Kapitel 55
Die letzten Minuten liefen ab, während Mr. Wieland langsam durch die Reihen der schreibenden Schüler wanderte. Schnell notierte ich noch meinen Namen auf das Papier.
Nia Miller, so hieß ich doch hier. Dafür dass ich nur knapp zwei Stunde geschlafen hatte, schien ich von Energie gefüllt zu sein.
Die Klausur war mir merkwürdig gut von der Hand gegangen und ich hatte mich die ganze Zeit auf die Aufgaben konzentrieren können, ohne mit den Gedanken in ein Paralleluniversum meines Gehirns abzudriften.
Das Lernen letztes Wochenende während Jen mit Justin Kuchen aß, hatte sich wohl doch gelohnt.
Zufrieden steckte ich die Bögen ineinander und reichte sie Mr. Wieland, als er bei mir vorbeikam.
Die Schule war trotz allem anderen wichtig, denn ich wollte ja einen guten Abschluss machen.
Wie froh war ich manchmal den Ehrgeiz meiner Mutter geerbt zu haben, beziehungsweise anerzogen zu bekommen, auf denn Jen sehr neidisch war, wobei ich ihr oft genug sagte, sie könne ja auch einfach mal anfangen zu lernen, aber es gab ja noch tausend andere Sachen zu tun.
Apropos Jen, gleich würden wir uns mit Jack treffen, um an meiner Kraft zu üben und sie hoffentlich endlich besser zu kontrollieren.
Entschlossen packte ich meine Sachen zusammen und verließ das Klassenzimmer neben den größtenteils mies gelaunten Schülern und den wenigen Strebern, welche mit leuchtenden Augen den Schwierigkeitsgrad der Klausur abwertend ansprachen.
Ja diese Arbeit war alles, woran sie gerade dachten, niemand hatte noch den grauenvollen Gabe Hanwen im Hinterkopf, aber da würde er auch bei mir bleiben.
Ich beschleunigte mein Tempo, um nicht zu spät zu kommen, während viele Augen mich anblickten.
Ich ignorierte sie.
Eisblaue, kühle Augen strahlten für einen Moment den meinen entgegen.
Ich schluckte mühsam, denn sein Blick schien mir zu sagen, dass er etwas wusste.
Im nächsten Moment wandte er sich schon wieder ab und ging eilig vor mir dem Flur, um hinauszugehen.
Danke, dass du mir so offensichtlich aus dem Weg gehst. Was führte er sich so auf?
Eigentlich sollte man doch langsam meinen, unsere Beziehung gehöre der Vergangenheit an, aber ich wurde jeden Tag daran erinnert, dass das für mich nicht der Fall war.
Glücklicherweise rettete mich Jen aus diesem sich schleichend anbahnenden Tief meiner Gedanken, indem sie mich schwungvoll am Arm packte, mitriss und kopfschüttelnd murmelte: 'Bleib nicht immer stehen wie ein dummes Schaf, wenn du ihn siehst. Er ist auch kein Weltwunder.'
Ich ignorierte ihre zugegeben ganz lustigen Anspielungen.
'Hey, mir geht es auch gut, danke der Nachfrage. Wie war deine französisch Klausur?'
Jen sah mich beleidigt an und zog ihre dünn gezupften Augenbrauen weit in die Höhe. 'Ehrlich? Was denkst du denn?'
Ich zuckte mit den Schultern und befreite mich aus ihrer Klammerung.
'Super?', fragte ich ironisch nach, aber Jen machte eine wegwerfende Handbewegung, um zu sagen, dass sie nicht mehr darüber sprechen wollte.
'Jeder hat seine Probleme.', hörte ich sie noch leise flüstern, war mir dabei aber fast sicher, dass das nicht an mich gerichtet war.
Gemeinsam gingen wir schlendernd hinaus, als eine heftige Windböhe uns entgegen schlug und Jen und mich erzittern ließ.
