Kapitel 50
'Er ist tod.', murmelte ich leise, mehr um mich selbst zu überzeugen, als irgendetwas anderes damit zu bewirken, denn einen kurzen Moment schwankte meine gesamte Welt hin und her als befände ich mich während eines grauenvollen Gewitters auf einem kleinen Schiff.
Ich musste tief ein und ausatmen, um mich ein wenig zu beruhigen und doch schien dieser Moment zu unwirklich, als dass er hätte real sein können.
Zögernd wandte ich mich an den Polizeichef und fuhr ihn mit angespannter Stimme an: 'Sie haben gesagt, dass er bei einem Unfall umgekommen ist. Sie haben es mir doch erzählt.'
Er versteckte seinen Kopf in einer eigenartigen Position zwischen seinen Schultern, als würde er sich äußerst unwohl fühlen und erklärte: 'Richard hat mir befohlen, dass ich mich um den Fall kümmere, damit kein Verdacht aufkommt, dass er noch lebt. Also arbeite ich inkognito als Polizeichef und überprüfe alles, was mit dieser... Angelegenheit zu tun hat.'
Ehrlich gesagt hatte ich kein Wort von dem, was der alte Mann da sagte wirklich verstanden, war zu abgelenkt gewesen und konnte nurnoch mit Mühe mein Schwert, ohne zu zittern, an seine Kehle halten. Ohne meinen Fenriswolf, der eisern und mit feurigem Blick hinter mir stand, wäre er wahrscheinlich geflohen, aber selbst das hätte mich nicht interessiert.
'Er lebt.', flüsterte ich leise.
Es konnte doch nicht sein, dass er mein ganzes Leben lang dagewesen war, dass ich ihn hätte suchen können, dass er mir hätte helfen können, dass wir wie jede andere glückliche Familie hätten zusammenleben können.
Ein verbittert Ausdruck huschte über mein Gesicht, als ich mit knirschenden Zähnen fragte: 'Wusste meine Mutter davon?'
Eigentlich kannte ich die Antwort schon. Was waren wir nur für eine verkorkste Familie? Eine auf Lügen aufgebaute Familie und wenn man an einer Zog stützte alles in sich zusammen.
Der Fremde schüttelte möglichst sachte den Kopf und antwortete mir mit einem: 'Nein, nur Richard, ich und der Rest von seinem Gefolge wissen davon. Er lebt im... naja es ist kompliziert, aber du darfst niemandem sagen, dass er noch lebt. Niemandem, kapiert?'
Eigentlich stand er nicht in der Position mich zu bedrohen, aber seine Worte waren mir auch eher flehentlich entgegengeworfen.
Ich schwieg einen Moment, um mich zu sammeln und den riesigen Kloß in meiner Kehle hinunterzuschlucken, bevor ich laut aufforderte, mir den Weg zu weisen.
'Bring mich zu ihm.'
Ich musste ihn sehen. Wahrscheinlich war dies meine einzige Chance, ihn überhaupt einmal zu sehen und die konnte ich nicht verstreichen lassen.
Wie viele Jahre war es her, seit ich ihn gesehen hatte? Eine verdammt lange Zeit ohne uns etwas zu sagen. Wo hatte er gesteckt? Wie konnte er nur? Und wieso verdammt nochmal hatte er niemandem etwas gesagt?
Er war der König. Er war die Rettung, denn jetzt waren wir zu zweit.
Strahlende Hoffnung keimte in mir auf. Zu zweit waren wir stärker. Zu Zweit gewannen die Guten immer.
Er würde mir helfen müssen, denn es war auch sein Schicksal und er konnte seine Tochter nicht mit dieser Aufgabe alleine lassen, selbst wenn er sie kaum kannte.
Der Polizeichef riss nur die rauchigen, grauen Augen auf und starrte mich verdutzt an.
'Nein, dass kannst du nicht. Er möchte das nicht. Das steht völlig außer Frage... Es tut mir leid, aber es geht nicht.'
Sein Tonfall wurde mit dieser emttäuschenden Antwort um einiges milder.
'Doch es geht, er ist mein Vater.' , sagte ich lauter als gedacht und meine Worte wurden von einem leisem, bebenden Erdbeben begleitet, das tief aus meiner Macht zu kommen schien. Sie wollte es auch. Sie wollte ihn spüren.
Der Boden zitterte weiter unter mir. Ich würde meinen Willen bekommen. Meine Kraft würde ihn bekommen, das tat sie immer.
