Kapitel 47
Leichter Nieselregen fiel vom dunkel bewölkten Himmel und tropfte auf die aschgrauen Steine, die einen Weg über den Campus formten und befleckte sie mit dem frischen Wasser.
Das Wetter schien an diesem Wintertag, keine Lust mehr auf Sonne zu haben und deswegen liefen die Regentropfen schon den ganzen Tag an Fenstern, Fassaden und kahlen Bäumen herunter. Eine Ende war nicht abzusehen.
Mit einer schnellen Handbewegung schob ich mir die dunkelrote Kapuze meines kuscheligen Pullis über den Kopf, um mich vor den dicken, platschenden Regentropfen zu schützen. Dann trat ich aus dem Schutz des Schulgebäudes heraus und folgte dem Pfad zur Bibliothek.
Jack hatte mich gestern gebeten, dass ich ihn heute nur in der Bibliothek besuchen sollte, weil wir ein wenig über meine Kraft und das Gefühl, wenn ich meine Kraft benutzte, reden wollten, um Klarheit zu schaffen.
Er war der Ansicht, dass wir so schneller einen Erfolg erreichen würden.
Jen hatte sich sogar angeboten mitzukommen, um mir beizustehen oder ein paar neue Ausreden für mich zu erfinden, doch ich wollte sie nicht unnötig aufhalten. Mit Jack reden, konnte ich auch alleine und er würde sicher keine zu spezifischen Fragen stellen, auf die ich keine passenden Antworten parat hätte. Außerdem war ich inzwischen ganz gut im drumherum reden und mein Geheimnis wprde sicherlich nicht ans Licht kommen.
Und selbst wenn es so wäre, hätte ich bei dem alten Mann das Gefühl, dass er schweigen konnte wie ein Grab.
Es darauf ankommen lassen, wollte ich aber auch nicht.
Jen unternahm jetzt wahrscheinlich etwas mit Justin. Die beiden brauchten meiner Meinung öfters ein bisschen mehr Zeit zu Zweit, aber Jen schien alles unter einen Hut zu bekommen, denn ihre Beziehung hielt jetzt schon länger als ein halbes Jahr ohne einen einzigen großen Streit, wobei es zugegebenermaßen schwierig war sich mit der harmoniebedürftigen Jen zu streiten.
Bei der dunklen Steintreppe angekommen, blieb ich einen Moment stehen, um die Gravuren auf der Treppe und die alten Steinstatuen parallel an deren Seiten zu begutachten. Tag und Nacht wachten sie mit strengem Blick über das runde, imposante Gebäude, das mit hunderten, tausenden, Büchern gefüllt war.
An den Buntglasfenster liefen Tropfen in kleinen Flüssen herunter und der magische Einschlag der Sonne, der sonst in diesen Fenstern einen winzigen Regenbogen erzeugte, würde wohl heute ausfallen.
Vorsichtig stieg ich die Treppenstufen hinauf und fühlte mich dabei vom schützenden Blick des steinernen Greifen verfolgt.
Als nächstes öffnete ich mit einem robusten Ruck die schwere Steintür und trat ein.
In der Bibliothek war es warm.
Viele Schüler hatten sich hier zum Lernen oder Lesen versammelt. Es roch immernoch nach alten Büchern und Pergament und wie jedes mal beruhigte mich dieser Duft.
Mein suchender Blick galt dem alten Bibliothekar, aber gleichzeitig war ich froh an den runden Tischen keine bekannten Schüler zu erkennen.
Am Tresen saß Jack und lächelte mir freudig zu, sobald er mich erblickte. Während ich über den schachgemusterten Boden zu ihm schritt, fiel mir auf, wir selten ich nurnoch zum Aushelfen in die Bibliothek kam. In letzter Zeit hatte ich so vieles vernachlässigt.
'Hallo Jack.', lautete meine Begrüßung, die der Bibliothekar mit einem Lächeln und den Worten 'Schön, dass du da bist, Nia.', erwiederte.
Ich sah noch einmal an den hohen Bücherregalen hinauf, die den ganzen Raum einnahmen und blickte dann zu dem reichlich überfüllten Bücherwagen neben dem Tresen. Anscheinend hatte Jack noch keine Zeit gehabt, sie zurückzuräumen.
'Bist du fertig hier oder soll ich dir helfen, die Bücher an ihren Platz zurückzubringen?', bot ich hilfsbereit an, doch Jack schüttelte den Kopf.
'Du kannst mir gerne später helfen, aber erstmal reden wir über deine Kraft. Einverstanden?'
Gemeinsam gingen wir in seinem langsamen, gemütlichen Tempo durch die schwarze Hintertür und traten in das kleine Zimmer mit dem Schreibtisch, den Bücherregalen, den zwei Sesseln und dem Kamin, in dessen Inneren die roten und gelben Flammen züngelten, ein.
