Kapitel 44
Schließlich blieben wir neben einer großen Eiche, deren kahle Äste vom weichen Pulverschnee zugedeckt worden waren, stehen.
Auf dem Schulhof befanden sich, wahrscheinlich aufgrund der Kälte, die alles auf der Stelle einzufrieren schien, nur wenige Schüler.
Wir waren also ungestört, wurden nur von wenigen Blicken interessiert verfolgt und konnten uns in Ruhe unterhalten.
Was ich jetzt genau preisgeben musste, sodass meine Tante mir vertraute, jedoch ohne dass meine Geheimnisse aufgedeckt werden könnten, war mir ein Rätsel.
Selten ungeduldig wartete sie auf meine Worte, die noch eine Weile ausblieben, während ich nervös meine in dieser frostigen Kälte viel zu dünne Lederjacke enger um meinen Körper wickelte, damit mir wärmer wurde, was aber nicht wirklich funktionierte.
Schließlich begann ich mit belegter Stimme zu sprechen: 'Ich habe dir ja erzählt, dass ich Einschlafprobleme habe.'
Meine Tante nickte und musterte mich direkt mit ihren warmen, haselnussbraunen Augen.
'Zuerst kann ich nicht einschlafen, weil ich zu viele Gedanken in meinem Kopf habe, zu viele Erinnerungen an Vergangenes, zu viele Möglichkeiten in der Zukunft, zu viele was wäre wenns...
Und wenn ich diese Aufgabe endöich bewältigt habe und nach gefühlten Stunden des hin und her Wendens und Wartens einschlafen kann, bekomme ich schreckliche Albträume.'
Rasch formten sich neue Worte in meinem Kopf, die ich ihr glaubwürdig präsentieren konnte, denn ich wollte nicht, dass meine Tante weiter über Albträume oder vielleicht sogar Gabe Hanwens Kraft nachdachte, da sie denken sollte, dass meine Probleme alleine von mir kamen.
Damit es so wirkte, als wäre ich selbst mit der Situation überfordert, erzählte ich halb und log ich halb über meine Träume.
'Ich sehe schreckliche Sachen, die mir bereits einmal passiert sind, weil das alles manchmal einfach zu viel ist und weil ich mein ganzes Leben in einem friedlichen Umfeld unter völlig normalen Menschen verbracht habe. Meine schlimmste Verletzung war vielleicht ein Schnitt am Papier oder eine Schürfwunde, wenn ich gestürzt bin und plötzlich ist meine ganze Welt anders.
Größer, magischer, schöner, aber irgendwie auch grausamer und in jedem Fall brutaler und irgendwie komme ich damit immer noch nicht ganz klar.'
Meine Tante blieb still, schien zu überlegen, nach den passenden Worten zu suchen.
Zur Verdeutlichung meiner Unsicherheit und Angst fügte ich hinzu und fühlte dabei nur den Hauch eines schlechten Gewissens:
'Und die Leute, denen ich hundertprozentig Vertrauen kann, kann ich an einer Hand abzählen.'
Ein trockenes Lachen entdrang meiner Kehle, das sich alles andere als gespielt anhörte.
Vielleicht hätte ich doch Schauspielerin werden sollen, wie es als kleines Kind mein Traum gewesen war.
'In schwachen Momenten denke ich sogar, dass ich sie an einem Finger abzählen kann.'
Mrs. Infusio schüttelte schuldbewusst den Kopf, verstand meine zugegebenermaßen unfaire Anspielung.
'Das stimmt nicht und das weißt du.
Aber du sprichst von Jennifer, nicht wahr?', lautete ihre erste Frage, die ich so nicht erwartet hatte.
'Ja.', antwortete ich kurz gebunden, ergänzte aber noch, 'Ich bin froh, dass sie noch lebt.'
'Das bin ich auch.', stimmte meine Tante schnell zu.
'Liegt das an deinem Misstrauen gegenüber anderen?...dass du so schlecht Anschluss findest, meine ich.'
Ich wendete meinen Blick auf einen großen Eiszapfen, der am Dach eines Wohngebäudes in der Sonne glitzerte und kaute einen Moment auf meiner Unterlippe.
'Vielleicht,', murmelte ich, 'aber ich war noch nie diejenige, die gerne der Mittelpunkt einer Gruppe oder Clique war.'
Und ganz nebenbei musste ich auch noch darauf achten, dass Gabe Hanwen mir meine übriggebliebenen Freunde gewaltsam nahm.
'Aber du hattest doch mal was mit diesem Jungen. Luis Forst, wenn ich mich nicht irre.'
Meine Wangen erröteten beim zu gut bekannten Klang dieses Namens und ich hoffte wirklich, dass ich von der Kälte schon rotbäckig genug geworden war, sodass man die verräterische Röte nicht erkennen konnte.