Schrecken trat ihn die Augen des alten Mannes, zwischen denen diese grässliche Narbe lag. Er musste viel durchgemacht haben in seinem Leben und tat mir deswegen auch ein wenig Leid, aber er würde verlieren, erneut.
'Zeig mir den Weg zu ihm.'
Meine Worte duldeten kein träges aber, kein abwiegelndes nein und ganz bestimmt kein nicht jetzt.
Trotzdem zögerte der Mann noch einen Moment, wobei ich die Zerrissenheit in seinen alten, aschgrauen Augen sehen konnte, bevor er wieder ganz sachte mit den Schultern zuckte und sich ein Stück von meinem Schwert weg drehte. 'Komm mit. Es geht hier lang.', murmelte er ergeben.
Einen kurzen Augenblick sah ich meinen Fenriswolf an, der den Kopf zu mir gesenkt hatte.
'Würdest du mit mir kommen?', fragte ich ihn in Gedanken.
Eine Welle seiner eigenen Zuneigung flutete durch mich hindurch und er nickte mit seinem großen, zotteligen Kopf.
Dankbar strich ich ihm über die Stirn und ließ meine Hand für einen Moment verweilen.
Du schaffst das, Nia. Es wird nur halb so schlimm. Er ist sicher nett.
Und eigentlich stimmten diese Überzeugungsversuche ja auch. Ein Gespräch mit meinem Vater konnte nicht halb so schlimm sein wie ein Albtraum mit Gabe Hanwen.
Dennoch wuchsen meine Sorgen und Zweifel, sobald ich mich hinter dem grauhaarigen Polizeichef in Bewegung setzte.
Ich hatte nicht über mein Vorhaben nachgedacht, als ich es von ihm verlangte, aber nun wurde mir klar, dass ich meinen Vater kein bisschen kannte.
Die Einzige Person, die uns irgendwie zusammenhielt, mal abgesehen von unserer DNA und dem königlichen Erbe, weilte nicht mehr unter uns.
Unsicherheit fuhr durch meinen Körper wie ein tödliches Gift.
Er war nicht wie ich. Er dachte nicht wie ich. Und er wollte nichts mit dieser wundervollen magischen Welt zu tun haben.
Genau damit würde ich ihn jetzt konfrontieren.
Der Fenriswolf folgte mir langsam und ab und zu konnte ich sein weiches Fell an meiner Hand spüren, was mir die Kraft gab, weiterzugehen.
So trotteten wir zu dritt Nachts über den Friedhof. Ein seltsames Gespann mussten wir abgeben, wenn man uns gesehen hätte.
***
'Sind wir bald da?', fragte ich ungeduldig und erinnerte mich gleichzeitig, diese Worte als Kind häufig wiederholt zu haben.
'Wann sind wir da?', 'Sind wir jetzt da?', 'Sind wir endlich da, Papa?', hallte meine hohe, klare Kinderstimme durch meinen Kopf.
Ich hatte nie abwarten können, bis wir an unserem Ziel, in diesem Fall den Kindergarten, ein Reiseziel nach mehreren Stunden Autofahrt oder nur der Besuch bei Freunden, ankamen und nun, viele Jahre danach, ging es mir paradoxerweise genauso.
Der alte Mann vor mir lachte leise, aber seine Stimme war nur wenig erwärmt wie von einem ehrlichen, spontanen Lachen.
'Ja, ja Prinzessin, habe Geduld.'
Ich schnaubte.
Inzwischen schien er Spaß in seinem Job gefunden zu haben, zeigte zur Orientierung auf ein Haus, einen Bahnübergang oder sogar einen scheinbar wichtigen Baum, wobei er sich da wohl über mich lustig machte, aber Prinzessin wollte ich wirklich nicht genannt werden, selbst wenn ich theoretisch eine war.
Mein Blick schweifte abgelenkt in die nahe Umgebung, die im schmalen Lichtschein des Mondes nur schwer zu erkennen war. Wir hatten uns inzwischen von dem Friedhof und auch der Stadt entfernt und unser Weg ging durch hohe Felder seitlich des Waldes hinter dem meine Schule verborgen lag. Zumindest schätzte ich, dass es im Sommer Felder sein sollten, da es sich nun um matschige, freie Flächen mit dünnen Wegen dazwischen handelte, auf denen wegen des kalten Wetters nur vereinzelt kleine Gräser und Unkraut aus dem Boden brechen konnten.
Leider hatte ich vergessen zu fragen, wie weit mein Vater entfernt war und nun war es mir zu peinlich, mich danach zu erkundigen. Dann würde ich eher die ganze Nacht durch dieses verdörrte Feld wandern.
