Kapitel 26
Ich stand alleine in der Sporthalle. Für einen Moment genoss ich die Stille, vielleicht auch die Einsamkeit.
Es war dunkel um mich herum, Schwärze hüllte mich ein, doch das machte mir nichts aus, denn Nachts in meinen Träumen musste ich meistens auch ohne Licht kämpfen und meine Augen hatten sich schon längst an die Dunkelheit gewöhnt.
Drei Puppen hatte ich vor mir aufgebaut. Ehrlich gesagt, hätte ich aufgrund des Schwierigkeitsgrades lieber mit echten Gegnern trainiert, aber diese würden es auch tun.
Meine Haare waren zu einem Zopf zusammengeflochten, ich trug meinen einfachen schwarzen Kampfanzug und atmete noch einmal tief ein, um zu überlegen, wie ich am besten üben konnte, was ich vorhatte. Ich war mir nicht so sicher ob es funktionierte, aber wenn es das tat, hätte ich einen Vorteil im Kampf und das würde ich gut gebrauchen können.
Außerdem bildete ich mir ein, dass ich mit solchen Übungen meiner Kraft näher kommen oder sogar mit ihr kooperieren konnte.
Entschlossen ballte ich die Hände zu Fäusten und stellte mir einen Gegner vor, der mich angreifen wollte.
Das gab mir jedes Mal mehr Motivation um zu kämpfen.
Ich hob mein Schwert und sprang auf die Puppe zu, doch kurz bevor ich sie erreichte, verwandelte ich mich in eine kleine Wolke und schwob über sie hinweg.
Dann verwandelte ich mich zurück und stieß meinem Gegner gleichzeitig mein Schwert in den Kopf.
Dieser wäre wohl bei einem echten Menschen auf eine grauenvolle Weise zerspalten gewesen.
Trotzdem schüttelte ich unzufrieden den Kopf. Das war zu langsam. Es musste schneller funktionieren.
Ein echter Gegner hätte sich längst umgedreht und selbst wenn er mich nicht gesehen hätte, könnte er meinen Schlag parieren.
Ich musste etwas anderes werden. Etwas schnelleres, das am besten durchsichtig war.
Ich musste nicht lange überlegen, bis mir das Wort Licht durch die Gedanken flog.
Also verwandelte ich mich zum ersten Mal in Licht.
Von einem Moment auf den Nächsten war ich schwerelos, losgelöst und frei.
Ich spürte wie die Teilchen in der Luft fröhlich um mich herum wirbelten, mich zu begrüßen schienen, und wie alle Geräusche lauter und stärker erklangen. Plötzlich war es gar nicht mehr so leise in der Sporthalle. Da war der rauschende Wind in der Ferne, da war das Geräusch von Wasser in einer Leitung, da war das knacken des Holzes in den Wänden, da war das Ticken dee Uhr in einem Raum unter mir, da waren meine Bewegungen, die ihn den aufgewirbelten Teilchen noch irgendwie spürbar waren und da war ich in all diesem geordneten Chaos.
Ich sendete gerade mal ein kleines Licht um mich herum und musste wohl aussehen wie ein winziges Glühwürmchen, flog aber mit Lichtgeschwindigkeit und tauschte im Wechsel zwischen der Sporthalle und dem Himmel die Orte aus.
Erst war ich noch im sternenbeleuchteten Nachthimmel neben dem großen, gutmütigen Mond und dann schon wieder zurück in der dunklen Sporthalle.
Das bloße Auge hätte gar nicht bemerkt, dass ich weg war und vielleicht gerade deswegen fand ich Spaß darin, auf diese besondere Weise zu fliegen.
Schließlich riss ich mich dann doch zusammen, verdrängte die überschwellenden Eindrücke um mich herum und verwandelte mich zurück.
Dies aber auch nur für kurze Zeit, um die Übung erneut auszuführen. Geschickt schwang ich mein Schwert und bremste ab, um zum Lichstrahl zu werden.
Dann hüpfte ich wieder und dieses Mal viel schneller über die Puppe drüber.