Warum genau mir das jetzt passierte, war mir auch nicht klar.
Wir hatten schließlich nie etwas verbotenes getan.
Wir hatten ja noch nicht einmal Sex gehabt.
Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass meine Tante mich so direkt auf diese Beziehung ansprach.
Diese einzige, wirklich ernste Beziehung, die ich je hatte und die ich haltlos zerstört hatte.
'Ja, wir waren eine Weile zusammen.', erklärte ich mich, indem ich unsere gemeinsame Zeit mit einer wegwerfenden Handbewegung als unwichtig erscheinen ließ.
Sie sollte bloß nicht merken, dass ich noch etwas für ihn empfand.
Meine Tante hob die schmalen Augenbrauen und legte misstrauisch den Kopf schief.
'Ich kann verstehen, dass dich eure Trennung sehr getroffen hat. Die erste große Liebe ist immer etwas besonderes.
Nur bin ich mir nicht sicher, ob du trotz deines Misstrauens nicht an den Falschen geraten bist.
Luis ist so etwas wie ein... naja er ist ein Frauenheld.
Ich weiß nicht, wie er mit dir Schluss gemacht hat, aber du solltest dir das nicht ganz so zu Herzen nehmen. Er...'
Mit einem heftigem Kopfschütteln, das von einem flehenden Blick begleitet wurde, gab ich ihr das Zeichen, nein den Befehl, mit dem Sprechen aufzuhören.
Ich wollte beim besten Willen nicht mit ihr über Luis und meine vergangene Beziehung zu ihm sprechen, denn Jen hatte mir oft genug gepredigt, was für ein schlechter Typ er war, ich hatte in letzter Zeit gesehen; was für ein Typ er sein konnte und meine Tante musste mir das nicht auch noch erzählen, da ich langsam wirklich verstanden hatte, was hier jeder von ihm dachte.
Dabei kannten sie ihn nicht richtig, hatten ihm einfach abgestempelt und in eine volle Schublade gesteckt.
Und überhaupt: Was veranlasste jeden zu glauben, dass er mit mir Schluss gemacht hatte?
Sollten sie es nur glauben, das war mir ziemlich egal, und wenn er seinen männlichen Stolz behalten wollte, hatte ich ihm zumindest dieses Abschiedsgeschenk ermöglicht.
Mrs. Infusio strich sich unsicher eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn.
'Ich verstehe, dass du nicht so gerne darüber reden möchtest,', deutete sie mein Kopfschütteln falsch, 'aber er ist einfach nicht der richtige Typ für eine feste Beziehung. Du wirst sicher noch einen besseren jungen Mann finden.
Weißt du, ich habe gemerkt, dass es dir schlechter ging, nachdem ihr euch getrennt habt.
Dafür hätte ich nicht mal die Tabletten sehen müssen, über die wir in einer ruhigen Minute unter vier Augen noch einmal länger diskutierten müssen, da kannst du dir sicher sein, aber es geht vorüber, glaube mir.'
'Ja, es geht vorbei.', kamen die Worte wie ein emotionsloses, leise nachhallendes Echo aus mir heraus.
Das sagte sich so leicht.
Meine Tante schien Mut gefasst zu haben, denn sie legte mir eine Hand auf die Schulter, was mich automatisch erstarren ließ.
Ihr Mut sank sichtbar, schleichend langsam nahm sie die Hand wieder zurück und sah mich verletzt, fordernd ind zugleich fragend an, während meine Kraft verrückt spielte, weil sie diese fremde grüne Magie der Heilung für sich haben wollte.
Enttäuschung wog wie wilde Wellen in einem Sturm durch mich hindurch.
Es hatte sich noch nichts gebessert.
'Es gibt da noch etwas, was ich dir erzählen muss.
Meine Kraft hat sich irgendwie so entwickelt, dass sie bei jeder Berührung einen... ähm Kraftaustausch erzeugen will.
Ich kann nämlich von jemandem Kraft... ausborgen oder auch jemandem von meiner Kraft etwas abgeben, um mich oder die andere Person zu stärken.
Deswegen trainiere ich auch im Moment mit Jack und Jen.
Das hat wirklich nichts mit dir oder unserem Streit zu tun. Jack kennt sich mit solchen Kräften, also seltenen und starken Kräften einfach ziemlich gut aus und besitzt eigene Erfahrungen.
Ich kann das nämlich noch nicht kontrollieren und es... irritiert mich extrem diese andere Macht zu spüren.
Dann spielt meine Macht verrückt und das ist echt unangenehm.' Genau...
Die hellbraunen Augen meiner Tante leuchteten interessiert.