Um die Stille für einen Moment zu brechen, stellte ich eine andere Frage.
'Wie heißt du eigentlich?'
Er sah sich nicht um, aber ich konnte sein dezentes Schulterzucken erkennen. 'Hank ist mein Name.'
Dann wurde es wieder still und ich blickte wieder in die öde Ferne.
Der matschige Boden erzeugte ab und an widerliche Geräusche, einmal rief eine Eule und einzelne Strohhalme ragten aus dem Schlamm hervor und ließen die sonst so leere weite Fläche traurig aussehen.
Auch ein Haus oder ein kleines Gebäude konnte ich nirgends entdecken und so langsam fragte ich mich, wo mein Vater den arbeitete, aß und schlief.
Er konnte ja nicht sein ganzes Leben auf der Straße verbracht haben, oder?
Genau in dem Moment, als ich mir diese Frage stellte, blieb Hank stehen. Verwirrt sah ich mich um und blickte ins Nichts.
Eine stumme Vermutung durchzuckte mich wie ein Blitz ohne Donner.
Ich war zu gutgläubig, denn er hatte mich einfach angelogen und das hier war nicht der richtige Ort.
Mein Vater konnte nicht hier sein, denn er wusste nichts von einem Treffen, war in keinster Weise informiert worden.
Verärgert über meine eigene Naivität überprüfte ich die Umgebung.
Da war niemand, eine ganze Weile zu beiden Seiten den Weg entlang nichts. Nur ein merkwürdiges Kribbeln durchzog meinen Körper, was ich wohl meiner Anspannung zuschreiben konnte.
In einer geschmeidigen Bewegung umfasste ich mit meiner rechten Hand fest meinen Dolch und streckte ihn in seine Richtung.
Der alte Mann drehte sich um.
Er wirkte merkwürdig ruhig.
Entweder er war ein ziemlicher guter Lügner oder er hatte nichts mehr zu verlieren, doch er kannte nicht meine Entschlossenheit, denn wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde ich auch alles zur Umsetzung dieses Planes versuchen. Ich würde ihn finden, irgendwie.
'Wir sind da Prinzessin.', stellte Hank trocken fest.
'Hier ist nichts.', erwiederte ich nervöser, als ich es mir anmerken lassen wollte.
Er hob seine buschigen Augenbrauen, sodass sich seine Narbe merkwürdig verzog und ich lieber weggesehen hätte. 'Doch hier ist 'was. Du müsstest es doch spüren. Konzentrier dich gefälligst, Prinzessin.'
Seine aschgrauen Augen starrten herausfordernd durch die schwarze Dunkelheit, während mein Kopf bereits auf Hochtouren arbeitete.
Es musste mit meiner Kraft in Verbindung stehen. Mit der Kraft, die Umgebung zu erkennen. Diese Kraft hatten mein Vater und ich gemeinsam.
Nur auf was genau sollte ich mich konzentrieren?
Ich horchte in mich hinein und nahm das Kribbeln noch stärker als zuvor war. Irgendwas hier stimmte nicht.
Vor uns auf dem Feld war eine kleine Fläche seltsam verschleiert, eine Täuschung.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich den Schleier vor uns wegzuwischen wie eine Feder und langsam erhoben sich viele kleine, blaue Sterne vom matschigen Boden und gaben genau vor uns ein großes, blassgelbes Loch frei.
Hank neben mir nickte gebannt und blickte den kleinen Sternen nach, die in den Himmel aufstiegen.
'Der Eingang.', murmelte er schlicht und setzte noch etwas unverständliches hinzu, dass wie 'Genau wie dein Vater früher' klang.
Ich ignorierte diese Worte und öffnete den schweren Schachtdeckel fast wie in Trance.
Es erschien eine Treppe hinab in die Dunkelheit.
Kurz blickte ich zurück zum Fenriswolf und schickte ihm in Gedanken: 'Du passt hier leider nicht rein, würdest du irgendwo in Sicherheit auf mich warten?' Dazu schenkte ich ihm eine Welle Wärme, die er mit seiner eigenen Kraft erwiederte. Als äußerliche Antwort senkte er den Kopf an meine Schulter, nickte leicht und lief danach zu den ersten Bäumen, um sich dort zu verstecken.
Ein so unglaubliches Tier.
Wie konnte dieser Fenriswolf, der so von Menschen oder eben Ausgeschlossenen, die aussahen wie wir oder Menschen, gequält worden war, mir so viel Vertrauen und Stärke schenken und immer für mich da sein? Ich wusste nicht, ob ich das an seiner Stelle gekonnt hätte.
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