Schon beim ersten Mal hatte ich diesen Ort als besonders schön und ruhig empfunden.
Nachdem wir uns bequem in die dunkelroten Ledersesseln gesetzt hatten, begann unser Gespräch.
'Denkst du, unser Training war bisher erfolgreich,'
'Naja, nicht wirklich. ', meinte ich entschuldigend, aber Jack nickte nur optimistisch. 'Dann sollten wir das jetzt ändern.'
Ich mochte seinen Tatendrang und ließ meinen Blick kurz in das zischelnde, orangerote Feuer gleiten. Nach ein paar Sekunden folgte seine nächste Frage.
'Und welcher Teil deiner Kraft macht dir genau Probleme?'
Ich antwortete nur knapp, gab Jack aber ein paar mehr Informationen, damit er wusste, woran er war.
'Der Teil, bei dem ich die Kraft meiner Mitmenschen spüre, wenn ich sie berühre. Meine eigene Kraft will dann einen Kraftaustausch bewirken, nur das meist in die eine Richtung. Also sie versucht dann ohne mein Zutun einen Teil der Kraft des anderen Gewählten ...oder ähm wahrscheinlich auch Mensch oder Ausgeschlossenen zu nehmen, um sich selbst zu stärken.
Das Abgeben der Kraft ist nicht ganz so schwer, sobald ich den Kraftfluss in meine Richtung zügeln kann... naja, falls ich das überhaupt kann.'
Jack fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen.
'So etwas wie ein Magnet der Kräfte anzieht und du kannst das nicht steuern.'
Ich schüttelte wild den Kopf, um diesen Teil, diesen Kern des Problems zu beurteilen.
'Nein, das kann ich nicht. Dabei brauche die Kraft des Gegenübers meist gar nicht.', erwiederte ich, obwohl seine gefasste Aussage keinesfalls wie eine Frage klang.
'Gut, und was fühlst du dabei?', hackte Jack nun, immernoch ohne seine Gestik und Mimik zu verändern, nach und ich fühlte mich langsam wie in einem strengen Verhör, bei dem nurnoch die grelle, blendende, auf mich gerichtete Lampe und der zerkratzte Holztisch fehlten fehlten. Trotzdem antwortete ich wahrheitsgemäß.
'Naja, darüber hab ich noch nie so nachgedacht.
Ich bin jedes Mal wieder überrumpelt und überfordert, weil ich die Kraft nicht zurückhalten kann... weil sie stärker ist als ich, was mich dann wütend auf meine eigene Unfähigkeit werden lässt. Ich meine, wer hat schon seine eigene Kraft nicht unter Kontrolle.', sagte ich mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen und warf die Hände hilflos in die Luft.
'Ich verstehe das. Ich hab mich auch mal so gefühlt, ', gab Jack zu, 'aber es ist nichts Schlimmes. Es handelt sich lediglich um einen Lernprozess.
Du hast schließlich eine starke Kraft.'
'Ich hätte aber lieber eine schwache Kraft.', murmelte ich im Anflug eines warmen, weichen Wunsches in mich hinein, doch der alte Mann hatte es natürlich gehört.
Langsam lehnte er sich zurück und fragte skeptisch: 'Also würdest du deine Kraft im großen und ganzen nicht als einen Freund ansehen? Würdest du lieber ohne sie leben?'
Ich schluckte hörbar, schüttelte aber sachte den Kopf.
'Nein, also nicht jeden Teil von meiner Kraft. Nur diesen Teil.
Ach, ich weiß nicht, es ist halt einfach kein schönes Gefühl. Zusätzlich fühle ich mich immer schuldig, wenn ich jemandem Kraft genommen... naja geklaut habe. Das kann doch nicht richtig sein.'
Ich biss mir auf die Lippen, um nicht von dem Drang des ehrlichen Erzählens wie von einer Flutwelle übberrollt zu werden und ihm nicht auch noch von meinem Mord an Gesine Hanwen zu erzählen, dessen Schuld und Reue mich seit ihrem Tod wie ein tonnenschweres, mich Tag für tag erdrückendes Gewicht auf meinen Schultern belasteten.
Das reichte jetzt erstmal für seine Analyse und meine Kontrolle wollte ich bei diesem Gespräch auch behalten.
Mit der Hilfe von drei tiefen Atemzügen hatte ich mich wieder beruhigt.
'Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr dich das bedrückt. So eine Kraft kann eine große Last sein, sie kann am Anfang durchaus unschön sein, aber mach dir keine Sorgen, denn jede Kraft hat schlechte und gute Seiten. Das ist vollkommen normal. Du musst einfach nur lernen damit umzugehen und dabei hilft dir die Zeit.'
