Kapitel 52
'Ich konnte dieses Leben nicht mehr leben. Die Albträume, die Verfolgunsjagden, die ständige Angst vor ihm. Ich wusste, dass ich nie eine Chance gegen ihn haben würde, denn er war mir stets einen Schritt voraus un ich wollte euch nicht gefährden, dich und deine Mutter.
Du warst damals noch ganz klein, unschuldig, wehrlos.', er schluckte ein weiteres Mal hörbar, während ich schweigend auf seine Erklärungen wartete, 'Eines Tages sind sie uns wieder einmal auf die Spur gekommen. Wir mussten immer umziehen, wenn man uns fand. Es war das reinste Versteckspiel. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu überwinden, mich ihm zu stellen.
Ich hatte wohl zu viel Angst, das habe ich heute noch. Ich bin nicht für diese Welt gemacht, wollte nie kämpfen, konnte es auch nicht besonders gut. Das Einzige, was ich immer wollte, war ein ruhiges Leben in Frieden, aber das war mir mit königlichem Erbe wohl nicht vergönnt. Als ich euch so beobachtete, ihr habt gerade gemeinsam im Garten gespielt, wurde mir klar, dass das alles meine Schuld war.' Richard stockte einen Moment, scheinbar um diese Tatsache zu verarbeiten, und seine Augen wurden glasig. Er schien sich genau an das Bild von uns erinnern zu können. Mutter und Tochter, die spielten, ohne die alttäglichen Sorgen im Sinn zu haben.
Ich unterbrach ihn nicht, da ich erst wissen wollte, was er mir eigentlich sagen wollte.
'Sein Ziel war ich und nicht ihr und ihr wart mir das Wichtigste auf der Welt, das seid ihr immer noch, aber in jenen Tagen hat sich etwas verändert. Der besagte Ausgeschlossene schien uns bereits seit langem zu beobachten. Er erzählte mir jede Nacht, dass er euch als Folter für mich töten würde oder euch gar Schlimmeres antun würde und das ihr nie sicher sein würdet, in keiner Welt. Alles wirkte so real und...', Richard schluckte hörbar, ' Deshalb fasste ich den Entschluss unterzutauchen. Einfach zu verschwinden und euch ohne die Augmerksamkeit des Bosses der Ausgeschlossenen in Sicherheit zu wissen. Eine andere Lösung fiel mir nicht ein und, das kannst du mir glauben, ich habe mir lange darüber den Kopf zerbrochen. Also plante ich im Vorraus mein Verschwinden.
Hank kannte ich damals schon viele Jahre. Er wollte mir helfen und stand treu zu mir, doch das ganze hätte ich nicht durchsetzten können, wenn ich meine Kraft nicht gehabt hätte.
Durch meine Kraft war es mir möglich, mich ganz von dieser gefährlichen Welt loszusagen.
Ob es die richtige Entscheidung war, weiß ich bis heute nicht.'
Unsicher blickte ich auf, als sich die quietschende Holztür öffnete und fragte mich willkürlich, ob mein Vater ein weiteres Mal pausierte, um über die nächsten Worte nachzudenken, weil er fertig mit dem Erzählen war oder weil Hank, der gerade das Zimmer betrat, nicht zuhören dürfte. Ganz in Ruhe stellte Hank die Tassen mit dampfend heißer Schokolade und extra viel Sahne auf dem kleinen Tisch ab.
Eigentlich hätte ich lieber einen Kaffee zum Wachbleiben gehabt, aber aucj bei diesem leckeren Getränk lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich bedankte mich höflich und erntete dafür ein Lächeln des alten, narbigen Gesichtes.
Nachdem Hank gegangen war und die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, befeuchtete sich Richard mit der Zunge die Lippen und sprach mit rauer, trauriger Stimme weiter.
