Kapitel 17

Ich war in einem riesigen, nur schwach beleuchteten Raum, der mich ein bisschen an das Museum, in welches wir vor längerer Zeit einen Ausflug gemacht hatten, erinnerte. Einen Ausflug, bei dem ich Hannibal Traumfängers Bild gesehen hatte, wegen eines Gegenstandes fast umgekippt wäre und anschließend einen schweren Kampf gegen Gesine Hanwen führen musste, welche ich nur wenige Monate später umgebracht hatte.
Schnell vertrieb ich die schlechten Gedanken aus meinem Kopf und verschaffte mir erstmal einen Überblick über den Raum, an dessen Wände sich große Regale, die bis zur hohen Decke reichten, befanden.
Man baruchte schon eine Leiter um überhaupt zur obersten Hälfte des Bücherregals zu kommen und, wie man die obersten Bücher erreichte, war mir unklar.
Zwischen den Regalen im Raum befand sich jeweils nur eine dünne Spalte, in der maximal zwei Personen nebeneinander stehen könnten, und selbst dort Lagen noch einige Ordner und Bücher auf dem Boden oder Hockern herum. Am Ende jeder Regalreihe befand sich dann ein Glaskasten, in dem ein paar lose Blätter oder wertvoll aussehende, teilweise schmutzige und abgenutzte Bücher lagen.

Ich bewegte mich auf einen dieser Kästen zu, als sich eine ältere Frau einen Weg zu mir bahnte.
Ganz klar eine Gewählte.
Sie trug eine große, braune Hornbrille auf der Nase und ihre hellbraunen, von weißen Strähnen durchzogenen Haare, bildeten eine altmodische Dauerwelle. Sie hinkte leicht mit einem Bein, war aber davon abgesehen noch ziemlich fit.
'Haben sie eine Erlaubnis hier zu sein, Junge Dame?', fragte sie mich und blickte streng über ihre Brille hinweg an.

Sekundenschnell zerstörte ich ihre baugällige Mauer mit ein paar kleinen Bomben. 'Sie darf hier sein. Sie hat mir ihre Erlaubnis gezeigt.', flüsterte ich in ihre Gedanken, 'Nun zeige ich ihr Hannibal Traumfängers Notizen.' Die Frau schien einen kurzen Moment verwirrt zu sein, aber dann nickte sie und sagte höflich lächelnd: 'Na, dann komm mal mit.'
Siegessicher folgte ich ihr an einigen  Regalreihen, die völlig überfüllt waren, vorbei.
'Hier ist es. Ich glaube ich lasse Sie nun in Ruhe.', erklärte die Frau und verschwand wieder.
Ich hörte ihre Stimme nur gedämpft, war ganz auf meine Aufgabe fokussiert und blickte auf den Glaskasten vor mir, in dem ein paar vergilbte Notizzettel lagen.
Die Schrift war ordentlich, in einem deutlichen schwarz und dort stand etwas von Kräften, die ich nicht kannte. Mich interessierten aber nur die Infos über meine Kraft und die befanden sich wohl auf einem der unteren Blätter.
Vorsichtig kniete ich mich hin und blickte die Blätter von der Seite an. Zwei oder drei lagen versteckt unter den obersten Seiten. Meine Tante hatte sie sich wohl zeigen lassen. Genervt blickte ich mich um. Wo war die Frau von vorhin hingegangen?
Hätte ich sie zurückgehalten, wäre dieses Problem nie entstanden.
Ich kaute auf meinr Unterlippe und überlegte, ob ich die Frau aufsuchen und noch einmal manipulieren oder einen Schlüssel für den Glaskasten schaffen sollte. Jedoch schien mir beides zu zeitintensiv, weil hier sicher noch andere Angestellte arbeiteten. Den Kasten einzuschlagen wäre auch keine gute Idee gewesen, denn das könnte ich nicht so leicht vertuschen und ins Gefängnis wollte ich sicher nicht, selbst wenn oder gar weil meine Tante mich sofort abgeholt hätte.
Kurzerhand stellte ich mir vor, dass das Glas nur ganz dünn und einfach zu durchdringen war. Dann streckte ich meinen Arm aus und schob ihn in den Glaskasten.
Ziemlich schnell hatte ich die unteren Blätter herausgeholt und wurde tatsächlich fündig. 'Illusionsbeschwörung' war eine Überschrift. Ein Lächeln glitt über meine Lippen und ich las gespannt den kurzen Text, der zu meiner Kraft verzeichnet war.
'Diese Kraft ist äußerst selten. Sie kann Illusionen aller Art erschaffen,  mit Hilfe der Gedanken kommunizieren und andere Leute steuern. Jedoch ist das nicht alles.'
Das musste meiner Tante auch gelesen haben, denn darunter veränderten sich die klaren Buchstaben. Sie wurden zu undeutbaren Zeichen, die sich eng und verschnörkelt aneinander reihten.
Ich starrte auf die einzelnen Symbole und versuchte sie zu entziffern, als die Zeichen plötzlich vor meinen Augen zu einem großen Traumfänger verschwammen, um sich dann in einen Kreis und ein Dreieck zu verformen. Ich blinzelte mehrmals, aber der Tanz der Zeichen hörte nicht auf, bis sich die Buchstaben und Symbole in meinen Gedanken zu echten Wörtern formten, als würde ich eine neue Sprache erlernen.