Nieselregen und Nebel hatten den Platz eingenommen und nur vereinzelt hatten sich Schüler nach draußen verirrt.
'Sauwetter.', stellte Jen wieder lächelnd fest, hatte ihre schlechte Laune weggepustet wie eine dunkle Gewitterwolke und kehrte ihr nun äußerlich und innerlich den Rücken zu. Ich nickte zustimmend und das nahm Jen als Anlass, einen kleinen Redeschwall zu beginnen.
'Ach, ich wünsche mir manchmal echt den Sommer zurück. Eis, lange Abende, hübsche Kleider, Sonne, Wärme und schwimmen gehen. Was gibt mir der Winter? Ich verstehe echt nicht, wie man den mögen kann.' 'Warme Getränke, kuschelige Pullis, Weihnachten?', schlug ich vor.
Meine beste Freundin tat als würde sie beides abwägen und entschied dann: 'Einverstanden, ich schlage vor eine oder zwei Wochen Winter im Jahr. Das reicht dann aber auch.'
Ich hob belustigt die Augenbrauen.
'Gut, dann spreche ich mal mit dem Wettergott. Der wohnt ja gleich um die Ecke, nicht wahr?'
Jen grinste mich an, während sie die Stufen zur Sporthalle emporstieg. 'War ja nur ein Vorschlag.'
Möglichst elegant hielt sie mir die Tür auf und fing gleichzeitig an, über ihre neue Lieblingsserie zu reden, die ich unbedingt sehen musste. Ich hörte nur mit einem Ohr zu und blickte vorausschauend den Gang entlang.
Das Licht in der letzten Halle wies darauf hin, dass Jack bereits dort drin war.
Aufgeregt rieb ich mir die kalten Hände. Dann konnte wir ja sofort anfangen.
***
'Also probieren wir es einfach nochmal?', fragte Jack und sah erst mich und dann Jen an.
'Alles klar.', erklärte Jen optimistisch wie eh und je und kam rasch auf mich zu. Entweder sie war unglaublich mutig oder sie hatte ein immenses Vertrauen in mich. Wahrscheinlich letzteres. Wie gut, dass ich sie hatte.
Um mich zu sammeln, atmete noch einmal tief ein und aus,
Meine Kraft floss durch mich hindurch wie ein niemals endender, reißender Fluss, mein Fluß, meine Kraft. Schon immer waren wir eins.
Das Gute und das Schlechte konnte man nunmal nicht trennen, dafür waren Hass und Liebe zu ähnlich.
Zaghaft streckte ich meine Hand aus und griff nach Jens Arm.
Ihre helle, lebhaft grüne Kraft sprudelte ihn mich hinein, bevor ich es verhindern konnte, aber ich zügelte mich, riss mich zusammen. Wir wollen ihre Kraft nicht, beschloss ich, sie ist unsere beste Freundin. Meine Hände zitterten, aber dieses Mal nicht vor Angst, es war lediglich die angespannte Ungewissheit, die wie Strom durch meine Adern floss.
Es musste einfach klappen, jetzt oder nie.
Im nächsten Moment riss der Energiestrom ab. Meine Kraft lauerte weiter, ich hatte sie noch nicht zurückgezogen, aber wir wären uns einig, mein Gegenüber nicht zu verletzten.
Jen blieb still neben mir stehen und beobachtete mich ruhig.
Wir nehmen die Kraft ein andermal, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, wenn wir die Menschen, die wir lieben retten müssen.
Natürlich kämpfte ich für das Gute, das anzuzweifeln war idiotisch und grundlos, denn manchmal müssen eben Dinge schiefgehen, damit man daraus lernt und nicht damit man sich von seiner Angst kontrollieren lässt.
Langsam aber problemlos atmete ich die Luft, die ich angehalten hatte, wieder aus und zog meine Kraft in mich zurück.
Jen ließ ich dabei nicht los, bis ich ihre Kraft, die rein gar nichts mehr von meiner eigenen in sich hatte, nur noch ganz leicht gegen meine Hand pochen hörte.
