Kapitel 48

Die schwarze Dunkelheit hatte sich bereits über den gesamten Himmel erstreckt, hatte die Welt wie eine Decke umhüllt.
Die Nacht war gekommen, um den Tag abzuwechseln, hatte sich gefreut, nach den Stunden des Wartens endlich die Macht zu übernehmen. Nur der starke, durchsetzungsfähige  Halbmond wachte über den stillen Campus, hatte sich durchgesetzt und die kleinen, auffällig glitzernden Sterne woben ein Netz über den dunklen Himmel.
Ruhig sah ich hinauf in die scheinbar endlosen Weiten, verlor mich irgendwo zwischen den Sternen und fand mich wieder, als ich den Polarstern entdeckte, der heller als die anderen leuchtete, der es immer schaffte die Nacht zu durchdringen.
Er passte jede Nacht auf mich auf und das seit ich klein war.
Nur gegen Gabe Hanwen konnte er nicht ankommen.
Aber wie sollte er auch?
Und wer konnte das schon?

Es war sehr still. Das Schweigen des Waldes wurde nur durch einen leichten Wind, der zwischen den Bäumen und weiter entfernt stehenden Häusern hin und her wehte unterbrochen.
Binnen weniger Sekunden untersuchte ich die Umgebung.
Es war kein Ausgeschlossener in der Nähe. Sie schienen heute Nacht weit weg zu sein und das war gut so.
Ich hatte mich trotzdem entschieden meinen Kampfanzug anzuziehen, da er am bequemsten war und mir beruhigende Sicherheit schenkte.
Der dünne und doch robuste, schwarze lederähnliche Stoff lag eng an meinem Körper wie eine zweite Haut. Meine einziege Waffe war der Dolch in meinen ebenfalls schwarzen Stiefeln, da ich heute nicht erwartete gegen jemanden zu kämpfen und somit nicht von einer Waffe behindert werden wollte. Das schwarz meiner Klamotten galt hauptsächlich der Tarnung in der Nacht. So konnte mich niemand erwischen, wenn ich mich heimlich vom Campusgelände stahl und den Weg durch die belebten Straßen auf mich nahm.

Noch ein letztes Mal kontrollierte ich die Umgebung auf andere Personen, schwang mich durch das Fenster und dämpfte meinen Aufprall, indem ich mich geschickt abrollte.
Der Weg durch mein Fenster war mir lieber, weil ich die Vermutung hatte, dass das Sicherheitssystem der Wohnhäuser, welches einem nur erlaubte durch die eigene Chipkarte einzutreten, kontrolliert wurde, damit nächtliche Ausflüge ausgeschlossen werden konnten.
Zusätzlich war die Flucht aus dem Fenster doch um einiges aufregender.
Ein winziges Grinsen huschte bei diesem Gedanken über mein Gesicht.

In einem gemütlichen Lauftempo machte ich mich auf den Weg zum Tor, wo ich mich, ohne zu pausieren, in eine schwarze Wolke verwandelte, mich dann durch das Tor schob und zum Schluss auf der anderen Seite weiterlief. Meine Gedanken flogen zurück zu dem Gespräch mit Jack.
Mit den anderen Teilen meiner Kraft konnte ich schon gut kooperieren, weil sie einfach zu meinem Alltag gehörten, zu mir gehörten.
Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl,  die Lebensenergiekraft abzuweisen. Ich mochte sie schlichtweg nicht, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit und dem Geheimnis hinter einer Annahme meiner Kraft war ich noch immer nicht auf die Spur gekommen, obwohl ich in der Vergangenheit schon viele Versuche gemacht hatte.
Achtsam mit den Augen suchend, die sich langsam an die vollkommene Dunkelheit gewöhnten, blieb ich im Wald stehen und sendete meine Kräfte aus, um meinen Fenriswolf zu finden. Seine starke Aura leuchtete mir wie ein besonders heller Stern entgegen.
Er war nicht mehr weit entfernt und kam in einem unglaublich schnellen Tempo auf mich zu.
Freude durchströmte mich als ich an ihn dachte und diese Freude schickte ich dem Fenriswolf sofort entgegen, damit er sie spüren konnte. Noch bevor ich ihn hinter den Bäumen erahnen konnte, wusste ich, dass er die spontane Freude mit mir teilte. Schlitternd und voller Energie kam er vor mir zu stehen, in seinen Augen glühte das Feuer seiner unbändigen Kraft.
Zur Begrüßung berührte ich das mächtige Wesen liebevoll an der feuchten Nase und schickte ihm gleichzeitig eine Welle der Wärme. 'Bist du bereit?', fragte ich ungeduldig mithilfe vom Gedankenverschickung und er nickte mit seinem großen, zotteligen Kopf.
Dann duckte er sich ein wenig, damit ich an seinem dunklen, weichen Fell hinaufklettern konnte.
Geschickt, weil ich das schon gefühlte tausend mal gemacht hatte, kletterte ich auf seinen Rücken und konnte mich gerade noch an einem dunkelbraunen Fellbüschel festhalten, als der Fenriswolf mit einer gefährlich schrägen Wendung loslief.

