Kapitel 31

Als ich durch die Tür trat, schlug mir der ekeleregende Gestank von viel zu starkem Desinfektionsmittel entgegen.
Ich rümpften die Nase und blieb kurz in der Tür stehen, um mich daran zu gewöhnen.
Das Zimmer war mir nur allzu bekannt oder es schien zumindest so, zumal all die Zimmer in der Krankenstation gleich aussahen.
Der Hauptinhalt des Raumes waren die zwei sauberen, weißen Krankenbetten, die mit ebenso strahlend weißen Bettlaken behangen waren. Zwischen den Betten stand ein alter Holzstuhl, der für Besucher gedacht war und wenn es der selbe wie in meinem letzten Krankenzimmer war, war ich mir sicher, dass er beim sitzen leise knarrte.
Am Ende des Raumes war ein großes Fenster, durch das man hinaus in den reinen, weißen Schnee, nur noch vereinzelt bedeckt von grauer Asche, blicken konnte.
Direkt daneben war eine Topfpflanze, die man jedoch mehr gießen müsste, da sie vollkommen ausgedörrt aussah und ein Fernseher hing genau an dem selben Platz wie im anderen Krankenzimmer ganz am Eingang hinter der Tür an der Decke.
Von meinem Platz aus nicht zu sehen, weil er von der geöffneten Tür verdeckt wurde, musste ein großer Spiegel an der Wand lehnen.

Ich hasste dieses Zimmer.
Nicht nur der abscheuliche Geruch oder das grelle Neonlicht von der Decke störten mich.
Es waren die Erinnerungen, die ich mit diesem Raum verband.
Nicht nur die Male, wo ich verletzt war und mich in diesem Raum meine Albträume quälten, nein, ich dachte da noch an etwas Anderes.
Ich musste immerzu an den Tag denken, an dem ich vor Luis geflohen war.
Ich war von ihm
weggesprungen, als sei er ein Monster, obgleich nur ich selbst Eines wahr.
Noch ganz genau hatte ich seinen verletzten Blick vor Augen. Kühler, gekränkter Schmerz. Etwas, das er sonst nie zeigte.
Ab diesem Moment hatte es keine Zukunft mehr für uns gegeben und das Schlimme daran war, das ich mir nicht sicher war, ob ich dies ändern könnte und ob es je eine Zukunft für uns geben würde.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und vertrieb die Gedanken an ihn, sein Lachen, seine intensiven blauen Blicke und die gemeinsamen Erlebnisse, die ich mit romantischen Momenten, kleinen, bunten Feuerwerken und glücklichen Karusselfahrten verband.
Heute war ich nicht wegen mir in diesem Raum.
Ich war tatsächlich der Besucher eines Kranken.
Zwar war die Wunde an meiner Seite unter meinem dicken, dunkelroten Pulli noch immer verbunden, damit sie nicht erneut aufriss, doch meine Tante hatte sie, unter meiner Anstrengung ihre Berührungen zu ertragen, ohne ihr die ganze Kraft zu entziehen, bereits geheilt.
Zum Glück war es durch den starken Schwund meiner Kraft bei der Wiederbelebung nicht so schwer wie sonst gewesen und ich musste nicht in ein eigenes Krankenzimmer, wogegen ich mich empört und fast wütend gewehrt hatte.
Ich hatte sie so lange angebettelt, bis ich sie überreden konnte, meine Wunden einfach so zu heilen.
Es war besser schnell weiterzumachen.
Äußerlicher Schmerz lenkte mich ab und verbat mir zu trainieren, was jetzt wichtiger den je geworden war.
Heute hatte ich zwar leider noch ein Kampfverbot, aber meine Kraft hatte sich schon fast wieder vollständig aufgeladen. Ich war froh, dass das so gut funktionierte und ich schon am nächsten Tag wieder stark war. Das gab mir einfach mehr Sicherheit. Morgen würde ich schon wieder fast in normaler Form sein.

Außerdem hatte ich mir fest vorgenommen direkt am nächsten Tag Jen zu besuchen und das ging nun einmal nicht, wenn ich selbst auf einer Krankenstation festsaß.
Jen sah ebenfalls schon wieder relativ stark aus, was ein Wunder zu sein schien, da sie ja wahrhaftig vor meinen Augen gestorben war.
Nur ihr Kopf lugte unter ihrer weißen Decke hervor.
Sie schien noch zu schlafen.
Ich traute mich endlich, ging vollends hinein in dieses für mich abstoßende Zimmer, obgleich es viele wohl mit Heilung assoziierten und schloss hinter mir leise die Tür, um Jen nicht zu wecken.
Dabei fragte ich mich, wie viel von meiner Kraft wohl noch in ihrem Körper war und ob er dort für immer bleiben würde.