Stattdessen war meine eigene Kraft laut, schien mit meinem Herz um die Wette zu schlagen, bis ich Beides im Gleichklang nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Genau dann ließ ich Jen los. Unbewusst erschien ein breites Lächeln auf meinem Gesicht und wieder hätte ich vor Glück wild umher tanzen können.
'Du hast... Spürst du nichts mehr?', fragte Jen auf der Suche nach den richtigen Worten.
'Ich spüre dich nur noch ganz wenig und ich kann mich mit ein wenig Überzeugung zügeln.', gab ich zu.
Jack hatte sich interessiert genähert und hielt mir nun seine von kleinen Falten und Altersflecken geprägte Hand hin.
'Probier es bei mir.', forderte er und ich zögerte nur eine winzige Sekunde, bevor ich seine Haut berührte.
Er verfügte über eine warme, braune, ruhige, aber unglaublich starke Kraft.
Meine eigene Magie war sofort wieder aktiv, aber sie zog nicht gierig nach ihm.
Freund, schickte ich das so kurze und doch so bedeutende Wort irgendwo in mich hinein und meine Kraft verstand, stimmte mir zu. Sie hatte es als Teil von mir immer verstanden, nur ich hatte sie nicht verstanden, hatte mir selbst falsche Grenzen gesetzt.
Ein kleiner blauer Funken stob aus meiner Hand und sprang in Jack hinein.
Ich riss die Augen auf, als er sich von mir löste und sich seltsam gerade aufrichtete wie ein gerade ernannter Soldat.
'Was war das? Ich fühle mich plötzlich so fit wie seit Wochen nicht mehr.', er lachte leise,' Ich könnte Bäume ausreißen.'
Jen sah mich stolz, wenn auch leicht verwirrt an und erwiederte ebenfalls kichernd: 'Das würde ich lieber nicht probieren, Jack.'
Die Augen des alten Bibliothekars funkelten spitzbübisch, was ihn jünger aussehen ließ, und er klopfte Jen tätschelnd auf die Schulter.
'Ja, das ist wohl nicht das Beste für einen alten Mann.'
Hatte ich ihm Energie gegeben?
Es konnte nur ein winziger Funken gewesen sein, doch meine Macht schien sich über diese Übergabe zu freuen und deswegen freute auch ich mich.
'Wie hast du das jetzt gemacht? Hast du heimlich geübt, Nia? ', waren Jacks nächste Fragen.
'Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau, aber ich glaube, es steht in Verbindung mit der Akzeptanz meiner Kraft, wie du es immer gesagt hast.', erklärte ich und er nickte bedacht.
'Das hast du gut gemacht.'
Ich errötete leicht vor diesem für mich äußerst bedeutenden Lob.
'Aber es ist noch viel zu tun, damit der ganze Prozess nicht immer so anstrengend und... aufregend ist.', meinte ich ehrlich.
Jen grinste neben mir über diese Beschreibung, aber Jack sagte ernst: 'Ja, eine starke Kraft ist immer viel Arbeit.'
Da ertönte eine klare Stimme in meinem Inneren, die ich lange nicht mehr gehört hatte.
'Du schaffst das Nia.'
Elysias.
Sie war noch da, hatte mich nicht verlassen und war zufrieden mit meinem Erfolg. Es würde klappen und das nur, weil ich jetzt mit mir selbst im Reinen war.
'Woher kommt den der Sinneswandel?', brachte mich Jen wieder zu unserem Gespräch zurück.
'Keine Ahnung.', log ich und wendete mich nach einer bewussten Pause an Jack.
'Wie hieß nochmal mein Vater? '
Jack sah mich perplex an und fragte sich wohl, wie ich auf dieses Thema gekommen war oder zumindest, wieso ich nicht seinen Namen wusste. 'Mit vollem Namen meinst du? Stanley Richard Miller. Wieso fragst du danach? Ich bin sicher, du hast den Namen nicht vergessen?', fragte er misstrauisch.
