Kapitel 39
'Eine Frage hätte ich doch noch.
Hast du von Nia Kraft bekommen, als sie dich aus dem Feuer holte?'
Ich musterte ihn vorsichtig von der Seite her und konnte mir die direkte Frage: 'Wieso glaubst du das?', nicht verkneifen.
Jack wendete sich mir langsam zu und lächelte mich aus dieser Gegenfrage bereits die Antwort und seine eigene Vermutung als bestätigt wissend an.
'Deine Freundin war schwer verletzt, die Wunde war zwar nicht tief, aber sie lag genau über ihrem Herzen und nah an wichtigen Organen.
Außerdem wird man durch den Rauch des Feuers schnell geschwächt. Es musste ein äußerst kompliziertes unterfangen sein und Jennifer erwähnte gerade, das du diese Form der kraftübergabe schon recht gut kontrollieren könntest.
Zusätzlich warst du danach leicht erschöpft, Nia.' ,schlussfolgerte er alla Sherlock Holmes.
Die Intelligenz des alten Bibliothekars war nicht zu unterschätzen und ich war froh, dass er so ein gutgläubiger Mensch war und uns so schnell alles geglaubt hatte. Schließlich nickte ich ergeben und Jen meinte, wie auf mein Stichwort: 'Ja, Sie haben Recht. Nia hat mir etwas von ihrer Kraft gegeben, damit wir da raus kamen.'
Jack stellte sich wieder einen Schritt von uns entfernt auf.
'Gut, dann probieren wir das doch mal.', forderte er uns voller Tatendrang auf, wobei ich mir noch nicht sicher war, ob mir das gefiel, aber Jen hatte sich bereits mit ausgestrecktem Arm im Raum positioniert.
Sobald ich mich neben sie gestellt hatte, fing Jack an, uns von seinen spontanen Überlegungen zu berichten: 'Ich glaube, es wäre ganz hilfreich, wenn Jen zunächst einen Teil von Nias Kraft einfordert. Bleibt danach erst einmal verbunden.'
Mit einem kurzen Seitenblick fragte mich meine Freundin, ob das ginge und ich schickte ihr gedanklich ein unsicheres 'Ja, ich denke schon' zu, bevor ich ihre Hand entgegennahm und mich darauf konzentrierte meine Kraft in Jens Richtung zu schicken.
Zuerst wollte sie nicht gehorchen und schwob wild in meinem Inneren herum, bis ich mich zusammenriss und nur einen kleinen Teil der Energie, wobei ich peinlichst genau auf die winzige Menge achtete, da ich nicht sicher war, wie viel mehr Energie als ein normaler Gewählter ich besaß, vom Rest abkaoselte und ihn zu Jen schickte.
Ich war wirklich stolz, dass es so gut funktionierte, musste aber feststellen, dass eine kontrollierte Kraftübergabe relativ anstrengend war. Zumindest würde ich bei so wenig Verlust meiner Kraft am Ende nicht ausgelaugt sein.
Sobald die Energie in Jen hinein strömte, richtete sie sich auf.
Es hatte wohl funktioniert.
Beim nachfolgenden Halten der Verbindung musste ich nichts tun, da meine Kraft für einen Moment merkwürdig ruhig in mir lauerte, als würde sie auf ein Kommando warten, und sah demnach angespannt abwartend zu Jack, der den Prozess mit Adleraugen beobachtete.
Es war still in der Sporthalle und ich fragte mich, ob ich die Verbindung jetzt kappen sollte, weil die Kraft ja bereits in Jens innerem verschwunden war, doch plötzlich hob Jack die Hand und sagte bestimmt: 'Hol sie zurück.'
Noch etwas überfordert und verwundert blickte ich ihn an.
Meine Kraft schien jedoch verstanden zu haben.
Sie raste unkontrolliert los, um ihren Teil zurückzuholen und es fiel mir schwer sie zu zügeln.
Nur wenig gebremst schoss meine Kraft in Jens Körper, während diese sich unter dem aufkommenden Druck der Magie bemühte, still zu stehen.
Entsetzt von dieser Eskalation griff ich nach meiner Kraft, die inzwischen bereits mit Jens Kraft verbunden war und zerrte sie heraus, doch Jen hatte sich weit geöffnet und mir ihre ganze Lebensenergie offenbart, wahrscheinlich wollte sie nur, dass ich möglichst gut meine Kraft zurückbekam, sodass meine Kraft nun in ihrer Sucht nach Lebensenergie noch mehr wollte. Sie forderte mich auf, es sich einfach zu nehmen und obgleich ich nicht im Rausch versinken und Jen nicht ihre Kraft rauben wollte, drohte ich die Kontrolle zu verlieren.