Ich näherte mich langsam meiner besten Freundin, möglichst ohne ein Geräusch zu verursachen, dass sie aufwecken könnte.
Ihre rotbraunen Haare lagen leicht verknotet und wild verteilt auf ihrem Kissen, als hätte sie sich im Schlaf hin und her gedreht.
hr Gesicht wirkte dagegen seltsam entspannt. Sie litt nicht unter Albträumen, so wie ich.
In der Nacht konnte sie sich hinter den Säulen ihrer Traumwelt verstecken und die Ereignisse des Tages ruhig verarbeiten.
Ein Zustand, den ich nur zu gerne einmal wieder Ausleben würde. Leider verbot mir das mein größter Feind jede Nacht aufs Neue und gab mir stattdessen neue, schreckliche Erlebnisse zum Verarbeiten mit auf den Weg.

Mit einem leisen Seufzen setzte ich mich in den knarzenden Holzstuhl neben Jens Bett und verzog kurz das Gesicht, da das Knacken des Holzes lauter war, als ich gedacht hatte. Trotzdem regte sich Jen nicht, was mich zaghaft lächeln ließ.
Das Schlafen war so ziemlich der einzige Moment, wo sie nicht wie ein überschäumender Wasserfall sprach und nur jetzt konnte ich für einen kurzen Moment in die Stille des kalkweißen Zimmers horchen.

Anschließend näherte ich meine Hand vorsichtig der ihren, ich konnte nicht anders, musste es ausprobieren.
Bei der Berührung biss ich mir auf die Zähne, da mich eine frische, starke Kraft durchfloss, aber ich stoppte den großen Durchfluss relativ schnell. Dann forschte ich nach dem Ursprung ihrer Lebensenergie.
Die Quelle war nicht schwer zu finden, denn ein strahlend gelbes Licht schien von ihr auszugehen, nur gelb und nicht blau.
Ich versicherte mich noch einmal konzentriert und mit geschlossenen Augen, doch es war nichts mehr von meiner Kraft in ihr vorhanden.
Ich hatte sie nur benutzt, um Jen zu heilen, und nun war sie wieder aus ihr verschwunden.
Es war gut, dass ihre alte Kraft zurückgekehrt war, da sie jetzt wieder ganz unabhängig von mir lebte.
Behutsam zog ich mich zurück und nahm meine Hand von ihrer.

Ich lehnte mich gegen die ungemütliche Lehne des Stuhls und wartete nicht allzu lange, bis Jen vorsichtig die Augen öffnete und mich verträumt anblinzelte.
Die braunen Sprenkel ihrer Augen glänzten im grellen Licht der Neonlampe und ich war unglaublich froh, dass sie wieder da waren.
'Hey.', murmelte meine beste Freundin müde.
Ich grinste ein wenig unbeholfen. 'Guten morgen.'
Langsam richtete Jen sich in ihrem Bett auf. Das schien ihr keine Schwierigkeiten zu bereiten.
Danach streckte sie sich ein Stück nach rechts aus, sah scheinbar in den Spiegel und ließ sich abrupt wieder in ihr Bett plumsen.
Mit ihren Fingern fuhr sie eilig durch ihre Haare.
Ich sah meine Freundin fragen an.

'Meine Güte, wie sehe ich den aus. Sag nicht, dass Justin schon hier war.'
Ich schmunzelte über ihre kleinen Problemchen, die die Situation doch wieder ganz normal machten.
'Nein, ich glaube nicht. Ich habe ihn zumindest nicht gesehen, aber keine Sorge, du siehst toll aus, wie ein kleiner Löwe.'
Dabei musste ich leise Lachen, sodass auch Jen wieder zu ihrem gewohnten Grinsen zurückfand.
'Dankeschön. Löwen sind echt tolle Tiere.', erwiederte sie zuckersüß.
'Das war auch nur so gemeint.', beteuerte ich und freute mich innerlich, dass sich zwischen uns nichts verändert hatte.
Jen zwinkerte mir zu.
'Das will ich auch hoffen.'