Sie fand meine Kraft eindeutig spannend, weil sie so anders war.
Ich hatte bereits bei unserem Training gemerkt, dass sie in ihrem Wissensdurst jede Information über die Kraft, Illusionen zu erschaffen, in sich aufsaugte, und ich war mir fast sicher, dass sie es auch Mrs. Smuttery erzählte.
Die beiden schienen beste Freundinnen zu sein und Jen wollte auch, dass ich keine Geheimnisse vor ihr hatte.
Mrs. Smuttery vertraute ich jedoch überhaupt nicht und selbst wenn sie eine von uns war, würde sie die Infos irgendwann an den Rat weitergeben, wenn es meine Tante nicht schon in einem Treffen gemacht hatte.
Diese Leute würden wiederum, so dachte ich es mir zumindest, schneller als mir lieb war von meiner gesamten Kraft und königlichen Herkunft erfahren.
Ich würde also unweigerlich auffliegen und das galt es, zu vermeiden. Ich musste vorsichtig sein, behutsam und bedacht vorgehen.
Mrs. Infusio schien sich ihrem Gesichtsausdruck nach zu Urteilen, nur noch in letzter Sekunde davon abhalten zu können, nachzufragen, ob sie auch dabei sein könnte.
Sie war nunmal an der Forschung dieser Welt interessiert.
'Natürlich verstehe ich das.', erwiederte sie jedoch ruhig und äußerst kontrolliert, 'Es ist immer schwer, den Umgang mit seiner Kraft zu lernen und bei einer so seltene Kraft wie deiner, ist es noch schwieriger, soch das kommt mit der Zeit, du musst nur weiter üben.
Ich habe Jack auch schon gesagt, dass ich es gut finde, wenn du mit verschiedenen Lehrern übst.
Er hat viel Erfahrung in diesem Gebiet und wir können uns ja austauschen.'
'Gut.', war meine Antwort, denn mehr Infos würde sie heute nicht erfahren. Ihre Reaktion, wenn sie auch keinen bösen Intentionen folgte, hatte mich in meinen Ansichten bestärkt.
Dennoch lächelte meine Tante mich liebevoll an und fügte dann nach einer kurzen Pause ihren vorherigen Worten hinzu: 'Weißt du, Nia. Ich hätte dich wirklich gerne in deiner Welt gelassen, mit deinen Freunden und deinem unkomplizierten Leben und ohne all diese Erfahrungen mit Kämpfen und dem Tod.
Natürlich ist das nervenaufreibend für dich, denn du warst auf nichts vorbereitet, so wie die anderen Schüler es in deinem Alter sind, doch ich hatte angenommen, du wärest hier weniger in Gefahr.
Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht war es die falsche Entscheidung.'
'Nein, war es nicht.', widersprach ich ihr schnell und mit fester Stimme, 'Ich hätte nicht in einem Waisenhaus leben wollen und ich hätte schon gar nicht mit der Unwissenheit Leben wollen, die meine Eltern mir hinterlassen haben.
Jetzt weiß ich zumindest, wer meine Eltern wirklich waren und vor allem wer ich wirklich bin.'
Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals herunter und fuhr leise fort: 'Ich habe gute und schlechte Erfahrungen gemacht, so ist es halt im Leben, aber ich bin fest davon überzeugt, dass das hier der Weg ist, denn ich gehen muss, den das Schicksal mir gegeben hat vielleicht.
Die Magie und diese Welt sind ein Teil von mir. Sie waren es immer. Daher war deine Entscheidung richtig.'
Ein fast schon scheues Lächeln wie das einer achtsamen Rehmutter, die einen Freund im Gebüsch erkannte, glitt über das Gesicht meiner Tante.
'Wann bist du eigentlich so erwachsen geworden, Nia?'
Tatsächlich musste ich auch Lächeln, als ich mit den Schultern zuckte.
Irgendwann musste man Erwachsen werden und die sorgenlose, glückliche Kindheit hinter sich lassen, ob man wollte oder nicht.
'Deine Mutter wäre stolz auf dich.', murmelte meine Tante und wollte mich damit scheinbar loben, was nicht wirklich funktionierte, weil ich bei diesen Worten immer die Entscheidungen meiner Mutter mit meinen eigenen verglich und der Kontrast unübersehbar war.
'Das hast du schonmal gesagt.', erklärte ich zurückhaltend.
Mrs. Infusio nickte und schob die äußerst schwer aussehende, braune Ledertasche am dünnen Riemen auf ihrer linken Schulter ein Stück höher.
'Ich kann es gar nicht oft genug wiederholen, denn, ob du mir das glaubst oder nicht, sie wäre es jedesmal auf's Neue.'
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top