'Meine Kraft kann jede Magie geben und nehmen, indem ich die gewünschten Person an der Hand halte und meine eigene Kraft an der des Gegenübers zieht und sie in sich einsaugt. Das war immer ein berauschendes Gefühl...'
Ich nickte mit einem halbherzigen, schmalen Lächeln, denn das hatte ich bereits in Erfahrung gebracht. Seine Kraft konnte unglaublich nützlich im Kampf gegen Gabe Hanwen sein und zusätzlich war sie um einiges weniger zerstörerisch als meine Kraft. Ich hätte unglaublich gerne mit ihm getauscht.
Mein Vater seufzte laut, als ob ich nicht verstehen würde, worum es wirklich ging und das tat ich auch nicht.
'Es ist so,', begann er unruhig, 'dass ich mir, weil ich das als einzige vollständige Fluchtmöglichkeit besah, mittels dieser besonderen Kraft, meine eigene Kraft genommen habe. Endgültig. Für immer.
Jetzt bin ich ein normaler Mensch, wie ich es immer wollte.'
Ich blinzelte zweimal perplex.
Alles hatte ich erwartet, nur nicht das. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, klappte ihn dann aber wieder zu.
Er hatte seine Kraft nicht mehr.
Er war ein ganz normaler Mensch. Wie konnte das funktionieren?
Wohin war seine Kraft verschwunden?
Das konnte doch nicht möglich sein.
Um die Sache nicht überzudramatisieren, wozu ich vor allem in letzter Zeit neigte, fragte ich ungläubig: 'Ist das ein Witz?'
Richard schüttelte bedauern den Kopf und sah zu Boden.
'Ich kann keine meiner Kräfte mehr nutzen, alle sind sie weg.'
Gedankenverloren fuhr er sich durch die hellbraunen Haare, die ihm danach unordentlich ins Gesicht fielen.
'Ich kann dir also nicht mehr helfen, selbst wenn ihr das gerne tun würde. Ich konnte doch nicht wissen, dass du das jetzt alles durchmachen musst.' Ich biss mir auf die Lippen, schmeckte die Enttäuschung und den Frust, weil sich gerade meine letzte Hoffnung für einen siegreichen Kampf gegen Gabe Hanwen ins Nichts verflüchtigte.
Ich war wohl doch alleine, wenn es darauf ankam.
Das Schicksal schien ein ausgeglichenes Finale zu wollen. Einer von den Guten und einer von den Schlechten.
Nur schien es dabei nicht einzukalkulieren, dass ich meine Kraft nicht kontrollieren konnte oder es wollte, dass endlich mal die Guten versagten.
Ich wusste nicht, was ich nun sagen sollte, ob ich schreien, weinen oder einfach weiterschweigen sollte und schnappte mir deshalb meinen Kakao. Die warme, schokoladige Flüssigkeit rann mir beim Trinken die Kehle hinunter und wärmte mich von innen, aber sie machte das Ganze kein Stück erträglicher.
'Es tut mir leid.'
Er entschuldigte sich zum dritten Mal. Ich fühlte mich elend.
'Was soll ich jetzt tun?', flüsterte ich, ohne Richard direkt anzusprechen. Sanft legte sich seine Hand auf meine Schulter.
Seine Kraft konnte ich nur wie eine Feder durch meine Jacke spüren, denn es war nurnoch der letzte Rest, der sich nie vertreiben lassen würde. Dafür fühlte sie diese Geste merkwürdig tröstend an.
Ich verweigerte die Berührung nicht. Wieso auch, er ist dein Vater, sagte diese kleine glückliche Stimme in mir, die froh war, das ich ihn kennengelernt hatte und die noch froher war, dass er mich berühren konnte, ohne dass meine Kraft ihn umbringen wollte.
Seine Hand bewegte sich leicht unbeholfen hin und her, als wollte er mich streicheln.
Wie sollte er auch wissen, wie man seine Tochter trösten musste, wenn man nie dagewesen war, wenn sie einen brauchte.
