Kapitel 12
Der Schnee fiel immer noch melancholisch aus den Wolken und hatte inzwischen eine beachtlich dicke Schneeschicht auf dem nicht mehr zu sehenden, dunklen Boden gebildet. Es hörte einfach nicht auf, wollte wohl die ganze Welt einschneien.
Immerhin war ich drinnen, im warmen, gemütlichen Zimmer meiner Tante, wo es mollig warm war, denn die Heizung lief auf voller Stufe. Es roch nach altem Papier, frischem Rosmarin und Kerzenwachs der Kerzen, die unaufhörlich auf dem Schreibtisch meiner Tante auf und ab flackerten.
Ich hängte meinen weichen Schal hinter mich auf den Stuhl und genoss einen Moment der Entspannung und der Ruhe. Draußen war es so kalt gewesen, dass ich schon auf dem Weg von meinem Wohnheim bis in das Schulgebäude kalte Füße bekommen hatte; wobei ich mir aber eingestehen musste, dass ich wirklich eine Frostbäule war. Früher hatte meine Mutter mir während der Winters immer jeden Abend ein Kirschkernkissen in der Mikrowelle erhitzt und mir zwei oder drei Decken umgelegt, sodass ich nicht mehr fror. Wie sehr vermisste ich dieses abendliche Ritual jetzt.
Ich hoffte nur, dass ich in meinem bereits rausgelegtem Partyoutfit heute Abend nicht zu einem Eisklotz werden würde, aber beim Tanzen würde mir sicher wieder warm werden. Als ich das dumpfe Geräusch eines Stuhls, der zurückgeschoben wurde, hörte, blickte ich verwundert auf. Meine Tante zog neben mir ihre warme, olivfarbene Daunenjacke an und machte sie sorgfältig zu.
Stirnrunzelnd verfolgte ich ihre geschickten Handbewegungen. Ich hatte mich doch gerade so gemütlich in diesen Sessel gesetzt. Wieso mussten wir jetzt wieder rausgehen?
'Gehen wir raus?', fragte ich und konnte mir dabei einen mürrischen Unterton nicht verkneifen.
'Du nicht.', sagte meine Tante geheimnisvoll lächelnd. Verwirrt hielt ich inne. 'Wollten wir nicht an meiner Kraft arbeiten?'
Mrs. Infusio schob sich mehrere braune Haarsträhnen, die aus ihrem lockeren Dutt gefallen waren, hinter die Ohren. Erst dann antwortete sie mir.
'Das machen wir auch. Du schickst mich raus und lässt mich einen Eiszapfen von einer der Bänke abbrechen und hier herauf holen. Dabei wirst du mich nicht sehen und wenn du mir nichts mehr vorgibst, dann werde ich mich keinen Millimeter bewegen. Also streng dich an.'
Ihre Forderung war von einem Augenblick auf den anderen wieder im Befehlston von gestern gesprochen und ich sah sie verunsichert und um ihre Sicherheit besorgt von der Seite an.
'Ich weiß nicht, ob das klappt. Nachher läufst du gegen eine Wand.'
Meine Tante lachte vergnügt 'Es gibt schlimmeres als eine kleine Beule andere Lehrer, die mich für verückt erklären.'
Na gut, dann mal los.
Während ich meine Tante mit intensivem Blick fixierte, bildete sich in meinem Kopf schon der ungefähre Plan unserer Schule, die ich inzwischen ziemlich gut kannte und als er fertig war, zerstörte ich einfach Mrs. Infusios Gedankenmauer.
Kurz darauf setzte sie sich auch schon in Bewegung. Mein Blick folgte ihr noch, während sie mechanisch die Tür öffnete, hinausragt und sie ordentlich wieder hinter sich schloss. Ich ließ Mrs. Infusio dem großen Gang folgen, schickte ihr die Richtungen in Gedanken zu, wobei es ziemlich komisch aussehen musste, wenn sie an jeder Ecke scharf auf dem Absatz abbog. Bei der Treppe gab ich mir besonders Mühe und steuerte sie mit einem schnellen Laufschritt, der sie einmal fast stolpern ließ.
Sobald sie draußen angekommen war, spürte ich einen Druck, der sich gegen unsere Verbindung drückte. Sie versuchte die Gedankenverschickung aufzulösen. Stur hielt ich dagegen und
sammelte ich meine volle Konzentration, um bloß nicht aus ihren Gedanken zu verschwinden.
Nachdem sie nicht mit dem Protest aufhören wollte, baute ich mir einfach eine eigene Mauer um ihre schutzmauer herum und nachdem die gedankliche Mauer vollendet war, spürte ich nichts mehr von dem Druck und war mir doch sicher, dass sie nicht einfach aufgehört hatte.
Mit dieser Methode könnte ich in jedem Kopf die Kontrolle übernehmen, ein gruseliger Gedanke, aber nicht unbedingt schlecht...