'Auch die Umgebung kann sie erkunden und die Magie frei nutzen, denn die Auserwählte ist von meinem königlichen Blut.
Die größte Kraft, die sie besitzt, ist aber die der Lebensenergie.
Nehmen und geben, ist es, was jeder begehrt. Sie ist die Erste und zum Kämpfen geboren.
Nimm dein Erbe an, Königin.'
Ich stockte und die Luft wurde meinem Körper entzogen, weil er mich persönlich angesprochen hatte.
Diese Zeichen waren nur für mich gedacht. Niemand sollte von meinen Kräften erfahren, sie blieben ein Geheimnis.

Nun sollte ich mein Erbe annehmen. Das, was er mir geschenkt hatte, und das, was mir immer bestimmt war. Wollte ich das den?
Wollte ich alle diese Mächte haben? Ich war scheinbar zum Kämpfen geboren, aber niemand hatte gefragt, ob ich das überhaupt wollte.
Kämpfen war nicht nur Siegen.
Es war auch Leid, Schmerz ind ein großer Druck, den man immer mit sich herumtragen musste.
Nimm dein Erbe an, Königin, flogen mir Hannibal Traumfängers  drängende Worte erneut durch den Kopf und ich atmete tief Luft ein. Wenn ich bereit war, würde ich es tun. Entschlossen blinzelte ich aufkommende Tränen weg. Dann würde ich es schaffen.
Hannibal und Richard Traumfänger hatten mir beide eine persönliche Nachricht geschrieben.
Sie mussten über etwas aus der Zukunft informiert sein, von dem ich nichts wusste.
Etwas, das ganz bestimmt nicht gut war und ich konnte mir schon denken, dass es mit unserem größtem Feind zu tun hatte.

Ich wollte die Illusion gerade auflösen, als mir die nächste Überschrift ins Auge fiel: 'Träumer'. Die Kraft von Gabe Hanwen und Richard Traumfänger weckte schlagartig mein Interesse, sodass ich noch eine Seite weiter blätterte und die nächsten Zeilen las.
'Die Macht des Träumens ist auch nur königlichen Blutes bestimmt.
Jedoch besteht sie auf beiden Seiten. Gut und Böse. Licht und Schatten.
Zu den Kräften gehören das Verschicken von Träumen oder Visionen in der Nacht, so wie auch am Tage und Konversationen zwischen einem Träumer und dem Besuchten.' Die nächsten verschnörkelten Zeichen aus Hannibal Traumfängers Feder tanzten wieder vor meinen Augen umher und bildeten Worte.
'Somit gehört auch die Erkundung der Umgebung zu der königlichen Kraft. In unserer Linie wird es jemanden geben, der Magie nehmen und geben kann, so wie ich es mir möglich ist. Die königliche Macht der Gegner bleibt uns leider verborgen.'

Woher konnte er das alles wissen?
Ich verstand wirklich nicht, woher er seine Informationen vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten genommen hatte.
Nun wusste ich um die Macht meines Vaters. Er hätte mir helfen können, wenn er noch gelebt hätte. Wäre dazu befähigt gewesen, den Bösen einfach ihre Macht zu nehmen.
Ich ließ die Zettel los, sodass sie verblassten und sich wieder im Kasten befanden, wo sie eigentlich auch die ganze Zeit gewesen waren. Danach drehte ich mich um und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte viel neues erfahren, das mir sicher irgendwie nützlich sein konnte, auch wenn ich nicht alles sofort verstand.