'Du kannst das immer noch schaffen, Nia.', murmelte er leise, 'Du kannst das schaffen.'
Nun schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter.
'Du hast mich alleine gelassen. ', warf ich ihm vor, 'Du weißt ja nicht, was ich alles schon durchstehen musste. Was passiert ist, was er mir angetan hat, was ich getan habe...'
Meine Stimme stockte.
Eigentlich wollte ich ihm das nicht erzählen.
Er stand bestimmt auf, stellte sich vor mich und presste die Kiefer aufeinander, als ich seinem strahlend grünen Blick begegnete, der nach Hoffnung und Wiedergutmachung schrie.
Jetzt bloß nicht schwach werden.
Voraichtig, als wäre ich etwas kostbares, das leicht kaputt gehen könnte, gab mir mein Vater einen Kuss auf die Stirn.
Ich spürte seine kurzen Bartstoppeln, roch sein Parfum, das nach Moschus und Sandelholz duftete und das er schon benutzt hatte als ich noch ein Kind war, und genoss die liebevolle Berührung.
Meine Kraft entspannte sich und meldete sich nicht zu Wort. Mein Körper wollte mehr Nähe, war ausgehungert ohne Körperkontakt, wollte in den Armen meines Vaters einschlafen, doch noch war ich nicht dazu bereit.
'Ich glaube, du hast nichts falsch gemacht. Du musstest nur viel zu schwere Entscheidungen treffen, er hat die Schuld dafür.
Aber du bist trotzdem nie alleine, selbst wenn ich ein schrecklicher Vater bin.', flüsterte er, als wüsste er von meinen geheimen Wünschen.
'Du verstehst nichts.', sagte ich in einer letzten Welle zaghafter Wut und drückte ihn sanft weg.
Richard setzte sich ruhig wieder hin und schloss für einen Moment geduldig die Augen.
'Dann erklär es mir bitte.', forderte er und plötzlich wollte ich ihm davon erzählen.
'Meine Kraft... Sie ist unkontrollierbar. Ich übe jeden Tag, sie zu steuern, aber es gelingt mir einfach nicht. So kann ich nie gegen Gabe Ha...'
Mein Vater sah mich drohend an, ich hielt diese Regel für lächerlich, aber gehorchte.
'So kann ich nie gegen ihn gewinnen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.'
'Sie ist stark, du brauchst Zeit, um zu lernen, wie du mit ihr umgehst. Das ist normal.', schlussfolgerte er rational, was genau das Gegenteil von dem war, was ich wollte, und sah mich wieder direkt an, wahrscheinlich um mir Mut zu schenken.
Enttäuscht von mir selbst schüttelte ich den Kopf. Natürlich verstand er mein Problem nicht und ich musste es ihm vollständig erzählen, damit er mir vielleicht helfen konnte.
'Ist es normal, wenn man jemanden umbringt, ohne das man es will?', fragte ich mit spitzem Unterton, 'Ist es normal, wenn man bei jeder Berührung Angst haben muss, zu töten? Ist es normal, wenn man sich selbst nicht mehr traut?'
Ich zitterte, weil die Tatsachen beim lauten Aussprechen noch wirklicher wurden, als sie es schon waren.
Mein Vater öffnete den Mund, schloss ihn aber dann wieder, genau wie ich es einige Sekunden zuvor getan hatte.
Erst jetzt musste ihm bewusst werden, wozu ich fähig war... und dass ich eine Mörderin war.
'Du hast jemanden umgebracht.', stellte er einfach nur fest. Keine Emotion durchfloss seine Stimme und mich überkam die Angst, dass er mich jetzt auch für ein Monster halten würde.
Vielleicht hätte ich dieses Kapitel meines Lebens doch lieber für mich behalten. Jetzt war es raus und es gab kein Zurück mehr.
'Gesine.', gab ich zu und mied dabei bewusst den verfluchten Nachnamen.
