Kapitel 10
Wo war ich?
Dunkle, dichte Rauchschwaden woben sich wie eine endlose, für die strahlende Sonne undurchdringliche Wolkenschicht an einem tristen, grauen Wintertag durch die Luft und erschwerten mir das Atmen.
Ich keuchte laut, um frische Luft in meine ausgedorrten Lungen zu ziehen, doch da war lediglich der penetrante Gestank nach Feuer und Verwesung.
Ich bewegte mich vorsichtig ein paar Schritte nach vorne und augenblicklich begann der Boden mich einzuziehen. Erschrocken schritt ich wieder zurück und blickte nach unten, um die Ursache für den drängenden Sog zu finden.
Meine Augen weiteren sich als ich das warnende Rot zwischen den Rauchwolken aufblitzen sah.
Dickflüssiges Blut floss über den Boden, wirbelte in kleinen Bögen unruhig hin und her und riss alles mit sich, was länger als wenige Sekunden im roten Sog verweilte.
Ich musste weg hier, sofort.
'Da bist du ja Nia.', sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich erkannte sie sofort und Kälte durchfuhr mich. Es konnte nicht sein, dass sie es war.
Sie war doch tod. Ich, ich hatte doch...
Ruckartig drehte ich mich um und blickte in rauchig graue, blutunterlaufende Augen. Schmerz, Qualen und Rache glühten ihn ihnen, doch sie wirkten verschleierter als sonst, schienen ein Spiegel des Rauchnebels zu sein.
Mein Puls beschleunigte sich auf das Doppelte, aber ich blieb tapfer stehen, durfte bloß keine Angst zeigen.
Sie musste tot sein, ich hatte ihre Lebensenergie doch bis auf den letzten Funken aus ihr heraus gezogen.
'Du fragst dich, wieso noch Leben in mir steckt, du Monster?', fragte Gesine Hanwen mit einem spöttischen Unterton und ihre toten Augen schienen mich auszulachen.
Ich wollte ihr nicht antworten, selbst wenn ich mich diese Frage wirklich gefragt hatte, wollte nicht zugeben, dass sie mich durchschaut hatte.
'Wir sind hier in der Hölle.'
Der Ort, an den meine Freunde mich geschickt hatten, weil ich sie umgebracht hatte.
Der Ort an dem die Bösen unterkamen, wenn sie starben.
Der Ort, den auch ich besuchen würde, wenn ich umkam?
Heiße Angst durchfuhr mich, denn ich wollte nicht an diesem schrecklichen Ort enden, falls es ihn den gab, falls das nicht wieder nur meine verrückte Einbildung war.
'Der Teufel gab mir ein wenig von seiner unendlichen Lebensenergie, damit ich dich vernichten kann, denn du gefällst ihm nicht, weil du zwar ein schrecklicher Mensch bist, aber doch ein Gewählter, der gegen meinen Vater kämpft und Gewählte sind hier nicht besonders willkommen, vor allem nicht du, Königin der Schwachen.'
Ein schallendes Lachen durchfuhr sie wie ein Zittern und siegesgewiss grinste sie mich an.
'Du magst mich auf der Erde geschlagen haben, aber das hier ist mein Terretorium.'
Dann schlug sie mir mit der Faust fest in den Magen. Ich unterdrückte ein Stöhnen und stolperte ein paar Schritte in das Blut hinein. Ein schmatzendes Geräusch erklang unter meinen Füßen und der nächste Schlag traf mich unerwartet am Hinterkopf.
Ich fiel wieder nach vorne und klatschte in das Blut, das mich immer stärker nach unten zog.
Um in Bewegung zu bleiben und nicht im dunkelroten Blut zu versinken, drehte ich mich um. Mit meinem rechten Fuß holte ich hilflos aus und traf Gesine Hanwen am Schienenbein.
Sie lachte nur über meinen Abwehrversuch, während das nun viel zu feste Blut mich zunehmend tiefer nach unten zog. Als letzten Versuch zauberte ich einen Dolch in meine Hand, holte aus und warf ihn. Pfeilschnell wie ein Blitz traf er sein Ziel.
Knapp neben Gesines Kopf bohrte er sich in ihre Schulter. Sofort tratrn Überraschung und Schmerz in ihre Augen.
Sie hatte wohl nicht gewusst, dass ich meine Kräfte hier, wo auch immer wir wirklich waren, benutzen konnte. Der Überraschungsmoment war aber nicht lange auf meiner Seite, denn sie fing sich viel zu schnell wieder.
Ihr Körper schoss zu mir herunter, sie packte meinen Kopf mit beiden Händen und drückte ihn weiter in die Blutmasse. Ich schnappte noch einmal nach Luft, bevor ich ganz im Blut versank.
Gleichzeitig griff meine Kraft nach ihrer Lebensenergie. Es geschah ohne mein Zutun. Ich wollte sie nicht wieder töten, aber ich konnte es nicht kontrollieren, dafür waren mein Instinkt und mein Lebenswille zu stark. Sie hatte nur einen ganz kleinen Funken, den des Teufels, wenn ich ihren Worten glauben schenken durfte.