Er raste durch die Nacht und wich nur in letzter Sekunde engstehenden Bäumen aus.
Adrenalin schoss durch meine Adern, wärmte mich von innen und ich spürte gleichzeitig den kalten Wind auf meinem Gesicht, der nach baldigem Regen roch.
Mit einem großen Satz setzten wir über einen kleinen See hinweg, wobei ich wirklich gut achtgeben musste, nicht herunterzufallen. Um diesen Ritt zu überstehen musste man zum einen genügend Vertrauen in das mächtige Wesen gefasst haben und zum anderen wahrscheinlich ein kleines bisschen verrückt sein, aber es war trotzdem wunderschön, wenn man sich darauf einließ und ich hätte diese Erinnerungen mit ihm für nichts hergegeben.

Schon bald wurden die Bäume immer lichter und nurnoch einige Tannen, welche durch die Pfoten des Fenriswolf, die kraftvoll auf den Boden auftraten, sanft vibrierten, säumten unseren Weg.
Dann konnte ich schon die Straße mit den ersten Häusern erblicken. Der Fenriswolf wurde langsamer und blieb schließlich einen Moment stehen. Ich war mir sicher, dass er sich sonst nur in abgeschiedenen Orten aufhielt und die Städte und Dörfer mied.
Trotzdem mussten wir ein kleines Stück hier durch, um zu unserem Ziel zu gelangen.
Ich atmete tief die kühle Nachtluft ein und gab ihm einen Moment Zeit, während ich die Umgebung kontrollierte.
In der Nähe befanden sich nur schlafende Menschen, keine Ausgeschlossenen.
Entschlossen flüsterte ich meinem Fenriswolf in Gedanken zu: 'Ich vertraue dir. Du vertraust mir. ' Gleichzeitig schickte ich ihm ein sicheres, warmes Gefühl, um meine Botschaft zu unterstreichen.
Ich wusste, dass ich viel von ihm verlangte, weil er oft von meines gleichen verraten worden war, doch ich wollte mit ihm zu meinem Ziel, wollte ihn dabei haben.

Noch einen Moment zögerte das mächtige Wesen, bevor es umso schneller lossprang und in einem rasenden Tempo zwischen den Häusern hin und her preschte. Ich war sehr froh, dass mein Kampfanzug mich gegen den beißenden Wind schützte, da ich bei diesen Tempo ohne ihn wahrscheinlich erfroren wäre.
Ich erschreckte mich aufgrund des Schreis einer Eule, die wohl auf Beutejagd war, und vergrub mein Gesicht dann müde im Fell meines Fenriswolfes, blendete alles um mich herum aus, ließ ihn den Weg finden, bis er irgendwann stehen blieb.
Ich hatte ihm den Weg bereits gestern vage durch meine Gedankenverschickungskraft gezeigt. Er hatte sich die Bilder nur einmal angesehen und hatte wahrscheinlich so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis, denn anders konnte ich mir seine gute Orientierung nicht erklären.
Nach nicht allzu langer Zeit machte der Fenriswolf einen riesigen Satz. Das musste das Tor gewesen sein. Natürlich war es in der Nacht abgeschlossen.
Nachdem er stehen geblieben war, schlug ich die Augen auf und blickte doch in tiefschwarze Dunkelheit.
Zum Glück hatte ich daran gedacht meine Taschenlampe mitzunehmen. Entschlossen klopfte ich noch einmal den Fenriswolf wie ein braves Pferd, rutschte von seinem Rücken hinunter und schaltete meine grelle, unheimlich blassgelb leuchtende Taschenlampe ein.

