Kapitel 35

Es war bereits dunkel draußen, denn die Nacht hatte die müde Sonne bereits abgelöst und die Dunkelheit hatte bereits gegen das noch ankämpfende orange Licht des Abends verloren, sodass sich nun das silbrige Mondlicht über den leeren Campus ergoss.
In den Wohnhäuseren schienen die meisten Schüler bereits zu schlafen, denn nur wenige Lichter brannten noch und strahlten grell und doch verschwommen durch die kleinen Fenster, die ich von meinem Standtpunkt wie Lichter aus einer anderen Stadt, die man schemenhaft übers Ufer sehen konnte, wahrnahm.
Langsam und bedacht, weil ich kein Geräusch verursachen wollte, entfernte ich mich vom Fenster und stiegt die Treppe herauf, wobei ich darauf achtete, dass ich die knarzenden Stufen überschritt.
Die Stille war berauschend, fühlte jeden Raum im Sportgebäude und hinterließ eine ruhige, sorgenfreie Stimmung in mir.
Nicht einmal die sonst so laut flüsternden, raschelnden Bäume wagten es, sich zu bewegen.

Meine Schuhe quitschten beim Laufen auf dem Boden der Turnhalle und durchschnitten die so lange angehaltene Stille, doch jetzt war mir das egal, jetzt war der Moment vorbei, jetzt zählten nur noch die Bewegungen und meine Gedanken rückten in weite, unnahbare ferne.
Das Licht hatte ich heute angelassen, denn das gab mir irgendwie mehr Sicherheit und nach Sicherheit sehnte ich mich in letzter Zeit oft.
Ich stützte mich mit den Händen in Liegestütztposition ab und zog meine Knie abwechselnd nach vorne, bis mein Puls langsam hochging. Anschließend folgten eine Reihe verschiedener Sit ups, Squads und Dehnübungen, die fest in mein Aufwärmtraining integriert waren.

'Das geht doch schon wieder. Von wegen schonen.', stellte ich stur fest und zog das schwarze Gummi meines Zopfes fester.
Durch die Heilung meiner Tante war ich um einiges schneller Genesen, verglichen mit dem langandauernden Heilprozess eines normalen Menschens konnte man es fast Lichtgeschwindigkeit nennen. Lächelnd ging ich an der Wand mit den Waffen entlang und berührte mit meinen Fingern die unterschiedlichen Kampfhilfen.
Manche schienen fast ein wenig Leben in sich zu haben und ich fragte mich willkürlich, wie lange sie schon hier hingen und wer sie schon alles benutzt hatte.
Gezielt glitt mein Blick zu einer Ansammlung golden und silbrig schimmernder Dolche.
Auf Dolchwurf hatte ich sowieso mal wieder Lust, denn das hatte ich schon lange nicht mehr einfach zum Spaß gemacht.
Entschlossen schnappte ich mir einige Dolche von der Wand und hängte sie in die Schlaufen meines Gürtels.

Mit schnellen, leisen Schritten, die mir vor allem durch meinen enganliegenden, dehnbaren Kampfanzug möglich waren, war ich an der Einbuchtung mit den größeren Sportgeräten, Zielen und Kampfpuppen angelangt.
Zusätzlich wäre ich um einiges glimpflicher davongekommen, wenn ich diese Ausrüstung beim echten Kampf gestern Abend angehabt hätte wie die anderen.
Mit einem verärgerten Schnauben stellte ich nacheinander mehrere Ziele auf.
Vierundzwanzig Stunden am Tag diesen Anzug zu tragen, war auch keine Option. Das wäre dann doch zu unpraktisch, unter normale Menschen könnte ich auch nicht gehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, und ganz sicher war man selbst mit einem solchen schützenden Anzug nicht.
Waffen, die im Kampf mit voller Wucht geschlagen wurden, waren nicht zu unterschätzen.
Vor allem aber kamen sie nicht gegen Magie an.
Wie gerne hätte ich doch eine Rüstung gegen Gabe Hanwens Albträume.

Endlich stellte ich das letzte Ziel noch ein Stück weiter von den anderen entfernt auf.
Jetzt konnte es losgehen.
Geschickt zog ich den ersten Dolch aus der Schlaufe und wog ihn in meinen Händen hin und her.
Dabei entfernte ich mich weit genug vom ersten Hindernis, sodass es nicht zu einfach sein würde, stellte mich angespannt hin und zielte nur eine Millisekunde.
Schon steckte der Dolch mitten im Ziel. Zu einfach.
Dieses Spiel musste ich wohl etwas schwerer Gestalten, da mir es an Spannung gewann.