Sie streckte sich ausgiebig und gähnte laut. 'Wie kann man so müde sein? Dabei muss ich doch schon mindestens 12 Stunden geschlafen haben.'
'Egal, jeder braucht mal eine Pause. Und du warst auch wirklich schwer verletzt und deine Kraft muss sih regenerieren.', sagte ich und biss mir dann angespannt auf die Lippen.
Ob sie sich noch an den Moment erinnerte, wo ich ihr meine Kraft gegeben hatte? Und ob sie nun wusste, wie es war tod zu sein?
Ich stellte mir das Ganze so vor, dass man irgendwie von einem Licht durch die Dunkelheit geleitete wurde. Je besser man im Leben gewesen war, desto heller war das Licht und umso sicherer war der Weg. Darauf aufbauend stellte ich mir vor, dass man den Schatten des Teufels nur um ein Haar entkommen würde und dass man vielleicht, wenn es so etwas wirklich gab, in den Himmel oder einen ähnlichen Ort geführt wurde. Ein Schloss in den Wolken, mit Engeln vielleicht und allem, was man für ein schönes Leben brauchte.
Am wichtigsten war es aber, dass man bis in die Unendlichkeit mit seiner Familie und seinen Freunden dort leben konnte.
Ja, diese Vorstellung war sehr unrealistisch, idealisiert und utopisch, sie glich eher dem bunten Traum eines Kindes, aber ich mochte sie, da mir dieser Gedanke auf eine gewisse Weise das Gefühl, ein Ziel zu haben, gab. Außerdem nahm es mir die Angst vor dem Tod. Und den Tod gab es in meinem Leben wirklich genug.

Leider schien auch Jen der gestrige Abend wieder einzufallen, denn ihr Blick verdunkelte sich schlagartig. Verwirrt und leicht geängstig schaute sie mich an.
'Nia, weißt du... Du warst doch neben mir.' Ich nickte ihr behutsam zu und bereitete mich innerlich auf die nächsten Worte vor.
Natürlich wollte sie wissen, was wirklich geschehen war. Das konnte ihr niemand verübeln.
'Ich hatte für einen kurzen Moment gedacht, dass ich tod sei. Also, dass ich nicht mehr lebte, meine ich, auch wenn sich das voll komisch anhört.  Eigentlich kann es ja auch nicht sein, weil ich bin ja hier und ich habe mich auch schon gezwickt, um zu gucken ob das kein Traum ist.
Trotzdem hat es sich so echt angefühlt, so echt angefühlt... zu srerben, also wie ich dachte, wie es ist.
Ich war erst noch neben dir und ich habe mich so schwach gefühlt, so elendig schwach. Das Atmen war so anstrengend und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Dann bin ich irgendwie abgedriftet ins Dunkle. Ich hab nichts mehr mitbekommen. Rein gar nichts, aber eine Ohnmacht ist irgendwie anders, sie ist weniger... schwer?
Und ich habe doch diese Wunde über dem Herzen und der Typ wollte mich auch echt töten, das hat er mir ins Gesicht gesagt, es war schrecklich.
Das klingt jetzt sicher echt komisch, aber kann man Auferstehen?
Bin ich eine Gestalt aus dem Jenseits?
Bin ich eine Heilige, eine Halbgöttin?'

Meine beste Freundin sprach noch viel schneller, chaotischer und hysterischer als sonst schon und während ihrer Worte hatte ich wirklich Sorge, dass sie hyperventilieren würde.
Als sie ihren Redefluss beendet hatte, ging ihr Atem ungewöhnlich schnell, also versuchte ich erst einmal sie zu beruhigen. 
'Also hier bist du auf jeden Fall und es ist kein Traum, das kann ich dir versichern. Und nein du bist niemand aus dem... ähm Jenseits, du bist die ganz normale Jen, wie davor auch. Dir Wunde und die Schmerzen haben dich einfach einen Moment überwältigt.', erklärte ich ruhig und mein sanftes Nicken verstärkte den Effekt.
Jen schien sich ein wenig zu fangen, denn sie lehnte erschöpft ihren Körper gegen die weiße Wand hinter dem Bett. Ihre Aufmerksamkeit wich aber nicht von mir ab. Aus wachsamen Augen musterte sie mich.

'Du weißt mehr.', stellte sie schließlich ohne zu Zögern fest, 'Sonst wärest du nicht so ruhig. Außerdem saßt du neben mir.'
Ich schwieg einen Moment, ärgerte mich darüber, dass ich so durchschaubar war, und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen, um sie zu befeuchten.
Meine Überlegzeit wurde mir jedoch durch Jens ungeduldige, fordernde Stimme genommen.
'Erzähl es mir bitte, Süße. Findest du nicht ich habe ein Recht darauf?'

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