Einfach nur lernen. Die Zeit. Sicher doch.
Nur, dass ich die Einzige komplett ohne Kontrolle bin.
Nur, dass ich die Einzige bin, die binnen weniger Sekunden töten kann.
'Und wie hast du reagiert und dich gefühlt, als du diesen, nunja, besorgniseregenden Teil deiner Kraft zum ersten Mal gespürt hast?'
Für einen kurzen Moment dachte ich an die Tage nach der Nacht, in der ich Gesine Hanwen das Leben genommen hatte, zurück. Es waren neben der Zeit mach dem Tod meiner Mutter wohl die schlimmsten Tage meines Lebens gewesen, weil ich alle Menschen von mir stoßen und mich somit vollkommen isolieren musste, die mir etwas bedeuteten. Nichts schlimmeres könnte ich mir vorstellen, abgesehen von dem Tod dieser Liebsten.
Meine folgenden Worte waren bedacht gesetzt wie Figuren in einem Schachspiel.
'Zuerst war ich wohl geschockt von dieser Kraft und ihrer Stärke. Ich hatte Angst...
Ich habe Angst, dass diese Kraft mein Leben kontrolliert.
Ich habe ja sogar versucht, meine Kraft in ein Gefängnis einzusperren, nur damit ich ein paar Stunden ohne sie verbringen kann.'
'Was hast du gemacht?', fragte Jack scheinbar erschrocken und sah mich mit ehrlich besorgten, geweiteten Augen an.
Ich zuckte mit den Schultern, wollte nicht weiter darauf eingehen, und erinnerte mich an den gescheiterten Versuch, meine Kraft loszuwerden, um wieder mit Luis zusammen zu sein. Fast ein wenig traurig, dass es nicht geklappt hatte, erklärte ich Jack: 'Naja, ich habe ein für meine Kraft unzerstörbares Gefängnis in meinem inneren illusioniert, damit ich meine Kraft nicht spüre. Sie war einige Stunden sicher eingesperrt und hatte keine Kontrolle über mich.
Zuerst hat es auch tatsächlich ganz gut geklappt, aber durch dieses Gefängnis habe ich mir selbst so viel Energie geklaut, dass ich mich selbst verletzte.
Am Ende war es nicht mehr auszuhalten und ich bin fast zusammengeklappt.
Also habe ich diese selbstgeschaffene Sperre aufgelöst und es seitdem nicht mehr probiert.
Im Nachhinein war es eine irrsinnge Idee.'
Jack schüttelte den Kopf über meine Erzählung, zog die buschigen Augenbrauen zusammen, sodass die tiefen Fakten auf seiner Stirn sichtbar wurden und lachte fast ein wenig, aber es war nicht sein freundliches Lachen.
'Du hast tatsächlich versucht deine Kraft in dir einzusperren. Ich glaube es kaum, das ist mir ja wirklich noch nie untergekommen.
Weißt du Nia, die jungen Gewählten bekommen es schon ganz früh mitgeteilt, aber anscheinend weißt du es nicht... oder du willst es nicht wissen.
Die Kraft ist ein Teil von dir. Sie gehört zu dir wie dein Arm, dein Kopf oder dein Herz und so musst du sie auch behandeln.'
Jacks Worte brachten mich zum nachdenken. Er hatte schon zuvor gesagt, dass eine echte Kooperation mit der Kraft das Wichtigste sei, aber ich hätte nie daran gedacht, meine Kraft als mir zugehörig zu bezeichnen, als Teil meines Körpers.
Dafür war sie viel zu eigenwillig und ich in der Kooperation mit ihr zu selbstständig.
Außerdem schien meine Kraft ja auch kein Teil von mir sein zu wollen.
Sie verursachte nur Leid und Tod. Darauf konnte ich wirklich verzichten.
'Und wenn ich nicht will,
dass sie ein Teil von mir ist?', fragte ich den alten Bibliothekar unruhig und rutschte dabei auf meinem Sessel hin und her.
'Schneidest du deinen Arm ab, wenn er dir nicht gefällt?', stellte er eine Gegenfrage, auf die ich nichts zu antworten wusste.
Jack legte den Kopf schief, schnaufte leise und blickte mich fürsorglich, fast mit großväterlicher Liebe an, wobei seine Augen im warmen Licht des Feuers einen bronzenen Schimmer besaßen.
'Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt, Nia.
Aber leider kann ich dir, so gerne ich das würde, an dieser Stelle nicht weiter helfen, dich nicht weiter begleiten, denn den letzten Schritt musst du selbst gehen.
Also hör endlich auf, deine Kraft abzuweisen.'
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