Kapitel 42

Wir waren pünktlich und ohne verbotene Kaffees im Klassenraum angekommen, meine Tante schien sogar ganz gute Laune zu haben und selbst Sally hatte mich bei ihrem Eintreten lediglich ignoriert.
Das waren wohl schon ganz gute Voraussetzungen für mein Vorhaben.
Erst einmal hatten wir aber Unterricht.
Meine Tante sah mich nicht an, als sie sich von ihrem Tisch entfernte und freudig das neue Thema verkündete.
'Heute geht es um die Verbindung zwischen unserer Welt und der Menschenwelt.', hallte ihre beruhigende Stimme durch den Klassenraum, 'Generell gesehen teilen wir uns eine Welt mit den Menschen. Meist wohnen, leben und reisen wir gemeinsam. Die Schule ist natürlich eine andere, da bei euch auch auf andere Fächer wertgelegt wird, aber äußerlich  sind wir uns doch sehr ähnlich
Näher betrachtet bleibt unsere Welt, man könnte auch sagen unser Erbe, den Menschen verborgen und nur die wenigsten wissen von unseren Kräften.
Wir hingegen kennen den Unterschied, nur schwierig ist es dabei zu unterscheiden, ob wir uns neben einem anderen Gewählten, einem getarnten Ausgeschlossenen oder einem einfachen Menschen befinden. '

Interessiert blickte ich sie an, denn dieses Thema interessierte mich sehr, zumal ich meine Kindheit ja als ein normaler Mensch verbracht hatte und dort noch nicht einmal den leisesten Luftzug, den schwachesten Hauch, die leiseste Ahnung von Magie hatte. Ich war gespannt, was und jetzt erwartete, wobei ich mir auch denken konnte, dass es ein kritisches Thema werden würde.
Mrs. Infusio zeichnete in Ruhe die Überschrift 'verborgene Welt' an die Tafel und wendete sich dann wieder ihrer Klasse zu.
'In der Geschichte gibt es mehrere Treffen zwischen Menschen und Gewählten, selbst wenn es sich dabei nur um die Vertuschung eines Kampfes handelt.
Die Menschen, so haben wir im Laufe der Jahre gelernt, haben Angst vor jeglicher Magie oder tuhen diese schlichtweg als Hokuspokus ab.
Darüber hinaus gibt es Märchen und Geschichten, in denen sie magische Wesen als schreckliche Monster oder gar abnormale Gestalten darstellen. Genau das ist dann auch der Grund, weshalb wir im verborgenen Leben. Wir wollen keinen weiteren Krieg provozieren, denn sie sind nicht unsere wirklichen Feinde.'

Viele Schüler wirkten beunruhigt, aber ehrlich gesagt würde ich die Vorstellung eines Menschen über ein magisches Wesen nicht so dramatisch darstellen.
Natürlich glaubte man nicht an Magie, wenn man nie etwas derartiges gesehen hatte. Das schien ja auch zu schön, beziehungsweise zu schrecklich zu sein, um wahr zu sein, doch als abartig hätte ich magische Wesen nie bezeichnet.
Dann schon eher als faszinierend, eindrucksvoll oder schaurig, denn ich  fühlte mich sogar hingezogen zu Mythen und las ausnahmslos alle Fantasyromane. Ich fand es einfach interessant, eine magische Welt zu entdecken, wobei das beim Lesen deutlich ungefährlicher war als in echt.
Um einen Streit zu umgehen, schwieg ich weiterhin, und meine Tante fuhr mit ihrer Erzählung fort: 'Es gab in der Vergangenheit einige Familien, die eng mit uns zusammenarbeiteten und uns halfen. Leider sind diese größtenteils ausgestorben.
Auch haben manche Gewählte der magischen Welt den Rücken zugekehrt, um bei den Menschen zu leben. Dort erhoffen sie sich meist ein Leben in Frieden.'
Nun huschte Mrs. Infusio's Blick doch kurz über mich, doch niemand schien es zu bemerken, was ich als großes Glück empfand, weil mir die Tat meiner Eltern, ohne dass ich es wollte, irgendwie peinlich war.
Wenige hatten uns nur verlassen und sie waren schon zwei davon. Feiglinge würde man sie nennen.
In mir drin brodelte eine Frage wie Lava in einem Vulkan, aber ich traute mich nicht sie auszusprechen.