Langsam bewegte ich mich zwei Schritt nach links und drehte mich dann um. Mit einer schnellen Armbewegung schnellte ich herum und schon war meine Waffe in der Luft. Sie flog perfekt in ihr Ziel hinein. Vor der nächsten Zielscheibe tauschte ich die Hand, denn mit links war ich nicht so gut wie mit rechts. Dieses Mal zielte ich länger und der Pfeil traf auch nur ein ganzes Stück neben die Mitte des Ziels.
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf.
Vielleicht beim zweiten Versuch.

Ich hatte gerade den letzten Dolch von meinem Gürtel gezogen, als plötzlich die Tür aufschlug.
Binnen einer Sekunde war ich wie immer bei einer sich nähernden Gefahr in Kampfhaltung gesunken.
Mit dem Dolch hatte ich intuitiv gezielt und er zeigte bereits auf die Tür und den möglichen Feind.
Bevor ich die Gestalt meiner Tante erkannte, bemerkte ich schon und die Aura einer Gewählten.
Etwas entspannter steckte ich den Dolch weg, damit meine Tante nicht dachte, ich wäre total paranoid, jedoch konnte ich an ihrem starren Gesichtsausdruck erkennen, dass sie die Waffe, die auf sie gerichtet war, deutlich gesehen hatte.
Mrs. Infusio kam langsam näher und ich schluckte hörbar ohne einen wirklichen Grund.
'Was möchtest du hier?', fragte ich sie unschuldig, denn ich hatte meine Tante noch nie um diese Uhrzeit in der Sporthalle trainieren gesehen. Naja, eigentlich hatte ich mal abgesehen von Luis und mir noch nie jemanden um diese Uhrzeit trainieren gesehen.
Inzwischen war nicht einmal mehr Luis um die gleiche Uhrzeit wie ich hier, denn es war ja ach so schrecklich mir zu begegnen oder auch nur irgendwas zu machen, wenn ich dabei war oder daneben stand.

'Das sollte ich wohl eher dich fragen. Eigentlich solltest du dich heute noch schonen oder?'
Ich unterdrückte den Wunsch danach mit den Augen zu rollen und versprach schlicht: 'Ich habe mich nicht überanstrengt, ehrlich.'
Meine Tante blieb stehen, ließ noch einen gewissen Abstand und versuchte jetzt mit einem zaghaften Lächeln entgegen zu kommen.
'Nein, das ist nicht der Grund, der mir Sorgen bereitet, denn du bist, glaube ich, alt genug dafür, selbst zu bestimmen, wann es dir besser geht und wann du wieder Sport machen kannst. Eigentlich geht es mir mehr um deinen psychischen Zustand.', ihre Stimme klang ernst und zugleich sorgenvoll.
Natürlich musste sie irgendwann danach fragen, wie es mir ging. Sie fühlte sich sicher zuständig für mich, weil sie meine einzige Verwandte und erwachsene Vertrauensperson hier war. Scheinbar wollte sie den letzten Schritt überbrücken und ihre Arme nach mir ausstrecken, doch ich zog die Augenbrauen zusammen und musterte sie unruhig.
Sie sollte mich jetzt bloß nicht berühren.
Dazu war ich heute nicht mehr fähig.

Deswegen schien Mrs. Infusion es sich anders zu überlegen und drehte um, um zu einer der Bänke zu gehen und  sich dort hinzusetzen.
Mit ihrer Hand deutete sie klopfend auf den freien Platz neben sich. 'Komm, setzte dich erst einmal.', erklärte sie mit fester, strenger Stimme.
Unentschlossen und möglichst langsam näherte ich mich ihr.
Meine Tante musste wohl einen spät abendlichen Spaziergang gemacht haben, wobei ihr das Licht ihn der Sporthalle aufgefallen war.
Nun ärgerte es mich, dass ich beim Trainieren das Licht heute nicht ausgelassen hatte. Wahrscheinlich wäre sie dann nicht hierhergekommen, um mit mir zu sprechen.
Während ich zu ihr ging und bebir ich mich neben sie setzte, atmete ich noch einmal tief ein und aus.
Jetzt gab es kein zurück, ich musste dadurch und so schlimm würde es schon nicht werden.

