Kapitel 46

Entschlossen stand er auf und warf sich seine dunkelgrüne Stoffjacke über, in der ich sicher erfroren wäre.
Anschließend hielt er mir nach einer knappen, grinsenden Verbeugung seine Hand hin. Wiederwillig und doch mit einem Lächeln auf den Lippen legte ich meine Hand in seine, damit er mich hochziehen konnte, schnappte mir ebenfalls Jacke und Schal und folgte ihm hinaus aus der braunen Holztür von dem warmen, ruhigen Ort in den kalten Schnee des dunklen Waldes.
Ein eisiger Wind wehte umher, sodass ich mich enger in meine Lederjacke kuschelte und meine Hände in den Taschen versenkte.
'Der Winter ist ganz schön kalt dieses Jahr.', stellte ich fest.
Marc nickte zustimmend, ging aber zielstrebig weiter.
'Dafür ist es umso schöner drinnen im Warmen zu sitzen.'
'Von da sind wir ja gerade weg.', stellte ich leise grummelnd fest und verschränkte die Arme vor der Brust. 'Ach stell dich nicht so an, Nia.', sagte er versöhnlich und fragte dann, 'Wo ist denn deine Tante? Sie hatte doch einen Schlüssel für dieses dicke Eisentor am Eingang.'
Erst jetzt fiel mir auf, dass wir eigentlich gar nicht ohne Hilfe hier raus kommen sollten, erklärte ich schnell: 'Nein kein Problem, ich habe auch einen Schlüssel.'
Eilig formte ich in meiner Jackentasche erneut einen Schlüssel der in das Schloss passte, wobei ich mich noch genau an seine spezifische Form erinnern konnte.

Anschließend zog ich die Illusion aus der Tasche und zeigte sie ihm.
Dabei ahnte Marc wahrscheinlich überhaupt nicht, wie verboten es war hinaus zu gehen, aber wenn ich mich schon entschieden hatte, mit ihm zu gehen, dann sollte ich unseren Ausflug auch auf meine Art  durchziehen und der Gang zu meiner Tante hätte ihn innerhalb einer  Sekunde Reaktionszeit beendet. Gemeinsam gingen wir also zum Tor und Marc freute sich über meine scheinbaren Privilegien.
'Wie cool, dass du auch einen Schlüssel hast.'
'Ach, der ist leider nur ausgeliehen.', log ich der Einfachheit halber.
Beim Tor angekommen schloss ich in Ruhe auf.
Vorsichtig schob ich das Tor zur Seite, ließ uns hindurchgehen und schloss es dann wieder hinter uns, sodass außer uns niemand unerlaubt hindurchgehen konnte.
'Okay, wohin willst du genau?', fragte ich nun, verschaffte mir somit Zeit und untersuchte zeitgleich die Umgebung auf Feinde.
Es war weit und breit keine Aura zu spüren, bemerkte ich erleichtert, obwohl mir irgendetwas in näherer Umgebung ein schlechtes Gefühl vermittelte, was genausogut nur meine eigene Anspannung sein konnte.

'Du folgst mir einfach.', beschloss Marc, hakte sich bei mir unter wie Jen es manchmal tat und ich folgte ihm  dann auch.
Wir liefen ein kleines Stück durch den Wald.
Die kahlen Bäume, an dessen Ästen vereinzelt im goldenen Licht glänzende Eiszapfen hingen, wirkten traurig ohne ihr schmückendes Blätterdach und der matschige, braune Boden sah ohne das hohe, grüne Gras des Sommers seltsam kahl aus, doch dieser Wald verlor nie seine Magie, denn das Herz des Waldes hörte nie auf zu schlagen, hörte nie auf, diese Ruhe und Ausgeglichenheit zu verbreiten, und bald schon, man konnte es im leise rauschenden Wind erahnen, würden die Bäume wieder von frischen, grünen Blättern geschmückt sein und die Blumen würden wieder in allen Farben des Regenbogens blühen.
Bald schon war der eisige Winter durchgestanden und der Kreislauf der Natur würde von neuem beginnen.

Schweigend gingen wir durch die grauen, vollen Straßen der Stadt.
Nur Menschen kamen uns entgegen und viele Autos fuhren in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei. Eigentlich hatte sich nichts geändert seit meinem letzten Besuch.
Zum Schluss gingen wir in den kleinen Park, in dem ich früher gemeinsam mit Marc gespielt hatte. Auch dieser Park wirkte ruhig und seine Schönheit war eingefroren oder für den Moment verloren, aber Marc führte mich zielsicher über die Kieselsteinpfade, hatte sein Ziel klar vor Augen.
'Wir sind gleich da.', meinte er zu mir. 'Aber was willst du mir denn hier zeigen? Hier ist doch nichts.', fragte ich überrascht.
Er schmunzelte und bog nach links über die Flächen, die sonst von kleinen Wiesenblumen und wild wuchernden Kräutern geschmückt waren.
'Es ist eigentlich nichts Besonderes, aber ich wollte unbedingt mit dir teilen, dass es noch hier ist.'
'Was ist hier? Sag schon!', quengelte ich und stupst ihn spielerisch, wenn auch nicht ganz sanft in die Seite, als er ruckartig stehen blieb und die Ruhe genoss, die ich mit meinen kindlich ungeduldigen Rufen zerstörte.