Jen neben mir sah mich kurz wissend an und hob dann ihre Hand.
'Was sind diese Leute dann... wenn sie uns verlassen haben?'
Sie musste meine Gedanken gelesen haben, denn ihre Frage entsprach sogar in der Wortwahl genau den Worten, die mir auf der Zunge lagen. Gespannt sah ich zu meiner Tante, die sich unwohl in ihrer Haut zu fühlen schien, da sie sich die Brille auf der Nase ein Stück höher schob.
'Nun ja, nach den Regeln des Rates sind diese Leute Aussetzige. Sie gehören nicht mehr zu unseren Reihen nach dem sie fünf Jahre von uns getrennt leben, obwohl es ihnen jederzeit offen steht zurückzukommen.
Dafür müssen sie lediglich eine zweite, dementsprechend etwas kürzere, Aufnahmeprüfung bestehen, doch das ist in der Geschichte erst einmal geschehen.'
Meine Mutter war also als Aussetzige gestorben und mein Vater auch.
Ich wusste nicht, warum mich das so traurig stimmte, aber sie gehörten offiziell nicht mehr zu uns.
Enttäuscht biss ich mir auf die Lippen und nickte Jen für die Frage, die sie gestellt hatte, dankbar zu.
Diese schenkte mir einen verständnisvollen Blick.

'Aber sind die Kinder dieser Menschen dann nicht auch Aussetzige?', platze Sally heraus.
Ich drehte mich mit einem wütenden Ausdruck zu ihr um und wenn Blicke töten könnten, dann wäre Sallys Leben in diesem Moment beendet gewesen.
Gleichzeitig ider vielleicht gerade deswegen machte mir ihre Frage auch Angst.
Ich war doch nicht wirklich eine Aussetzige?
Auch meine Tante schien von dieser Frage äußerst überrascht zu sein. 'Nein, natürlich nicht.', stellte sie nach einer Sekunde des perplexen Staunens fest, 'Jeder darf selbst entscheiden, was er mit seinem Leben anfängt. Eine Regelung, die die Kinder für ihre Eltern zur Verantwortung zieht, ist längst überholt.'
Sally warf mir einen kurzen, überheblichen Blick zu und sagte dann mit einem lauten Seufzer: 'Schade eigentlich.'

Ich sog zischend Luft ein.
Das hatte sie nicht wirklich gesagt.
Bevor ich jedoch etwas gemeines erwiedern konnte, fuhr Mrs. Infusion sie mit erhobener Stimme an: 'Unterlasse solche irrsinnigen Aussagen, Sally. Du musst nicht immer deinen Senf zu allem abgeben, denn das interessiert in diesem Fall niemanden.'
Einige Schüler kicherten über ihre direkte Ansage, während Sallys Wangen feuerrot glühten.
Nicht einmal sie wagte es noch, sich direkt mit meiner Tante anzulegen, denn diese war selten so verärgert wie jetzt. Mit einem unverständlichen Murmeln, das für mich in etwa wie 'An ihrer Stelle würde ich das auch sagen.' klang, holte sie ihre Wasserflasche heraus, ließ sich unauffälig die wasserstoffblonden Haare ins Gesicht fallen und trank möglichst langsam ein paar Schlucke, um den Blicken der anderen Schüler zu entgehen.
Mrs. Infusio war zwar strikt gegen  Getränke aller Art in ihrem schön geputzten Klassenzimmer, aber dieses Mal wendete sie sich einfach nur ab.

'Gut, wo waren wir?', fragte sie und fuhr dann rasch fort, 'Das, was uns von den Menschen unterscheidet, sind neben unseren Kräften unser Wissen. Menschen kennen zum Beispiel keine Wesen wie Drachen oder Kobolde.'
'Aber sie kennen sie doch auch in ihren Geschichten.', sagte ein blonder Junge ohne sich zu Melden.
'Lass mich bitte erst einmal ausreden, Odin, das wollte ich gerade erklären.', rügte sie ihn nicht unfreundlich.
Dann sprach sie an alle gewandt in mir ruhiger Stimme weiter.
'Durch Treffen zwischen Menschen und Fabelwesen entstanden Geschichten. Die Menschen waren von diesen Wesen so überrascht, dass sie diese größtenteils als Einbildung abstempelten und mit der Zeit entstanden ganze Bücher voll mit solchen Begegnungen, die einfach zur Unterhaltung dienen sollten.
Niemand von ihnen ist sich dabei bewusst, dass es diese Wesen wirklich gibt. Deswegen sind sie in den Sagen und Mythen auch meist nicht ganz korrekt dargestellt. Es können von vergessenen kleinen Details, über verstärkende, aber nur hinzugedichtete Eigenschaften bis hin zu einer vollkommen fiktiven Gestalt Fehler auftreten.
Dieses Wissen ist für die Menschen aber auch nicht von Belang, da sich Fabelwesen meist in unseren Wäldern aufhalten und die Meisten sind, wie ihr vielleicht wisst, falls ihr im Unterricht aufgepasst habt, sehr selten und Leben eher zurückgezogen.'