Sobald ich mich mit genügend Sicherheitsabstand hingesetzt hatte, begann Mrs. Infusio zu sprechen. 'Wenn dir irgendwas auf der Seele liegt, dann kannst du es mir ruhig sagen.'
Eine sehr höflich ausgedrückte Andeutung dafür, dass sie merkte, wie schlecht es mir an den meisten Tagen ging, aber darauf würde ich nicht eingehen, denn ich hatte  irgendwie nicht genug Vertrauen, ihr alles zu erzählen, was ich Jen erzählt hatte.
Es war nicht so, dass ich ihr als Person nicht vertraute. Ich war mir sogar sicher, dass sie mich verstehen würde.
Das, was mir sorgen machte waren eher ihre höhere Position und ihre engen Kontakte zum Rat. Wahrscheinlich würde sie es für besser halten, denn Rat in meine Probleme mit einzubeziehen, zu meinem Schutz natürlich, und das wollte ich einfach nicht riskieren.
Es waren immernoch gefährliche Geheimnisse und die waren meiner Ansicht nach nicht für die ganze magische Welt bestimmt und das vor allem, wenn ich das Ganze nicht unter Kontrolle hatte, nichts davon.

'Ja, das werde ich machen, aber mir geht es ganz gut momentan.', erklärte ich viel selbstsicherer als ich wirklich war, wobei ich ihr aber nicht in die Augen sah, sondern meinen Blick auf meine Hände richtete. Gerade waren meine schmalen Hände, mit den langen Fingern und den kurzen, wenig gepflegten Fingernägeln einfach viel interessanter als ihr Gesicht.
Meine Stärke holte ich aus Jen's versprechen, mich zu unterstützen. Wir waren nun zu zweit. Das musste reichen.
Meine Tante lachte leise und schüttelte dabei ihren Kopf, sodass einzelne Strähnen aus ihrem schon halb aufgelösten Dutt fielen.
'Genau, deswegen trainierst du auch mitten in der Nacht in der Sporthalle.' 'Das hat nichts damit zu tun. Ich mache das, weil es mir Spaß macht.', verteidigte ich meine Angewohnheiten.
Mrs. Infusion wirkte kurz verwirrt, als würde sie in eine andere Welt oder zumindest einen verborgeneren Teil ihrer Gedankenwelt abdriften und hinge dann in einer alten Erinnerung fest.

'Und wieso schaust du immer so verloren in die Ferne, wenn du alleine irgendwo herumstehst?'
Ich kaute unruhig auf meiner Unterlippe und wiegelte dieses Gebiet einfach mit einer nichtssagenden, in einer anderen Situation vielleicht witzigen Aussage ab.
'Das halte ich für ein Gerücht und selbst wenn ich das machen würde, bin ich halt eher der Denker Typ.'
Sie hob verärgert die Augenbrauen ein Stück höher, gab sich aber noch nicht geschlagen.
Wahrscheinlich hatte sie auch etwas von der Sturheit meiner Familie. 'Wieso nimmst du dann Tabletten?'
Ich schluckte hörbar. Langsam wurde das hier wirklich zu einem Verhör und diese Frage gefiel mir überhaupt nicht.
Vielleicht war es die beste Idee, die Pillen einfach runterzuspielen. Möglichst ruhig und wenig interessiert erwähnte ich nach außen hin: 'Ich gebe es ja zu, ich habe immer noch Einschlafprobleme.
Es passiert einfach so viel und ohne Schlaf bin ich nicht besonders gut drauf.'

Innerlich lachte ich mich fast selbst aus. Einschlafprobleme; wenn es nur das wäre.
Meine Tante schien die Information aufzunehmen und sie als Wahrheit abzustempeln, denn sie nickte bedacht, als hätte sie so etwas erwartet, als hätte sie so etwas hören wollen.
'Und was hält dich am meisten wach?', fragte sie nach und legte den Kopf schief, während sie mich intensiv musterte.
Gabe Hanwen, wenn er mich quält, wollte ich ihr ins erschöpfte Gesicht werfen, doch ich ließ es.
Stattdessen verweigerte ich eine richtige Antwort. 'Vieles.'
Ein tiefes Seufzen entfuhr meiner Tante und sie ließ ihre Hände enttäuscht ihn den schoß fallen.
'Du bist noch schlimmer wie deine Mutter.', fuhr sie mich außergewöhnlich wütend an, 'Du willst dir bei nichts helfen lassen, obwohl du die Hilfe bitter nötig hast, aber wenn du alles in dich hineinfrisst und alles nur für dich behältst und immer alleine bleibst, wird es auch nicht besser, das kannst du mir glauben!'