***

Mit dem Klicken des Lichtschalters erhellte sich die Sporthalle.
Ich stellte meine Wasserflasche wie jeden Tag neben die Bank und dehnte meinen Körper, um ihn auf das Trainig vorzubereiten.
Nachdem ich mit dem Aufwärmen fertig war, stellte ich mich unschlüssig in die Mitte der Halle. Immer alleine zu trainieren wurde mit der Zeit auch weniger abwechslungsreich und aufregend, es war eher ein täglicher Ritus, aber ich hatte ja niemanden, der mit mir oder gegen mich kämpfen wollte.
Jen stand nicht besonders auf Zweikampf, Marc würde niemals gegen mich ankommen, Hannes war zu den Ausgeschlossenen übergelaufen, Yianschu war tod und Luis hasste mich wahrscheinlich, weil ich Depp mit ihm schlussgemacht hatte. Meine Freunde konnte man wirklich an einer Hand abzählen.
Vielleicht kam das auch daher, dass ich anders war.
Anders zu sein und nicht dazuzugehören, zählte zu einer meiner größten Stärken.

Ich seufzte laut und stellte drei Kampfpuppen in die Mitte der Halle. Anschließend zählte ich 8 Schritte ab, um mit Kreide einen weißen Strich auf den Boden zu malen. Er wurde zwar ein wenig krumm, aber das würde mich nicht stören. Es ging hauptsächlich um das Treffen, wobei ich mir zugestehen musste, dass ich im Dolchwurf alles andere als schlecht war. Ich würde es schon fast als meine Lieblingstechnik bezeichnen, denn sie hatte mir schon oft geholfen und man konnte jemanden gezielt treffen, selbst wenn man durch einen Abstand getrennt war. Zusätzlich war ein Dolch relativ klein und praktisch zum mitnehmen. Mit meinem schlichten, silbernen Dolch, der sich eigentlich immer in meinem Stiefel befand, fühlte ich mich einfach sicherer.
Ich drehte noch einen kurzen Moment meine Schultern und dehnte meine Handgelenke.
Dann war ich für die Übung bereit.

Entschlossen schnappte ich mir drei silber glänzende Dolche von der Wand und wog sie in meinen Händen. Alle hatten unterschiedliche Gravuren, die kunstvoll in den Halter hineingeritzt waren.
Langsam nahm ich zwei der Waffen in meine linke Hand und den letzten in meine Rechte, um ihn zu werfen. Ich drückte meine Zähne fest aufeineinander, damit ich das laute Regengeräusch, das bis hier drinnen zu vernehmen war, ausblenden konnte, denn die Tropfen prasselten unaufhörlich gegen die Scheiben an der Decke.
Ich hatte zwar schon bei stärkeren Geräuschen geworfen, aber heute irritierte mich das Prasseln, das als einzieges Geräusch die abendliche Stille durchschnitt.
Es war schon sehr spät und außer mir war niemand mehr in der Sporthalle. Luis schien die Zeiten zu meiden, in denen ich hier war, wahrscheinlich weil ich ihm nichts mehr bedeutete und er sein altes Leben wieder aufgenommen hatte, wie Jen es mir immer predigte. Um Luis aus meinen Gedanken zu vertreiben, presste ich meine Kiefer noch stärker aufeinander. Es war meine Schuld, dass unsere Beziehung ein Ende gefunden hatte.
Wieso schmerzte es dann immer noch so, wenn ich ihn sah oder auch nur an ihn dachte?
Ich wollte ihn unbedingt zurück, aber mein stures Gewissen hielt mich davon ab. Er lebte, es ging ihm gut ohne mich und ich würde ihn durch die Trennung nie verletzten.
Nie könnte ich mir verzeihen, wenn er wegen mir leiden müsste.

Ich hob meine Hand und zielte eine Milisekunde.
Der Dolch drehte sich im Flug und traf genau in den Kopf der ersten Puppe.
Ich drehte mich ein Stück zur zweiten Puppe, war immernoch in Kampf Haltung.
Vielleicht gab es ja doch einen Weg. Es musste einen Weg geben, wie man mit meiner schrecklichen Macht umging.
Der zweite Dolch segelte zielsicher in den Kopf der zweiten Puppe.
Selbst jetzt war ich noch konzentriert genug. Das Kämpfen lag mir doch auf eine gewisse Weise im Blut. Vielleicht hatte Hannibal Traumfänger es mir vererbt... oder mein Vater.
Sie waren stark und kämpften ihr ganzes Leben.
Das war genau das, was ich auch tun würde. Ja, ich würde diesen Weg noch finden. Irgendwann.
Mit einem Ausfallschritt, der gleichzeitig mit meinem letzten Wurf geschah, schmiss ich den Dolch mit voller Wucht nach vorne, sodass er sich tief in das Herz der dritten Puppe bohrte.
Es war nicht unmöglich, oder?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top