Ein kalter Schauder lief mir bei dem Anblick über den Rücken, da ich noch nie nachts auf einem Friedhof gewesen war.
Viele Schauergeschichten über Geister, die Nachts zwischen den Gräbern lauerten, hielten einen normalerweise von diesem Ort fern. Ich hatte zwar noch nie wirklich an Geister und andere übernatürliche Dinge geglaubt, aber wer wusste, was sich noch Anderes an diesem schaurigen Ort verbarg und an Magie und Wesen aus Kinderbüchern hatte ich ja auch nicht geglaubt...
Vielleicht war es doch keine so gute Idee jetzt zu diesem Friedhof zu gehen.
Eigentlich hätte ich auch genausogut mit Marc tagsüber hier aufkreuzen können, aber nein, irgendwas hatte mich dazu gebracht, jetzt aufzubrechen.
Vorsichtig schwenkte ich meine Taschenlampe hin und her, um zu entdecken, dass ich mich noch nah am Eingang befand.
Hoffentlich würde ich den Weg zum richtigen Grab schnell finden.

Als mich weiches Fell an der Wange berührte, wusste ich, dass ich nicht alleine war, und das gab mir den Ansporn, mich in Bewegung zu setzten.
Schritt für Schritt bewegte ich mich zwischen den schmuckvollen alten, leider zum Teil leicht verwahrlosten Grabsteinen, schön dekorierten, von Blumen geschmückten neuen Gräbern, von Menschen die erst vor kurzem verstorben waren, und fast vollständig verwesten Gräbern mit losen Steinplatten auf denen Unkraut wucherte.
Die verschlungenen Kieswege führten mich einmal nach rechts, zeimal nach links und dann noch ein kleines Stück gerade aus.
Hier musste es irgendwo sein.
Im Licht der Taschenlampe suchte ich nach dem richtigen Namen.
Fast wäre ich über einen etwas größeren Stein auf dem Boden gestolpert, als ich den Grabstein, einen hellgrauen, schmalen, aber dafür recht hohen Stein in der Form eines Baumes, entdeckte.
Zu beiden Seiten hatte meine Tante eine Reihe weiße Tulpen pflanzen lassen, welche die Lieblingsblumen meiner Mutter waren, und in der Mitte des erdigen Bodens mit vereinzelten Blumen standen zwei kleine, rote Kerzen.

Direkt neben den Grabstein lag noch ein kleines Säckchen mit Lavendel, welches ich am Tag der Beerdigung dort hingelegt hatte.
Meine Mutter hatte diese Duftsäckchen immer in jedem Zimmer unseres Hauses hängen gehabt, weil sie denn beruhigenden Duft so sehr liebte.
Auch jetzt sollte sie ihn riechen können, fals das noch möglich war, von dort wo sie nun wachte.
Zuletzt beobachtete ich die schlanke,  verschnörkelte Schrift, die tief in den glatten, marmorierten Stein hereingeritzt war.
'Richard Miller. Linda Miller.', las ich leise die Namen meiner Eltern vor. Wir hatten beide in das gleiche Grab legen lassen und vielleicht würde ich dort auch irgendwann liegen, ein gruseliger Gedanke.
Dennoch gefiel mir die Aufschrift nicht wirklich.
Richard Traumfänger hätte es heißen müssen.
Er hatte königliches Erbe in sich und er sollte es auch nicht ablegen können, so wie ich es nicht konnte.

Meine Stimme klang unsicher, als ich begann, zu mir selbst zu sprechen.
'Hey... Mama. Ich hab dich lange nicht besucht, das tut mir leid.
Ich hoffe nur, dass es dir gut geht, dort, wo du jetzt bist. Und danke, für alles, für deine Liebe, deine Fürsorge, selbst den täuschenden Schutz, den du mir gewährleitet hast, für die Erinnerungen die du mir gelassen hast und für...'
Ich stockte mitten in meiner kleinen und schon viel zu lange überfälligen Dankesrede, die mir die Tränen in die Augen trieb, und hockte mich auf den Boden, weil ich zwischen den Tulpen ein paar weiße Rosen entdeckt hatte. Vorsichtig hob ich die Blumen mit dem zarten Blüten und den dornigen Stängeln hoch, wobei einzelne Rosenblätter abfielen.
Manche Rosen schienen schon länger hier zu liegen, zumal sie bereits braun, trocken und verwelkt aussahen, andere schienen noch recht frisch zu sein.
Jemand hatte wohl jeden Tag eine neue Rose hier hin gelegt.
Vielleicht hatte meine Mutter ja noch einen geheimen Verehrer gehabt.
Das mit meinem Vater war schließlich schon lange her.
Skepsis nistete sich in meinen Gedanken ein. Sie hätte mir doch sicher gesagt, wenn es einen neuen Mann in ihrem Leben gegeben hätte.
Also wer schenkte ihr Rosen?

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