Er hatte sich also einen anderen Namen gegeben, verständlich, denn Richard wäre zu auffällig gewesen. 'Ist mir nur gerade eingefallen.
Wieso nannte ihn meine Mutter oft Richard und nicht Stanley?'
Jack überlegte kurz.
'Ich glaube, ihr gefiel der Name einfach besser. Es gab auch viele Gewählte mit königlichem Erbe mit dem Namen Richard. Stanley hingegen hieß einmal ein König unter den Ausgeschlossenen.
Frage mich nicht auch noch, wie seine Eltern auf die Idee dieses Doppelnamens kamen.'
Ich nickte zustimmend.
'Das ergibt Sinn. Dennoch habe ich da noch eine Frage, wenn es dich nicht stört.'
Jack setzte sich auf eine Bank am Rand der Sporthalle.
'Nein frag ruhig. Mich würde das an deiner Stelle auch interessieren.'
Jen sah mich unsicher blinzelnd an, aber ich lächelte ihr wohlwollend zu, denn sie konnte ruhig mithören. 'Hatte er die gleiche Kraft wie ich?', fragte ich nun neugierig. 'Tatsächlich bin ich mir da nicht so sicher, aber es muss wohl so sein, da deine Mutter sie ja nicht besaß. ', begann Jack zögernd, 'Seine Kraft entwickelte sich nur langsam. Er beherrschte, soweit ich weiß, die Gedankenverschickung, aber an dein Können kam er nie heran. Er war eher ein unauffälliger Schüler, behielt das Meiste für sich. Selbst der Großteil der Lehrer kannte seine Gabe nicht, jedoch hat deine Mutter mir einmal vage davon erzählt.', er machte eine Pause und juckte sich am Kinn, als schien er zu überlegen, während ich versuchte die Lüge zu verdauen, 'Ehrlich gesagt, war und ist dieser Mann ein Rätsel. Er war immer verschlossen und schweigsam gegenüber Fremden und lebte gerade mal ein Jahr am Internat, bevor er mit deiner Mutter verschwand.'
'Ein Jahr?', echote ich überrascht, 'Innerhalb einem einziegen Jahr haben sie sich verliebt, einen Plan geschmiedet und die magische Welt verlassen?' Das war mir nie bewusst gewesen.
Jack zuckte ahnungslos mit den Schulter. 'So kann man es sagen. Dein Vater kam noch später als du an diese Schule und die größte Stärke deiner Mutter war wohl ihre Spontanität und das meine ich jetzt gar nicht abwertend... Sie war sofort Feuer und Flamme für ihre Ziele, so führte Eines zum Andern und ein Jahr vergeht schneller als man denkt.'
Ich schluckte hörbar. Sie hätten sich mehr vorbereiten sollen, hätten mehr Sicherheitsvorkehrungen treffen sollen und hätten wissen müssen, dass diese Entscheidung früher oder später zu schrecklichen Konsequenzen führen würde, aber was hatte es jetzt noch für einen Sinn, ihnen Vorwürfe zu machen.
Jeder machte Fehler und meine Eltern waren für die ihren, mehr als genug bestraft worden.
Stille breitete sich zwischen uns aus und niemand wusste, was er sagen sollte, bis sich Jen, die unüberlicherweise auch angespannt war und unruhig ihre Armhaltungen und ihr Standbein wechselte, zu Wort meldete: 'Egal, ich bin sicher, dass sie dich geliebt haben und was auch immer sie zu ihrer Entscheidung geführt hat, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Deswegen sehen wir nach vorne und üben noch ein paar Runden.'
Ich lächelte ihr dankbar zu und nickte sachte. 'Du hast Recht, machen wir weiter.'
Auch Jack schien einverstanden, doch er blieb entspannt sitzen, während er mit seinen alten Adleraugen unser Training beobachtete.
Ja, es ging voran.
Voran in die Ungewissheit, aber durchaus voran.
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