'Sie ist böse. ', stellte er sachlich fest.
'Sie konnte sich nicht wehren.
Ich hab nicht aufgehört, ihre Lebensenergie zu stehlen. Irgendetwas in mir wollte es sogar, will es immer noch, egal wer vor mir steht.', erwiederte ich angewidert von mir selbst.
Wieder einmal traten Tränen der Reue in meine Augen, doch ich hielt sie eisern zurück und umfasste haltsuchend meine Knie.
Er stützte nur sachte nickend den Kopf in die Hände und stellte fest: 'Du kannst also anderen Menschen ihre Lebensenergie entziehen. Ein bisschen so, wie wenn ich jemandem die eigene Kraft entzog. Nur stärker, bedeutender, mächtiger.'
Richard richtete sich auf, straffe die Schultern und setzte sich gerade hin, ohne mich anzuschauen.
Ich atmete zischend ein und aus, weil seine Distanz mich noch verrückt werden ließ.
Konnte er nicht einfach sagen, was er dachte?
Schließlich sprach er mit seiner gleichbleibend ruhigen Stimme.
'Ja, deine Kraft hat dich übermannt, aber es ist bereits passiert. Es gehört der Vergangenheit an, Nia.'
Mein Name hörte sich aus seinem Mund seltsam fremd an.
'Du kannst es nicht rückgängig machen. Also was bringt es dir jetzt noch, darüber nachzudenken?
Ich bin sicher, dass du dich schon genug gestraft hast für diesen Fehler.'
Ich blickte zu Boden, schuldig, und blinzelte die letzten Tränen weg, bevor sie hervortraten.
'Aber ich kann das nicht einfach vergessen.', presste ich hervor.
Er schüttelte ganz langsam den Kopf. 'Du sollst es auch nicht vergessen.
Du sollst damit abschließen, nach vorne sehen und weitermachen, ohne dir jeden Tag diese Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen.
Du hast bei weitem genug andere Sorgen, als dass du deinem eigenen Fehler hinterhersehen musst und du kannst nicht ewig so weitermachen.'
Natürlich hatte er Recht, das konnte ich nicht abstreiten, doch es blieben die hässlichen Zweifel.
'Ich kann es aber auch jetzt nicht steuern. Ich werde es wieder tun und wenn es jemand ist, den ich liebe, dann kann ich das nicht... verantworten.'
Eigentlich hatte ich überleben sagen wollen, aber das blieb mir in der Kehle stecken, denn ich musste leben, sonst war alles vorbei.
Die grasgrünen Augen musterten mich, wie ich dort erbärmlich in den Sessel gedrückt saß.
Fast dachte ich, er würde unpassenderweise lächeln, aber wahrscheinlich war das Einbildung.
'Du würdest niemanden töten, den du liebst. Niemals.
Du musst lernen dir selbst zu vertrauen, Tochter.
Wenn du schon niemandem anderen voll und ganz Vertrauen kannst und glaube mir ich kenne dieses Misstrauen, dann wenigstens dir selbst.'
'Sie macht keinen Unterschied. ', warf ich ein. Wie oft hatte ich schon versucht, mit mir selbst ins Reine zu gelangen, erfolglos.
Seine Stimme schien an Kraft zu gewinnen, bis sie bestimmt und den Worten eines Königs würdig durch den Raum schallte.
'Sie. Deine Kraft? Du denkst nicht ernsthaft, dass sie eine eigenständige Person ist?
Deine Kraft ist ein Teil von dir, ob du ihn magst oder nicht, ist die eine Sache, aber "ihr" seid in Wahrheit eins.'
Wenn das nicht so ein ernstes Gespräch gewesen wäre, hätte ich vermutet, dass mein Vater sich über mich lustig machte, doch nun verzog ich das Gesicht zu einer erbärmlichen Grimasse.
'Ja, ich weiß, ich muss mit meiner Kraft kooperieren. Leichter gesagt als getan.'