Sie stand auf und hob ihre wieder Hände hilflos in die Luft.
Ihre Stimme war ein ganzes Stück höher als sonst.
'Sie hat es genauso gemacht. Nie wollte sie über ihre Probleme sprechen und immer hat sie meine Hilfe abewiegelt. Wieso?'
Ihre Frage schien trotz der Beschreibung meiner Mutter an mich gerichtet zu sein.
Der letzte Streit zwischen den beiden und der Tod meiner Mutter schien ihr noch sehr zuzusetzten, denn sonst war sie immer die Ruhe in Person und jetzt legte sie mir offen ihre Gefühle dar.
Es war eine Mischung aus Wut und Trauer, die wahrscheinlich für Linda gedacht war; doch sie schien irgendeine Verbindung zwischen mir und meiner Mutter zu sehen, die mir verborgen blieb.
Ich blieb stumm, wagte für den Moment nicht einmal einzuatmen.
Wieso?
Ich tat das, weil es sicherer war, weil ich niemanden mit meinen Problemen und Sorgen belastete oder gefährdete, in erster Linie aber, weil es einfacher für mich war, nichts zu sagen.

'Kannst du nicht wenigstens versuchen, mir zu erklären, was los ist?', fragte Mrs. Infusio, raufte sich die Haare und war zum ersten mal seit ich sie kannte wirklich verzweifelt uns damit meinte ich nicht die spontane Verzweiflung in einem Kampf, sondern die Verzweiflung, die von tief in der Seele kam, die einen wirklich bedrückte und die ich in ihren Augen sehen konnte.
Ich hatte nicht gewusst, dass sie dieses Thema so sehr mitnahm, obgleich ich noch kein einzieges Wort über meine Geheimnisse gesagt hatte.  Ich wusste noch nicht mal, was Jen in naher Zukunft machen würde, dann konnte ich jetzt noch nicht jemanden anderen einweihen und mal ganz abgesehen davon, war nicht bereit für einen weiteren Tränenausbruch.
Auch Mrs. Infusions Reaktion konnte ich einfach nicht abschätzen.

'Nein, das kann ich leider nicht sagen.' Einen Moment starrten wir uns stumm an.
Das, was mich am stärksten traf, war die Enttäuschung in ihren Augen.
Sie war unglaublich enttäuscht von mir, fühlte sich verletzt, verraten und vielleicht würde sich das Bild, welches sie von mir hatte, verändern.
Ich konnte sehen wie ihre Kieferknochen sich bewegten, aber hielt ihren Blick weiterhin und wusste dabei nicht, ob es irgendetwas gab, was ich jetzt noch sagen konnte, um Situation ein wenig zu verbessern.

'Dann musst du dir selbst helfen.', erklärte meine Tante wieder etwas ruhiger, bevor sie ohne ein Wort des Abschieds die Sporthalle verließ.
Ich hörte ihre Schritte noch eine Weile länger, als es meinen Ohren möglich war, in meinem Kopf nachhallen wie ein Echo.
Als sie verebt waren, stützte ich den Kopf in meine Hände.
War das die richtige Entscheidung gewesen?
Die sicherste Möglichkeit war auf jeden Fall, die glücklichere sicherlich nicht und, was besser war, konnte ich nicht bestimmen.
Ein weiteres Mal hatte ich wegen meiner Kraft jemanden verloren.  Natürlich wollte ich die Menschen, die ich liebte, nicht von mir wegstoßen, wollte nicht, dass sie mich hassten, doch so war es sicherer für mich und für sie. Diese Sache war einfach zu groß, um wie mit einem alltäglichen Thema damit umzugehen und jeder, der davon erfuhr, würde sich nicht nur wie ich Tag und Nacht sorgen, wenn es jemand aus meinem engeren Umfeld war, sondern er oder sie  automatisch zum Opfer von Gabe Hanwen werden.

Wenn da nicht diese verletzte Stimme in meinem inneren gewesen wäre, die meiner Tante nachrennen und sie in den Arm nehmen wollte, hätte ich meine Entscheidung wohl weniger angezweifelt, doch sie war da, jedesmal, bei jeder Person, die mir verloren ging.
Sie kämpften von meinem Herzen aus gegen meinen Kopf, nur leider war dieser meist stärker. Jen war schon eine Ausnahme gewesen und wenn ich noch mehr Leuten davon erzählte, würde sich alles ändern.
Inzwischen hasste ich Änderungen. Ich war vorher mehr oder weniger gut zurecht gekommen und ich wollte nicht schon wieder, dass sich irgendwas, wie so oft in den letzten Monaten, zum schlechteren wendete.

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