Kapitel 43
Nun lehnte sich meine Tante gegen den Pult und verschränkte die Arme vor der Brust.
'Mit der Zeit steigt die Population der Menschen, während unsere Zahlen relativ konstant bleiben, weil wir mehr Todesfälle haben wie sie.', sie pausierte, als ein unauffälliger Junge mit langem dunkelbraunem Haar in der dritten Reihe sich meldete und mit tiefer Stimme sprach, nachdem er drangenommen wurde, 'Aber ist es nicht unfair, dass wir zum Teil sterben, um sie zu beschützen. Ich meine, sie können doch auch kämpfen, das tuhen sie oft.'
Meine Tante nickte bedächtig, als hätte sie diese Frage erwartet.
'Ja, das können sie. Ich denke du sprichst von ihren irrsinnigen Kriegen. Trotzdem... Menschen sind der Magie nicht gewachsen. Wir sind stärker als sie und wir haben unsere Magie extra bekommen, um zu helfen, zu retten und zu beschützen. Außerdem mischen wir uns ja nicht in ihre Kriege ein.
Wir verteidigen sie höchstens gegen Ausgeschlossene und halten Sie aus unseren Angelegenheiten heraus.
In dieser Beziehung leben wir wohl doch eher nebeneinander her und nicht gemeinsam.'
Der Junge nickte, als würde diese vage Antwort seine Frage klären und meine Tante fuhr wieder fort: 'Im Alltag treffen wir uns ständig.
Es ist, wie ich eben bereits anmerkte, schwierig für uns, Menschen, Gewählte oder Ausgeschlossene zu unterscheiden. Für die normalen Menschen ist es sogar unmöglich, denn sie wissen nicht, dass wir neben ihnen leben, wollen es vielleicht nicht wissen.
Ihr aber solltet in großen Menschenmassen stets euer größtes Maß an Aufmerksamkeit aufbringen, da der Feind nie weit weg ist.'
Die Warnung schwankte in der Klasse wie schwüle Sommerluft, die nicht verschwinden wollte, und hinterließ ein unangenehmes Prickeln im Raum.
Ich hatte schon oft gemerkt, dass Menschenmassen gefährlich waren, wusste noch genau, wo Jen und ich nach dem Shoppen verfolgt worden waren, wo Luis auf der Party, ohne es zu wissen, mit einer Ausgeschlossenen unterwegs war und auch blieben mir noch alle Zeitpunkte und Orte im Gedächtnis, verfolgten mich noch eine Weile wie ein leiser Schatten, an denen Feinde gefährlich nah waren, sodass mir ein eiskalter Schauder den Rücken hinunterlief.
Glücklicherweise hatte ich die Kraft, sie zu spüren, während die Anderen in Ungewissheit lebten.
Ich war unglaublich froh, dieses Sicherheitssystem in mir zu haben, denn ohne es würde ich mich wohl nie ohne eine Heidenangst vom Campus entfernen können.
'Ich persönlich sehe es so, dass unser Leben irgendwie mit dem der Ausgeschlossenen verbunden ist.
Sie sind immer irgendwo in unserer Nähe und meistens auf einen Kampf aus. Wir hingegen versuchen immer sie zu vertreiben.
Die Menschen stehen dazwischen, ohne es je bemerkt zu haben. So war es eigentlich immer in der Vergangenheit und so wird es auch immer sein.
Friedlich mit ihnen zu leben, ist keine Option, dafür besteht zu viel Hass, berechtigter Hass wie die Geschichte zeigt, zwischen uns und vor allem in Zeiten von Gabe Hanwen kann man nirgends wirklich sicher sein.
Wer weiß schon, was er im Schilde führt. Ein Ende aus diesem Kreislauf scheint es nicht zu geben, zumindest nicht in naher Zukunft.
Es wird immer zwei Seiten geben, so haben es schon die Götter gewollt.
Die Menschen besitzen demnach einen neutralen Standpunkt. Sie wissen zu wenig, um in unserer Welt, unserem endlosen Kampf, etwas auszurichten.', erklärte meine Tante mit ruhiger, wenn auch dezent angespannter Stimme und ließ eine kurze Pause auf uns wirken, bevor sie weitersprach, 'Nun aber wieder zurück zu den Treffen mit den Menschen. Schlagt bitte Seite 50 auf und wir schauen uns die wichtigsten historischen Treffen an, wobei vor allem die Verbindungen in unserer Welt; oder zwischen unseren Welten, je nachdem wie man es sagen will, bedeutsam ist.'
Mrs. Infusio strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die aus ihrem lockeren Dutt gefallen war. Dann schob sie sich die Brille ein Stück höher auf ihrer Nase.
Ich beobachtete ihre vertrauten Gesten, während meine Gedanken noch um ihre schwerwiegenden Worte kreisten.
Gab es wirklich einen Kreislauf des Kämpfens?
Wollten die Götter diesen Kampf?
Und würde mein oder Gabe Hanwens Tod überhaupt etwas daran verändern?
Ihre Ansicht hatte erneut mich bedrängende sowie bedrückende Fragen in meinem Kopf aufgeworfen.
Bisher hatte ich immer gedacht, dass Alles auf den letzten Kampf oder sogar den Krieg gegen die Ausgeschlossenen hinausläuft, doch vielleicht brachte er ja gar nichts. Vielleicht war es ja ein irrsinniges Unterfangen wie bei den Menschen und ihren unübersichtlich vielen Kriegen.
Nur wofür kämpften wir dann, wenn wir kein Ziel hatten?
Noch bevor sich diese letzte Frage vollends in meinem Kopf gebildet und zu Buchstaben geformt hatte, verglich ich mich mit meinen Eltern.