Angestrengt bewegte ich Mrs. Infusio zu einer der Bänke und pflanzte ihr in den Kopf, dass sie selbstständig einen Eiszapfen abreißen sollte, da ich diesen ja nicht sehen konnte. Schnell und Gehorsam führte sie die Aufgabe aus und blieb bewegungslos stehen, als sie fertig war.
Ich schickte sie wieder nach oben und wartete gespannt, ob sie auch wirklich einen Eiszapfen dabei hatte. Als die Tür aufging und meine Tante mit einem kleinen, spitzen Zapfen Eis in ihrer Hand auftauchte, grinste ich. Das war schonmal geschafft. Vorsichtig und darauf bedacht, ihr nicht weh zu tun, wollte ich mich mitsamt meiner Mauer aus ihrem Kopf entfernen, doch sie schüttelte angespannt und voller Anstrengung wild und abgehackt den Kopf. Schnell räumte ich ihr Platz ein, damit sie sprechen konnte.
'Bleibe noch einen Moment in meinem Kopf. Erschaffe einen warmen Wind und lasse diesen Eiszapfen auftauen.' Sie deutete mit dem Kopf auf das Eis in ihre Hand und ich beschwor ich einen heftigen Wind auf, der meine braunen Haare ein Stück in die Luft schweben ließ. Mit allen warmen Gedanken, die ich noch übrig hatte, stopfte ich ihn voll, sodass er zielstrebig durch das Zimmer flog und mit voller Wucht gegen den Eiszapfen prallte.
Der Wind musste das Eis nicht lange umhüllen, denn er war viel stärker als ich ihn einstellen wollte.
Meine Tante stolperte von seiner Wucht ein Stück zurück, nickte aber bedacht, sobald der letzte Tropfen Wasser von ihrer Hand fiel. Insgeheim bedauerte ich den gold verschnörkelten, dunkelgrünen Teppich, der nun an einer Stelle ganz nass war.
'Ich habe mir schon fast gedacht, dass das illusionieren von Naturereignissen schwieriger sein wird.', erklärte sie, denn von mir gewährten Platz nutzend.
'Aber ist das nicht die Kraft eines Ratsmitgliedes?', fragte ich vage, weil mir irgendetwas aus dem Unterricht im Kopf hängen geblieben war. Jemand der die Kraft der Natur hatte. Sollten sich unsere Kräfte überschneiden?
Meine Tante legte nachdenklich den Kopf schräg, als hätte sie sich das auch schon gefragt.
'Ja, genau, das Kontrollieren der Natur ist die Kraft von Gabriela Sternschnuppe. Aber sie arbeitet eher mit der Natur. Sie nimmt alles, was ihre Umgebung bietet und verbindet sie zu den tollsten Dingen. Außerdem.', Mrs. Infusio stockte kurz, als wäre ihr der nächste Satz unangenehm, 'Benutzt sie den Wind wirklich.'
Ja, meiner war ja nur eine Illusion, eine Kopie, eine Fälschung, ein bloßer Schein. Ihre Worte erinnerte mich wieder daran, wie Sally meine Kraft kontrollierte, ich senkte beschämt den Kopf und entfernte mich vollständig aus Mrs. Infusios Gedanken.
Sie versuchte mich zu trösten. 'Das ist alles andere als schlecht, Nia. Jeder hat schließlich seine eigene individuelle Kraft und deine ist keinesfalls schlechter; sieh doch, was du schon erreicht hast. Die Frage ist lediglich, inwieweit sich deine Illusionen von echten Sachen unterscheiden. Auf mich wirken sie schon ziemlich echt, weil man sie mit allen Sinnen erfahren kann, und am Beispiel des Windes haben wir ja gesehen, dass du auch etwas mit den Illusionen bewirken kannst. Sie sind also einsetzbar wie echte Elemente.' Ich runzelte die Stirn, vertrieb Sallys Beschimpfungen vollständig aus meinem Kopf und biss mir nachdenklich auf die Lippen, da ich noch nie wirklich über dieses Thema nachgedacht hatte.
'Hälst du jetzt die Illusion des geschmolzenen Eiszapfens aufrecht?', fragte sie interessiert, worauf ich einen Moment schweigen musste. Ich spürte keine aktive Anstrengung meiner Kraft, war mir aber aus irgendeinem Grund sicher, dass ich die Illusion noch nicht aufgelöst hatte, dass ich sie eher automatisch festhielt.
'Ich glaube schon.', meinte ich also ehrlich.
'Wo ist die Grenze?', murmelte Mrs. Infusio leise und mehr zu sich selbst als zu mir. Sie schlüpfte wieder aus ihrer wolligen Jacke und suchte dann sich die kalten Finger reibend in ihrem überfüllten, fast platzenden Bücherregal nach einem bestimmten Buch. 'Wo ist es denn?', hörte ich sie flüstern, während ich selbst über diese entscheidende Frage sinnierte.
Grenzen, wo waren die?
Was konnte ich nicht erschaffen?
