinzulassen, doch davor gab uns Kalvin noch letzte Anweisungen: 'Versucht eure Vorteile, seien es Wendigkeit, den Raum oder eine außergewöhnliche Liblingswaffe einzusetzen und bewahrt immer Ruhe, denn auch die älteren Schüler sind nicht unfehlbar und im besten Fall kennen sie euch nicht, dann könnt ihr unterstützend eure Kraft einsetzen und den Überraschungsmoment nutzen. Es ist alles erlaubt. Also viel Spaß euch und Glück natürlich auch', er lachte leise, aber keinesfalls abwertend, lediglich fröhlich, denn er war unglaublich gut gelaunt heute, 'ihr werdet's brauchen. Und jetzt, kommt rein Jungs und Mädels!' Die letzten Worte rief er laut und Richtung Tür gewandt, die dann auch endlich von ungeduldigen Händen aufgerissen wurde.

Schon traten die ersten Schüler selbstbewusst und mit zurückgedrückten Schultern ein, wollten uns schon mit ihrem Auftreten einschüchtern, was ihnen aber nur in den wenigsten Fällen gelang. Statt mich ihnen in irgendeiner Weise als schwächer darzustellen, reckte ich mein Kinn in die Höhe und fasste meine Waffe fester. Überlegenheit konnte auch eine Schwäche sein.
Einige unter ihnen erkannte ich, Hamnet, Lindsay und dieser attraktive Kämpfer mit dem silbern glänzenden Langschwert, dem rabenschwarzen Haar und den unbeschreiblich blau leuchtenden Augen.
Sofort haftete mein Blick auf ihm, wollte ihn nicht loslassen, freute sich auf einen möglichen Kampf, blieb aber unerwiedert.
Luis würdigte mich nämlich keines Blickes, er sah jeden Schüler einschüchternd an, nur mich ignorierte er gefliessentlich, als wäre ich gar nicht anwesend und dann stellte er sich genau in die gegenüberliegende Ecke, den Platz im Raum, der am weitesten von mir entfernt war.

Möglichst ruhig atmete ich tief ein und aus. Das war kein Problem für mich, wir waren schon seit Monaten geschieden und er würde mir im Kampf wahrscheinlich nicht einmal begegnen.
Alles, was ich tun musste, war, mich auf den bevorstehenden Kampf zu konzentrieren und das konnte ich, das hatte ich schon oft trotz tausender, nerviger Gedanken gemacht.
Die Schüler standen sich mit diversen, kampfbereit vor sich gestreckten Waffen gegenüber wie zwei Fronten in einem hoffentlich nie wieder eintretenden Krieg. Kalvin stand dazwischen, ein abwartendes Lächeln auf den Lippen.
Er hob die Hand nach vorne und die Luft schien unter der Anspannung zu vibrieren, während die Zeit sich bemühte, langsamer abzulaufen.
Vor mir stand ein breiter, gut gebauter Junge mit einem messerscharfen Grinsen und einem Kurzschwert in der Hand, mein erster Gegner.
Im nächsten Moment hob Kalvin die Hand in die Höhe.Dann ging es los.
Die beiden Fronten prallten aufeinander und das Klirren der Waffen übertönte alle menschlichen Geräusche.

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