Immer mehr der fröhlichen, gelben Lebensenergie schoss in mich hinein, während meine Kraft erbarmungslos an Jens Leben zog.
Es war ähnlich wie bei Gesines Tod. Nur dieses mal wollte ich es nicht.
Ich wollte Jen nicht umbringen und ich hatte genug eigene Kraft.
Wütend auf mein eigenes Versagen spannte ich meinen ganzen Körper an und riss meine Hand so schnell es mir möglich war von Jens Arm weg.
Diese schien wie erstarrt, bis ich sie los ließ und unsere Verbindung endlich kappte.
Als die vereinte Kraft in mich zurück sackte, musste ich ein leises Ächzen unterdrücken, was ich mit einem lauten Seufzer versuchte.
Enttäuschte fuhr ich mir durch das Haar und wagte es nicht Jen noch einmal in die Augen zu sehen.
'Ich kann sie nicht kontrollieren.', murmelte ich leise, hatte versagt, hätte ihr fast alle Kraft geraubt.
Ich war bei der Nutzung meiner Kraft einfach ein hoffnungsloser Fall und es war zu gefährlich, weiterzuüben.
Jetzt wollte sie mir sicher nicht mehr helfen. Und was würde Jack zu dieser Situation sagen? Ich hatte Beide auf ganzer Linie enttäuscht.
'Es war mein Fehler. Ich habe Nia zu viel von meiner Kraft gegeben.', hörte ich Jen nun. Überrascht blickte ich sie an. Das doch nicht ihr ernst sein... Meine Freundin lehnte sich unauffällig an eine Wand an, um zu verstecken, wie erschöpft sie wirklich war und überspielte ihre unnatürlich kühle Anlässe mit einem warmen Lächeln. Dann fügte sie äußerst überzeugend hinzu: 'Ich war mal wieder zu energisch. Wissen Sie Jack, ich bin eine Person... naja, wenn ich mir etwas in den Kopf setzte, dann mache ich das auch mit voller Power. Dieses Mal war es wohl zu viel des Guten.'
Jack legte ihr eine Hand auf die Schulter und schien mit ihr zu sympathisieren: 'Ist ja nichts Schlimmes passiert, aber du kannst mich ruhig auch dutzen.'
Auch seinem freundlichen Blick nach zu urteilen schloss er meine beste Freundin mit der Zeit auch ins Herz, aber wie sollte man das auch nicht tun?
Jen war die liebste, lustigste und loyalste Person, die ich in meinem ganzen Leben kennen gelernt hatte. Es gab keine bessere Freundin wie sie.
'Klar, danke Jack.', erwiederte sie nun und schenkte mir unter seinem Arm hindurch unauffällig ein verschwörerisches Lächeln, um zu zeigen, dass sie alles unter Kontrolle hatte. Am liebsten hätte ich sie dafür ganz fest gedrückt, doch das wäre natürlich zu auffällig und würde meine Kraft nur wieder zum Diebstahl motivieren, also schickte ich ihr in Gedanken: 'Ich weiß gar nicht wie ich dir dafür danken soll.'
Sie grinste nur verschmitzt, als hätte sie da bereits eine Idee.
Jack entfernte sich ein Stück von uns und meine beste Freudin flüsterte, sodass nur ich es hörte, in mein Ohr: 'Du hast mir das Leben gerettet, Süße, vergiss das nicht. Aber du kannst mir gerne einen Kaffee spendieren oder zwei.'
Ich verdrehte die Augen, nickte ihr aber zu.
'Gleich morgen früh.', erklärte ich knapp, bevor Jack sich wieder umdrehte und sie lächelte siegesgewiss.
Trotzdem konnte ich sehen, dass sie der Kraftentzug ganz schön mitgenommen hatte. Für heute sollten wir aufhören.
Der Bibliothekar schien ebenfalls zu diesem Schluss gekommen zu sein, denn er sprach mit seiner warmen, einschläfernden Stimme: 'Für heute soll es gut sein, aber wir sollten morgen noch einmal trainieren, wenn ihr Zeit habt. Ich überlege mir eine bessere Übung dafür.'