'Ah, da bist du ja.', murmelte meine Tante leise, hatte das Buch schneller gefunden, als ich es in dem chaotischen Regal vermutet hätte, und hob nun ein altes, fliederfarbendes Buch aus dem Regal, das in einem guten Zustand war. Entweder es war noch nicht sonderlich alt oder meine Tante benutzte es oft und kümmerte sich um seine Erhaltung.
Gespannt wartete ich auf ihre Erzählstimme, die sie immer annahm, wenn es etwas zu ergründen gab, doch sie legte das Buch nur schleichend langsam auf den Tisch und blätterte Seite für Seite um.
Kurz darauf schüttelte sie sanft den Kopf, drehte sie zu mir um und sah mich mit milchigem Blick an, wobei ihr Blick eher durch mich hindurch ging. Bevor sie sprach, hob sie hilflos die Hände.
'Deine Kraft ist so selten, dass es eigentlich gar keine Informationen dazu gibt, alles nur vage Erklärungen, die gerade mal einen Bruchteil deiner Macht streifen. So kommen wir einfach nicht weiter.'
'Aber was ist mit dem Buch, in dem stand, dass zu der Kraft der Illusionen das Gedankenverschicken gehört.
Das haben wir doch am Anfang geübt, weil es einfacher schien.', fragte ich bestimmt und erinnerte mich an die Zeit, zu der ich noch eine Blockade gegenüber meiner Illusionen Kraft hatte. Damals, und es schien in einer völlig anderen Zeit zu sein, war ich noch nicht mit Luis zusammen und ohne ihn hätte ich vielleicht nie meine Kraft kennenlernen dürfen.
Schnell vertrieb ich den abgedrifteten Gedanken an ihn und beobachtete wieder meine Tante, die sich unschlüssig die Brille auf der Nase ein Stück höher schob und sich zu fragen schien, ob sie mir etwas dazu anvertrauen konnte.
'Nun ja, das war etwas komplizierter.
Ich fand die Info, das Illusionen mit dem Schicken von Gedanken verbunden waren in einem kleinen, roten Buch im Stadtarchiv.
Ich hatte mir eine Genehmigung geholt, dort hineinzugehen und mich in bestimmten Bereichen ein wenig umzuschauen. Da es dort sonst nichts nachvollziehbares über Illusionen gab, dachte ich, dass es nicht schaden könnte, das mit den Gedanken auszuprobieren.', erklärte sie sich Stirnrunzelnd.
'Wer sollte so etwas wissen?', fragte ich sachlich, ohne eine Antwort zu erwarten. Es war eher ein zaghafter Hilferuf bei unserem Problem, doch Mrs. Infusio atmete tief ein und aus, als hätte sie noch etwas unausgesprochen gelassen.
'Das war eigentlich der Grund, weshalb ich die Stichpunkte so ernst nahm. Der Verfasser des Buches war als H.T. gekennzeichnet.'
Noch bevor sie seinen Namen aussprach, weiteten sich meine Augen erschrocken.
'Hannibal Traumfänger.'
Es führte alles auf ihn zurück.
Er, als mein Vorfahre, hatte über meine Kraft bescheid gewusst.
Aber wie sollte das möglich sein?
Er konnte schließlich nicht in die Zukunft sehen. Abgesehen davon, lag seine Zeit schon viel, viel zu weit zurück.
'Stand dort sonst noch etwas interessantes?", fragte ich neugierig, war nun Feuer und Flamme für dieses kleine, rote Buch.
Meine Tante hob entschuldigend die Schultern.
'Nein, hinter dieser Information standen nur ein paar Zeichen, die ich nicht entziffern konnte und dann fing das nächste Kapitel an.'
Da musste noch mehr sein.
Wenn er über mit meiner Kraft vertraut war, hatte er dann nicht auch noch andere, bedeutsamere Informationen? Vielleicht würde ich in diesem Buch ja noch ein paar hilfreiche Zeilen finden.
Rasch fasste ich einen Entschluss.
Ich musste sobald wie möglich ins Stadtarchiv.
'Aber was soll man da schon machen. Ich finde erst einmal heraus, wo deine Grenzen liegen, ein Gott solle mir dabei behilflich sein, und du darfst in dein Wohnheim.
Eine kleine Pause wird deiner Kraft nicht schaden, zumal wir sie ja gestern schon strapaziert haben, und morgen machen wir voller Elan weiter.'
Ich nickte abgelenkt, war in Gedanken noch bei Hannibal Traumfänger stehen geblieben.
Mein Vorfahre, so ein mächtiger Mann in meiner Ahnenreihe.
Das war immernoch unfassbar.
'Dann bis morgen in der Sporthalle. Dort führen wir das Training fort, egal wie viel ich heruasfinden konnte.', setzte meine Tante nachträglich hinzu und seufzte erschöpft, was in mir ein leises Schuldgefühl verursachte.
Das geringe vorhandene Wissen über meine Kraft zu sammeln, schien ganz schön viel Zeit in Anspruch zu nehmen.
Wahrscheinlich hätte ich ihr danken müssen, aber natürlich vergaß ich das mal wieder. An solche Dinge denkt man doch immer zuletzt.
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