Noch ehe ich mich ganz zurück verwandelt hatte, versenkte ich mein Schwert schon in seinem Rücken.
Mit einem dünnen Lächeln lobte ich äußerlich den Erfolg, obwohl ich innerlich hätte tanzen können, einfach weil ich meinen ersten eigenen Trick erfunden hatte.
Ohne eine Pause wagte ich mich an die nächste Übung.
Wenn die anderen ihre Kraft im Kampf nutzten konnten, musste ich das auch tun, damit ich nicht unterlegen war und da mir niemand etwas über das Kämpfen mit meiner Kraft beibringen konnte, musste ich das eben selbst tun.
Als nächstes baute ich illusionierte Mauern um die Puppen herum, schlug von allen Seiten auf meine unbeweglichen, im echten Leben hoffentlich wehrlosen Gegner ein und erschaffte sogar voller nachhängendem Stolz einen Blitzstrahl, der selbst das faszinierende, scheinbar unbesiegbare Material der Puppen, welches sich immer zurückformte und bei dem Wunden irgendwie zu heilen schienen, an den Rändern verkohlte, sodass beim genauen Hinsehen schwarze Schliere zu erkennen waren.
Um so eine Kraftwelle bei einer Illusion zu erzeugen, musste ich nur möglichst viel Schmerz und Wut und Angst in meine Illusionen füllen und davon hatte ich noch lange genug.
***
Es war ein kalter Wintermorgen, einer von vielen.
Winzige Schneeflocken fielen langsam, wie verlangsamt vom Himmel, wurden vom Wind willkürlich hin und her geweht und ließen sich einfach in der kühlen Luft treiben. Am Ende ließen sie sich auf den kahlen Ästen der Bäumen, den Bänken und sogar auf den Köpfen der Schüler, die draußen unterwegs waren, nieder.
Ich stand inmitten des Schnees, der sich auf dem Boden niedergelassen hatte und somit abseits des Weges, der größtenteils vom Schnee geräumt war.
Im Frühling und Sommer hätten sich unter mir Gras und kleine Blumen befinden müssen, doch jetzt waren hier nur hilflos auf den Boden gesunkene, weiße Wolken.
Direkt neben mir stand einer der höchsten Bäume auf dem Campus.
Ich hatte die Augen geschlossen und versuchte mich zu konzentrieren. Dabei blendete ich alle anderen menschlichen Geräusche, die noch vom Schnee gedämpft an mich heranwehten, aus.
'Werde ein Teil von mir.', flüsterte ich leise.
Natürlich geschah nichts. Ich spürte nicht einmal die leiseste Veränderung meiner Kraft.
Konnte man etwas spüren? Musste etwas passieren, wenn man für die Kooperation bereit sein wollte?
'Komm schon, lass uns kooperieren.', murmelte ich wieder und wieder.
Ich war doch wirklich bereit, mit meiner Kraft zu arbeiten, bot es sogar an und kam ihr entgegen.
Wieder geschah nichts und ich war mir ziemlich sicher, dass meine Kraft bei der nächsten Berührung wieder aktiv werden würde und sich ohne mein Zutun Lebensenergie stehlen wollte und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie dann kontrollieren sollte. Meine Kraft war stärker als ich und ich versagte wieder einmal daran mit ihr zu arbeiten, aber was sollte man denn gegenüber einer sturen Kraft tun, die weder zuhörte noch einlenkte?
Jetzt redete ich schon von meiner Kraft als eigenständige Person.
Das war nicht normal.
Ich wurde wirklich verrückt.
Genervt senkte ich meinen Kopf gegen die kühle Rinde des Baumes neben mir und ließ ihn dort in dem Versuch ruhiger zu atmen einen Moment liegen.
Meine Hand glitt intuitiv an meine Halskette, die ich immer noch jeden Tag trug, sie einfach nicht ablegen wollte, und in einem letzten Versuch begann ich laut: 'Wieso willst du nicht endlich...?'
Dann unterbrach mich plötzlich Luis raue Stimme.