Sein Blick wirkte aufgrund meiner abwertenden, uneinsichtigen Antwort strafend.
'Eigentlich müsste deine Kraft dir automatisch gehorchen. Du darfst nur keine Angst vor diesem Teil von dir selbst haben. Du musst von deinen Ängsten loslassen, bevor du sie kontrollieren kannst.'
'Das ist schwer.', gab ich zu bedenken und zupfte an den strammen Enden meines Kampfanzuges, nur damit meine Hände beschäftigt waren, doch er schien nicht müde werden, mich zu ermutigen, obgleich er all das, was er sagte, nicht wirklich vertreten konnte, weil er sich dem verweigert hatte, aber das ignorierte ich geflissentlich.
'Ja, das ist es, vor allem bei uns, aber wäre dein Leben einfacher, wenn du deine Kraft nicht hättest?
Ich bin sicher, dass du mit diesem magischen Teil deiner selbst, schon mindestens genau so viel Gutes wie Schlechtes erreicht hast. Denk doch mal darüber nach, was passiert wäre, wenn du deine Kraft nicht hättest.
Es wären viele Menschen gestorben, nicht war?'
Ich dachte kurz nach, erlaubte mir dieses grüblerische Schweigen und ließ ihn somit warten.
Ja, ich hatte auch schon Leute gerettet, hatte mich selbst gerettet und war durch magische Aktionen vielen verzwickten Situationen entkommen.
Zwar hatte ich mir oft gewünscht, nicht mehr meine Kraft zu besitzen, aber wollte ich das auch wirklich? Oder noch viel wichtiger: könnte ich einen klaren Schlussstrich ziehen und ein Mensch werden, wenn sich mir diese Möglichkeit böte?
Ich wäre bereits am ersten Abend an Stelle von Gesine Hanwen gestorben, Jen wäre gestorben, meine Tante wäre gestorben, Luis wäre gestorben, die ganze Schule wäre von einem Angriff überrascht worden...
So viele Leben gegen das Eine von Gesine Hanwen, das ich genommen hatte.
Konnte man das rechtfertigen?
Konnte man die Menschen auf eine Waage legen, die über die Gerechtigkeit eines Mordes bestimmte?
Unsicherheit füllte mich aus.
Musste es vielleicht so kommen?
Nein, natürlich nicht, es war mein eigener Fehler gewesen, aber genauso gut könnte man als Optimist sagen, dass ich viel richtig gemacht hatte und das man über diese einzige, wenn auch ausschlaggebende Tat hinwegsehen konnte.
Ich hatte versucht, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen, um die zu schützen, die mir am Herzen lagen, und das würde ich auch weiter tun, egal was kommen würde. Die Frage war nur, ob meine Kraft das auch wollte.
Aber wenn sie doch ein Teil von mir war, musste sie den gleichen Willen haben wie ich, oder?
Mehr der weniger entschlossen nickte ich.
'Ich probiere es... vollkommen ich zu sein. Mit Kraft und ohne Angst, aber ich glaube da liegt Einiges an Arbeit vor mir.'
Richards Lächeln erhellte den ganzen Raum und schon allein das reichte mir als Belohnung für diese Entscheidung.
'Ich weiß, dass du es schaffen wirst.', sagte er und während seine linke Hand, er war wohl Linkshänder, nach dem noch immer dampfenden Kakao griff, fragte ich mich, woher er den Glauben in mich hatte. Er kannte mich doch gar nicht, hatte mich nicht aufwachsen sehen und hatte keinen meiner schönsten und schrecklichsten Momente miterlebt.
'Eine Frage noch.', hörte ich ihn sagen, nun lauerte keine unheimliche Distanz, keine meilenweite Entfernung mehr in seiner Stimme.
'Kannst du auch Leben schenken?'
Ich wusste natürlich woran er dachte, an wen er dachte.