Erst als ich bemerkte, dass er nicht mehr antworten würde, weil er stattdessen mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schwieg, beobachtete ich die nähere Umgebung.
Wir standen vor einer alten Eiche. Langsam trat ich einen Schritt näher und begutachtete die dunkle, verwitterte Rinde, auf der nur noch schwer lesbar die Buchstaben M + N standen, um die herum ein großer unregelmäßiger Stern in den Baum geritzt war.
In dem Moment, wo ich diesen Schriftzug bemerkte, erreichte mich eine alte Kindheitserinnerung.
Marc und ich hatten als kleine Kinder immer im Park gespielt, hatten uns Spiele ausgedacht und alleine mit der Kraft unserer Fantasie herumgetollt.
Alles war möglich, was im Bereich unserer Vorstellung lag.
Einmal hatten wir Forscher im Dschungel gespielt und waren zwischen den Bäumen hin und her gejagt.
Dann hatte Marc mir mit seiner hellen Kinderstimme zugerufen: 'Wir müssen uns auch verewigen, Nia. Dann können die nächsten Forscher uns in hunderttausendmillionen Jahren entdecken. Dann wissen die auch, dass wir hier waren.'
Voller Tatendrang hatte er sein neues Taschenmesser ausgepackt, das sein letztes Geburtstagsgeschenk von seinem Vater gewesen war, welches die Mutter in eine hysterische Stimmung gebracht hatte und in seiner Familie einen kleinen Streit verursacht hatte. Damit hatte er unsere Anfangsbuchstaben in den Baum geritzt.

'Und was heißt das?', hatte ich mit ebenso flappsiger, kindlich unschuldiger Stimme nachgefragt. Marc hatte gegrinst und auch schon damals hatte er sein Grübchen beim Lächeln preisgegeben.
'Das heißt, dass wir zusammen gehören. Wir sind doch schließlich beste Freunde. Und wenn wir uns das hier ansehen, bekommen wir neuen Mut, weil zusammen können wir alles schaffen.'
'Auch Monster besiegen?', fragte ich voller Bewunderung für dieses Zeichen und riss dabei meine großen hellbraunen Augen auf, wartete aber nicht Marcs Antwort ab, sondern verlor mich in meinen eigenen Vorstellungen, 'Dann sind wir ja unbesiegbar'.
Er sein niedliches Honigkuchengrinsen nicht mehr ablegen können und gleichzeitig geschickt einen Stern um unsere Anfangsbuchstaben malte.
Dabei murmelte er ehrfurchtsvoll: 'Nichts kann uns aufhalten.'

Die Worte des Jungen Marcs echoten laut in meinem Kopf hin und her.
'Nichts kann uns aufhalten.', flüsterte ich in die eisige Luft.
Marc sah mich hoffnungsvoll lächelnd von der Seite an.
'Du weißt es anoch.'
'Natürlich. Wie könnte ich diesen feierlichen Tag vergessen haben.
Das Zeichen ist tatsächlich immer noch hier. Wie viele Jahre sind vergangen?'
Marc strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über das Holz und zuckte mit den Schultern, bevor er schätzte: '8 oder 9 Jahre vielleicht.'
'Wie die Zeit vergeht.', murmelte ich gedankenverloren, 'Wie sich die Welt verändert.'
Marc musterte mich immernoch ruhig von der Seite und legte den Kopf schief wie ein junger Hund.
'Wie wir uns verändern.', verbesserte er mich und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, 'Aber es stimmt noch, oder? Wir bleiben immer Freunde und wir können alles schaffen, meine ich.'
Unsicher sah ich zu ihm hoch, war glücklich über seine Worte, die mir in diesem Moment so unendlich viel Mut schenkten.
'Ich glaube schon. Was denkst du?'
Er sah mich mahnend an und strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
'Ich bin mir da sogar ziemlich sicher. Ich wollte es nur noch mal von dir hören. Und ich wollte, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst.'

Als mir Tränen in die Augen traten, bis ich mir auf die Lippe um nicht vor Freude zu weinen. Er würde immer da sein, egal was passierte und fast hätte ich unsere Freundschaft einfach weggeschmissen, weggeschmissen wie den Rest meines alten Lebens.
Ohne auf meine Kraft zu achten, die sich zum Glück bei einer menschlichen Lebensenergie nur ganz schwach meldete, warf ich mich in die Arme meines besten Freundes und drückte ihn ganz fest an mich, genoss den Druck seiner Arme, seine tröstliche Wärme und hörte noch immer das Echo der Worte in meinem Kopf.
Eine Zeit lang standen wir einfach da wie eingefroren, wollten keinen Schritt mehr gehen, wollten hier einfach für immer verweilen.
Während die Beziehung zu Luis wie das wilde Wasser mit Ebbe und Flut war, war Marc mein unbesiegbarer Fels in der Brandung.

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