'Sprichst du mit mir?'
Ruckartig zuckte ich zusammen und blickte irritiert zu ihm hoch. Wahrscheinlich musste er zufällig an mir vorbeigegangen sein und meine Worte gehört haben.
'Ich... ähm... Nein.', setzte ich also an, fand aber keine logische Ausrede, um meine Worte zu erklären.
Wieso hatte ich mich auch hier alleine mitten ins Schneegestöber gestellt?
Beschämt senkte ich einfach den Blick auf meine Füße und sagte die Wahrheit, weil seine Blicke mich irgendwie dazu zwangen zu antworten und weil ich gerade nicht richtig nachdenken konnte.
'Ich hab nur kurz mit mir selbst geredet.'
Meine Güte, wie dumm das klingen musste, jetzt hielt er mich vollends für verrückt.
Unsicher kaute ich auf meine Unterlippe und blickte ihn an, aber er zeigte keine Regung, bis ich meine Kette losließ, die ich immer noch fest in meinen geschlossenen Fingern gehalten hatte.
Seine Augen blitzten für einen kurzen Moment auf, doch ich konnte das Gefühl darin nicht deuten.
Es hätte Überraschung, Freude oder Wut sein können, oder urgendetwas dazwischen.
'Du trägst sie immer noch?', fragte er direkt und als mir bewusst wurde, dass er die Kette mit dem kleinen Sternenanhänger, die er mir geschenkt hatte, meinte, errötete ich leicht.
Leider konnte ich ihm nicht einfach die Wahrheit sagen, konnte nicht über meine Gefühle sprechen, denn mit meinem Problem war ich noch keinen Schritt weiter gekommen und erklären, warum ich ihn abgewiesen hatte, konnte ich auch kein Stück besser. Dabei hätte ich ihm nur zu gerne alles erzählt.
Stattdessen zog ich möglichst schnell meinen grauen Kapuzenpulli über die Kette, um sie zu verdecken und fragte möglichst dümmlich: 'Was meinst du?', als hätte er sein Geschenk an mich nie gesehen.
Es tat mir in der Seele weh, ihn so provozierend abzulenken, aber ich wusste nicht, wie unser Gespräch anders hätte weiter ablaufen sollen.
Luis schaute mich stumm aus seinen unergründlichen blauen Augen an, die mich schon wieder stark ablenkten und damit keine allzu große, feindselige Stillepause entstand, fügte ich dankbar hinzu: 'Aber danke nochmal, dass du mir geholfen hast, als Rick...'
Irgendwie waren diese Worte dann doch zu unüberlegt gewesen, denn ich fand es schwer vor Luis die Tatsache auszusprechen, was sein Freund mit mit vorhatte.
Er grinste verwegen und antwortete mir hilfsbereit, um mich aus der misslichen Lage zu bringen.
'Du meinst, dass ich meinen Freund bis zur Gehirnerschütterung geschlagen habe.'
Ich lächelte über seine Ausdrucksweise, wobei normale Menschen den Spaß bei diesen Worten kaum verstehen würden, aber wir waren nicht normal.
Denn genau dafür dankte ich ihm, wenn man es nicht so genau betrachtete. Dass ich gegenüber Rick persönlich so wenig Mitgefühl zeigte, konnte ich nach diesem Vorfall auch nicht mehr ändern.
'Und wie geht es dir so?', trieb ich unser zähflüssiges Gespräch in Richtung Smalltalk an, was im Nachhinein vielleicht nicht die allerbeste Idee war, aber in seiner Nähe schien sich der logische, objektive Teil meines Gehirns wie zu Anfang, und ich schob es auf die seltenen gemeinsamen Momente, selbstständig abzuschalten.
Er zuckte nur mit den Schultern.
'Ja, mir geht es... gut.'
Achso gut.
Dann war ja alles geklärt.
Doch Luis stellte höflicherweise die Gegenfrage. 'Und dir?'