Gedankenverloren zeichnete ich einen kleinen Wolf auf den Rand meines Heftes. Zeichnen war zwar nicht mein größtes Talent, aber er war mir am Ende ganz gut gelungen.
Die Worte meiner Tante hatten mich an ihn erinnert, denn wir trafen uns regelmäßig im Wald und ich hatte mich mit der Zeit an seine beruhigende Anwesenheit gewöhnt. Manchmal jagten wir so schnell es ging durch den Wald und in anderen Nächten lehnte ich mich einfach gegen sein weiches Fell, um ihm alles zu erzählen, was mir auf der Seele lag. Dies untermalte ich mit Gefühlen, die ich ihm zuschickte und in wie weit er mich verstand, konnte ich nicht sagen, aber er war ein guter Zuhörer und sogar ein guter Freund geworden. Ich wusste, dass auch er die gemeinsamen Stunden genoss, den er fühlte sich oft einsam. Da fiel es mir leicht, einfach bei ihm zu sein, anstatt meine Nacht mit Gabe Hanwen in einem schrecklichen Albtraum zu verbringen.
Egal wie sehr die Anderen der Meinung waren, dass Fenriswölfe gefährlich waren, meiner hatte ein gutes, ein warmes, ein treues Herz.
Ein blutrünstiges Monster war er auf keinen Fall und deswegen würde ich  mich weiter mit ihm treffen.
Geöffnet hatte ich mich zwar nicht mehr, weil es mir in letzter Zeit zu gefährlich schien, meine Mauern fallen zu lassen, doch mein Fenriswolf gab mir auch ohne diese schmerzvolle Prozedur mehr Kraft.

Als ich wieder hochblickte, hatte meine Tante bereits mit dem nächsten Abschnitt ihres Vortrages begonnen und ihre Stimme schallte beständig, aber keinesfalls monoton durch die Klasse. 'Dadurch gibt es viele Gemeinsamkeiten und Verbindungen, die unsere beiden Welten trotz der immensen Unterschiede vereinen. Auch viele Artefakte von geringem Wert werden von den Menschen aufbewahrt, da sich einige ebenfalls für mystische Vergangenheiten zu interessieren scheinen, ja, es scheint gar ein Drang zu sein, der sie zu Übersinnlichem hinzieht, aber wissen was sich wirklich abspielt, wollen sie nicht. Die meisten Menschen sind mehr Realisten, die sich auf Leistung, Erfolg und Fortschritt konzentrieren. Natürlich sind auch sie wie wir Familienmenschen, die Liebe und Vertrauen in ihrem Leben brauchen, doch an magische Kräfte würden sie nie glauben.
Wenn einer von ihnen diese erwähnt, wird er meist als verrückt abgetan und das macht es für uns so einfach,  im verdeckten zu Leben.
Es gibt sogar Berufsfelder in unseren Reihen, bei dem man sich darum kümmert die Spuren von Kämpfen zu verwischen, den Menschen Geschichten aufzutischen oder magische Wesen vor ihnen zu schützen.
Vor allem Letzteres ist eine wichtige Aufgabe, da magische Wesen leider in der Menschenwelt, die wie gesagt auch zum Teil unsere Welt ist, für Versuche in der Forschung genutzt werden. Wir müssen also vor allem die seltenen Wesen schützen, da sie in den falschen Händen zu Tests missbraucht werden könnten.
Bisher ist dies zum Glück noch nicht geschehen.'
Sie blickte aus dem Fenster in den Wald, als versuchte sie, irgendetwas dort zu sehen.
Auch dieses Berufsfeld interessierte mich, denn vor allem meinen Fenriswolf würde ich den Menschen nie übergeben.
Trotzdem wollte ich später einmal gegen das Böse kämpfen, das war das Wichtigste für mich. Ich wollte allen zeigen, dass ich zu den Guten gehörte und dass ich nie aufgab, weil wir nie aufgeben und die Hoffnung verlieren durften, wenn wir uns eine bessere Zukunft wünschten.

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