Ihre Gedanken mussten dem gleichen Weg gefolgt sein, als sie aufgegeben hatten, aber ich würde nie aufgeben.
Leicht kopfschüttelnd, verbannte ich die Unsicherheit aus meinem Kopf.
Es gab einen Ausweg.
Es gab immer Einen.
Und wenn nicht, dann kämpfte ich eben für mein Glück und das Glück meiner Freunde.
Das Hier und Jetzt war auch wichtig, selbst wenn es nur einen winzigen Teil unserer Geschichte ausmachte und vielleicht gab es irgendwann doch einen glorreichen Sieg, ein großes Ende, ein kleines Ziel, dann würde zumindest Gabe Hanwen nicht mehr in meinen Träumen herumpfuschen, dann wäre ich ihn los, oder er wäre mich los, je nachdem wer gewinnen würde.
Unkonzentriert packte ich mein Buch aus und schlug es auf. Ich würde es immerhin versuchen.
***
Die schrille Schulglocke unterbrach die mehr oder weniger fleißig und still arbeitenden Schüler im Klassenraum, die daraufhin aufsprangen, ihre Sachen einsammelten und freudig aus dem Klassenraum stürmten.
Mrs. Infusio rief ihnen noch rasch die Worte 'Macht die Aufgaben bitte bis zum nächsten mal zuende.' hinterher, doch die meisten Schüler schienen es schon nicht mehr zu hören, was meine Tante zu einem lauten Seufzen veranlasste.
Jen klopfte mir noch einmal auf die Schulter, um mir Mut zu machen, flüsterte ein aufmunterndes 'Viel Glück.' und verließ dann ebenfalls den Raum, während ich so langsam wie möglich meine Sachen zusammenpackte, damit möglichst niemand mehr im Raum war, bevor ich äußerlich ruhig und innerlich unglaublich aufgeregt am Zappeln zu meiner Tante schlenderte.
In diesem Moment ärgerte ich mich darüber, dass ich mir für unser Gespräch keine passenden Worte zurecht gelegt hatte.
Ich musste sie nur ein wenig besänftigen, hatte ich mir eingeredet, doch das Unterfangen würde wohl schwerer werden als gedacht.
Sie wollte schließlich die Wahrheit.
Sie wollte wissen, was mich so bedruckte und das konnte ich ihr immer noch nicht genau sagen.
Ich wusste nicht einmal, ob ich es ihr irgendwann sagen könnte.
Als mir diese Tatsache auffiel, war es bereits zu spät, um umzukehren oder aus der Klasse zu fliehen und trotz allen Geheimnissen und all dem Streit mit meiner Mutter, war sie doch meine Tante und die beste Freundin meiner Mutter, die sie gekannt hatte, wie keine andere.
So schlecht konnte es nicht laufen.
Entschlossen atmete ich noch einmal tief ein und aus.
Mrs. Infusio stand mit dem Rücken zu mir und packte gerade ihre eigenen Sachen in eine alte aus Korb geflochtene Tasche, bis ich langsam begann zu sprechen.
'Hast du vielleicht ein wenig Zeit?'
Meine Tante blickte scheinbar überrascht zu mir auf.
Ihre braunen Augen, denen meine so ähnelten, funkelten unsicher.
'Hast du eine Frage?', meinte sie distanziert mit einem aufgesetzt freundlichen Unterton.
Natürlich musste sie noch beleidigt sein. Wir waren eben eine schrecklich nachtragende Familie.
Fast musste ich grinsen, doch ich verkniff es mir im letzten Moment und antwortete stattdessen: 'Nein, ich wollte über... mich sprechen.'
Jetzt leuchteten ihre Augen in einem merkwürdig leuchtenden Grünton auf, was das einzige Anzeichen in ihrem Gesicht war, dass sie mein Schritt in ihre Richtung auf irgendeine Weise bewegte.
'Achso, das meinst du. Wie kommt das jetzt?'
Leicht verwirrt blickte ich sie an.
'Vielleicht möchte ich es einfach loswerden.', erwiederte ich schlicht.
Meine Tante hob ihre Tasche hoch, rückte ihre Brille zurecht und sah mich abwartend an: 'Deine Mutter wollte nie etwas loswerden.'
'Ich bin aber nicht meine Mutter.', stellte ich ruhig fest und Mrs. Infusio blickte mich lange und unergründlich an, bevor sie zaghaft nickte.
'Du hast Recht. Komm, lass uns ein wenig spazieren gehen.'
Ich folgte ihr stumm den Flur entlang, als sie ihr Misstrauen zu erklären begann.
'Deine Mutter kam auch einige Male zu mir, bevor sie sich völlig abkapselte.
Sie begann mit ähnlichen Worten wie du eben, doch was sich wirklich in ihr abspielte, erzählte sie nie.
Sie versuchte lediglich, mich zu besänftigen. Ich weiß bis heute nicht, ob sie mich nur als hilfreiche Verbündete in der Not sah oder ob sie mich als Zuhörerin wirklich wertschätze.
Nach unserem großen Streit hat sie dann kein Wort mehr mit mir gewechselt.'
Schuldbewusst biss ich mir auf die Lippen.
Ich war doch wie meine Mutter.
Ich hatte auch nicht vorgehabt, meiner Tante meine Geheimnisse zu erzählen und selbst nachdem sich gerade mein schlechtes Gewissen gemeldet hatte, wollte ich mein Vorhaben nicht ändern.
Zu ihrer Erklärung sagte ich nichts, ließ sie einfach angespannt zwischen uns in der Luft hängen.
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