Ich zögerte nur einen kurzen Moment, ehe ich es ihm einfach nachmachte und die Frage mit einem Wort beantwortete, das rein gar nichts über meine wirkliche Gefühlslage aussagte.
'Mir geht es auch echt gut.'
Er hob die schwarzen Augenbrauen und neigte den Kopf ein wenig nach vorne, was ihn für jemand Fremdes wahrscheinlich gefährlich wirken ließ, aber dafür kannte ich ihn zu gut. 'Deswegen sprichst du auch mit dir selbst, nicht wahr?'
Es war eher eine Feststellung als eine Frage und er war um einiges direkter als ich. Hätte ich eben nur schneller eine sinnvolle Ausrede gefunden.
'Ich mache das des Spaßes halber. Es ist immer wieder sehr erfrischend, mehr über sich selbst zu erfahren.', erwiederte ich ironisch und wählte somit den letzten Ausweg, wurde mir dabei aber seinem Blick bewusst, der durchsickern ließ, dass er mir in keinster Weise glaubte.
'Naja, jeder hat seine eigenen Hobbies.', meinte er nur laut, was mich in einer anderen Situation sicher wütend gemacht hätte, doch nun war ich es selbst Schuld.
Wir starrten uns aufgebracht an und das führte leider jedes Mal dazu, dass ich ihn bedachter als andere Leute betrachtete, viel bedachter.
Sein eher kantiges Gesicht mit dem von nichts zu beeinflussenden Blick, das von vollem schwarzen Haar umrandet war, wirkte noch immer vertraut.
Sein Körper schien noch muskulöser und härter als sonst zu sein, doch so genau konnte ich das nicht feststellen, da seine fast vollständig schwarze und eher dicke Kleidung die sonst so deutlich hervorstechenden Konturen größtenteils verdeckte.
Und natürlich seine Augen. Ich wusste auch nicht genau, wieso ich seine Augen immer so anziehend fand, aber sie schienen irgendetwas von seinem inneren freizugeben und oft konnte man zumindest winzige Gefühlsregungen in ihnen erkennen. Sie waren wie eine Verbindung zwischen uns, wenn man Hannibal Traumfängers Worten glaubte.
Die Augen Verbindung zur Seele.
Und seine Seele schien mich irgendwie besonders zu faszinieren.
Aus einem unerklärbaren Grund begann ich an zu sprechen, ohne es zu wollen.
'Ich wollte dir...' bevor unüberlegte Worte aus meinem Mund kamen, stoppte ich mich und biss mir auf die Zunge.
Jetzt hatte ich nicht einmal mehr meinen eigenen Körper unter Kontrolle. Das musste aufhören. Außerden bemerkte ich in diesem Moment aus dem Augenwinkel, wie Luis Freunde sich näherten.
Sie kamen genau auf uns zu und um nicht mit ihnen sprechen zu müssen, wandte ich gewaltsam meinen Blick ab und verkündete: 'Ich wollte eigentlich gerade gehen.'
Dann drehte ich mich um und entfernte mich, ohne noch einmal zurück zu sehen.
Toll, dieses Gespräch war wirklich toll verlaufen.
Ich hatte ihm einfach jedes Wort aus der Nase gezogen und fragte mich nun, ob er vielleicht dachte, dass ich nach unserer Beziehung um einiges dümmer und naiver geworden war.
Ich hätte das über mich selbst in jedem Fall gedacht.
Noch den ganzen Nachmittag dachte ich über unser Gespräch, falls man es denn so nennen konnte, nach.
Selbst im Unterricht konnte ich mich deswegen nur schwer konzentrieren, aber denn Nachmittag hatte ich mir sowieso zum Lernen freigenommen. Dann konnte ich den Stoff von Heute, der hauptsächlich aus Wiederholungen vor den Klausuren bestand, auch noch nachholen, soweit meine Gedanken nicht abschweiften und sich im endlosen Blau verloren. Mein Gehirn ordnete Luis aus einem unbestimmten Grund als wichtiger ab, obgleich das so viele Wochen nach der Trennung nicht mehr der Fall sein sollte.
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