Wir nickten synchron und Jen machte sich bereits auf dem Weg zum Ausgang.
'Meine Güte habe ich Hunger.', stellte sie fest und Jack unterdrückte sichtbar ein Schmunzeln bei ihrer Bemerkung.
Rasch drehte sie sich noch einmal zu mir um. 'Treffen wir uns in der Mensa, Nia?' 'Ist gut.', stimmte ich zu, obwohl ich nicht wirklich Hunger hatte und nach einem lauten Knurren von Jens magen und den Worten 'Entschuldigung, ich gehe dann mal lieber. Bis morgen, Jack.' verschwand sie aus der Tür.
Der alte Mann blickte ihr gutmütig und noch leicht perplex hinterher. So jemanden wie Jen, hatte er wohl auch noch nicht getroffen.
Ich wollte ihr folgen, als Jack mich noch einmal zurückhielt.
'Ich habe deiner Tante erklärt, dass wir eine Weile gemeinsam trainieren. Dann musst du nicht zweimal zum Magie Unterricht. Sie befand diese Lösung ebenfalls für gut, zumal unterschiedliche Methoden ja zu verschiedenen Ergebnissen führen können und wir uns bei deiner Kraft noch recht unsicher sind, was die Methodik angeht.'
Schuldgefühle durchströmten mich bei seinen Worten. Meine Tante musste sich schrecklich gefühlt haben, als er ihr diese Neuigkeit überbracht hatte. Seit unserer nächtlichen Auseinandersetzung in der Sporthalle hatte ich kein Wort mehr mit ihr gesprochen und jetzt dachte sie wahrscheinlich, dass ich nicht einmal mehr mit ihr trainieren wollte.
Dabei war ich doch das letzte Familienmitglied, das sie hatte.
Meine Verschlossenheit gegenüber ihr tat mir in diesem Moment unendlich leid, doch auch jetzt konnte ich ihr noch nicht alles erzählen, vielleicht würde ich das nie können.
'Ich wollte Sahra vor unserer Einheit heute noch nach deinem bisherigen Training fragen, aber sie hatte alle Hände voll zu tun. Wahrscheinlich rede ich gleich mit ihr und dann können wir morgen gut vorbereitet beginnen.'
'Ja.', erwiederte ich knapp und wusste innerlich, dass wir uns aussprechen mussten. Es war das einzig Richtige. Ich sollte sie aufsuchen, um mit ihr zu reden und wenn alles klappte, konnte ich meine Probleme dabei weitgehend unausgesprochen lassen. Bei Jack hatte das mit der halben Wahrheit ja auch funktioniert.
Die Hauptsache war, dass sie nicht mehr wütend oder enttäuscht oder verletzt war. Sie bedeutete mir viel und war immer für mich da gewesen.
Das sollte ich ihr zurückgeben.
Langsam setzte ich mich in Bewegung. Jeder schien mir in der Vergangenheit gesagt zu haben, wie wichtig Freunde waren und das man nicht alleine leben konnte.
Vielleicht sollte ich endlich mal darauf hören und mir helfen lassen. Natürlich würden meine Probleme nicht von jetzt auf gleich gelöst werden, aber ich war nicht mehr alleine, wir wären stärker, und irgendwann befänden wir uns sowieso alle gemeinsam im Kampf gegen das Böse.
Ich hoffte nur, dass das noch eine Weile dauerte.
Vor der Tür drehte ich mich, genau wie Jen zuvor, noch einmal um. 'Danke, dass du mir hilfst Jack.', sagte ich leise und schnappte mir meine Wasserflasche von der Bank.
'Ich habe es geschafft mit meiner Kraft umzugehen und dann wirst du das erst recht schaffen.', erwiederte er und schenkte mir damit leuchtende, blühende, flackernde Hoffnung.
Etwas zuversichtlicher verließ ich den Raum und joggte zu meinem Wohnheim, um mich rasch zu duschen, bevor Jen an unserem Stammtisch verhungerte, weil sie so lange auf mich warten musste.
Draußen setzte ein leichter Nieselregen ein, der die Wege noch matschigen werden ließ als sie eh schon waren.
Ich genoss die angenehm kühlen Tropfen auf meiner Haut lief los, lief zum Wohnheim, lief den nächsten geöffneten Pfad entlang, die nächste vor mir aufragenden Treppenstufen hoch, lief in Richtung Zukunft.
Schritt, Schritt, Schritt und das gleichmäßige Prasseln der Regentropfen.
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