Tatsächlich hatte ich selbst schon oft darüber nachgedacht, doch es würde nicht funktionieren.
Einen kurzen Moment erinnerte ich mich an den Tag, an dem ich Jen ihr Leben wieder geschenkt hatte.
'Ja,', antwortete ich also auf seine direkte Frage bezogen und ergänzte, 'aber es muss noch etwas Leben im Körper vorhanden sein.
Schließlich verlässt meine Energie mit der Zeit den fremden Körper und die eigene Macht breitet sich wieder aus. Sonst müsste ich meine vollständige Energie in den Menschen hineinschicken und ich denke selbst dann, wäre sie eher ein gewalttätiger Fremdkörper und das würde niemandem etwas bringen, mich vielleicht sogar töten.
Also nein, ich kann sie leider nicht retten und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir das wünsche, wie sehr ich mir wünsche, sie wäre wieder hier.'
Richard nickte sanft, verständnisvoll, als hätte er sich schon gedacht, dass die Sache einen Haken hat.
'Ich wollte ihr nur noch einmal sagen, dass ich sie liebe.', murmelte er leise und die Schuldgefühle tropften nur so aus seiner Stimme wie kalte Regenfälle bei einem Herbststurm.
'Sie liebte dich bis zum Schluss, sprach immer nur gut von dir, wenn auch durch Lügen.', erwiederte ich wahrheitsgemäß.
'Ja, es gab viele Lügen zu deinem Schutz, aber nimm ihr das nicht übel.', gab mein Vater offen zu und wollte dann scheinbar das Thema wechseln, 'Und nun zeig mir dochmal deine Kraft.'
Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn stolz machen und ihn vielleicht zum Lachen bringen.
Also ließ ich, ohne dass ich mich bewegte, eine dritte Tasse heiße Schokolade auf dem Tisch erscheinen.
'Trink es.', forderte ich und wusste bereits von dem Gefühl des warmen Keramiks an den Lippen, dem Geschmack des schokoladigen Kakaos nach Milch und dunkler, herber Schokolade, die in jedem Fall kräftig geßüst worden war, und seinem unwiderstehlichen Geruch nach kalten Wintertagen vor einem warmen, flackernden Kamin mit einer vollständigen, glücklichen Familie in meiner Kindheit.
Es würde sich in der Wahrnehmung seiner Sinne in keinster Weise von den anderen Getränken unterscheiden, aber dieses Getränk war um einiges emotionaler, erhielt meine Erinnerung, unsere Erinnerung.
Mein Vater griff vorsichtig nach der identischen dritten Tasse, genoss einen Schluck des Kakaos und sagte leicht verwirrt. 'Beindruckend. Du kannst alle meine Sinne täuschen.'
Erst dann erfasste ihn die Erinnerung, ließ ein Lächeln auf seinen Lippen erscheinen und traurige Tränen in seine Augen steigen.
Für einen Moment blickten wir uns in stiller Übereinkunft an.
Familie, so etwas wertvolles, das durfte man nie, niemals vergessen, egal, was passierte.
Dann verpuffte der falsche Kakao in seinen Händen zu Luft.
Er erschrack kurz, lachte ein leises, warmes Lachen, das ich gerne noch öfter gehört hätte, wurde dann aber viel zu schnell wieder ernst.
Mit nachdenklichem Blick sah er mich an.
'Deine Illusionen schweben gefährlich nahe an der Grenze zwischen Verschleierung und Wahrheit.
Durch deine enorme Macht bist du fast imstande Echt und Falsch zu vertauschen.
Du musst darauf achtgeben, was du tust, Tochter.'
Ich mochte diese kryptische Seite von ihm nicht besonders, nahm die Worte jedoch mit einem bedächtigen Nicken wahr.
Schon oft hatte ich über meine Grenzen nachgedacht und sie nur grob feststecken können, auch jetzt blieben sie ein unergründliches Geheimnis.
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