Er war ganz einfach sie ihr zu stehlen und es gab kein Hindernis für mich, sodass sie nach einer weiteren Sekunde, die sich für mich, blind im Sog gefangen, wie eine Stunde anfühlte, fiel sie in sich zusammen. Ich versuchte Luft zu holen, aber es drang nur warmes Blut in meinen Mund. Metallisches, ekelerregendes Blut.
Trotzdem konnte ich sie sehen, denn ihr Bild hatte sich bereits in die Innenseite meiner Augenlieder gebrannt. Bevor ich noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, fiel ich nach unten in eine bodenlose Tiefe. Ich hatte wohl die Blutschicht durchbrochen und strampelte nun in der Luft, die Augen noch fest zusammengekniffen, den Mund noch voller fremdem Blut.
Als ich aufkam, ertönte an meinem Rücken ein lauten Knacks, der den Bruch meiner Wirbelsäule ankündigte.
Schmerz durchschoss meinen ganzen Körper und ich unterdrückte nur schwer einen Aufschrei.
Ich konnte nicht mehr aufstehen, mich nicht mehr bewegen, nicht einmal mehr meine Beine spüren.
Ungewollt blieb ich also liegen und versuchte so ruhig wie möglich zu atmen. 'Du hast nun einen Teil von meiner Lebensenergie in dir. Aber keine Sorge, es gibt einige schreckliche Methoden, die dir diesen austreiben. Es wäre auch zu schade, dich einfach nur umzubringen und wir haben alle Zeit der Welt hier.', erklang die schrecklichste Stimme, die ich je gehört hatte über mir. Sie war merkwürdig verzerrt und voller Hass und Hohn, sodass mir viele kleine Schauder über den oberen Rücken rieselten.
Starr blickte ich an die Decke, mein Kopf war leer, da war nur Angst.
Die Decke weit über mir war aus Blut, genau wie der Boden zuvor.
Das hier konnte nicht meine Zukunft sein. Es dürfte einfach nicht.
***
Ich rieb mir müde meinen schmerzenden Kopf und atmete zischend aus. Diese Kopfschmerzen würden wohl nie aufhören.
Ich konnte mich nur schwer konzentrieren, während ich das matematische Tafelbild abzeichnete, denn die vielen Zahlen und Buchstaben verschwammen vor meinen Augen, tanzten wild umher und schienen mich auszulachen, sodass ich ein paar Mal zwanghaft blinzeln musste, bevor ich wieder klar sehen konnte.
Genervt biss ich die Zähne zusammen und atmete einmal tief ein, um den langfristigen Schlafmangel und besonders den letzten Traum aus meinem Kopf zu vertreiben. Nichts von dem, was ich in der Hölle erlebt hatte, ließ sich in eine finstere Ecke in meinem Kopf zurückschieben, selbst in keinen von meinen vielen Orten, in denen ich die Albträume, die mich Nacht für Nacht heimsuchten, sonst aufbewahrte. Der letzte Traum hatte mir gezeigt, dass alles einen gewissen Preis hatte und die Folge jeder Entscheidung in der Zukunft lag. Es mochte vielleicht keine Hölle geben, aber ich war eine Mörderin und das konnte ich nicht einfach abschütteln wie kaltes Wasser oder loswerden wie eine nervige Fliege. Und vielleicht würden meine Eltern, wo auch immer sie waren, jetzt nicht mehr auf mich warten.
Außerdem war jede Berührung eine Qual, denn ich konnte jederzeit wieder jemanden umbringen, wenn ich mich nicht bald wieder unter kontrolle hatte. Das hatte mir der Traum nur allzu deutlich gemacht.
Hatte ich das verdient, was mir wohlmöglich bevorstand? War es nicht eigentlich meine mordlüsterne, unbarmherzige Kraft, die mich verriet? Ich versuchte doch immer das zu tun, was richtig war. Reichte das nicht oder war das Schicksal einfach nicht auf meiner Seite? Verwirrung schwob durch meinen Kopf und ich formte ein schwarzes Wollknoll aus den vielen Gedankenfäden, konnte wie eine verspielte Katze nur schwer von diesem verworrenen Knäul loslassen.
'Weißt du die Antwort, Nia?', fragte Mr. Wieland laut in meine Richtung.
Ich zuckte erschrocken zusammen und blickte entschuldigend zu ihm auf. Dann sah ich rasch zur Tafel, an der eine komplizierte Rechnung stand.
Eigentlich war ich nicht schlecht in Mathe, doch jetzt verschwamm die Gleichung vor meinen Augen und auch der Klassenraum schwankte hin und her wie ein Boot.
Ich kniff die Augen zusammen, um klarer sehen zu können, aber da war immer nur dieses Bild von Blut in meinem Kopf. Blut in dem ich versank.
'Es tut mir leid. Ich weiß es nicht.', murmelte ich leise und Mr. Wieland schüttelte bedauernd den Kopf, bevor er eher aufrichtig beubruhigt als enttäuscht antwortete.
'Du bist heute nicht bei der Sache. Pass bitte nächstes Mal besser auf, weil das ein wichtiges Kapitel ist.'
'Ja, natürlich.', meinte ich kleinlaut und senkte den Kopf, was sonst so gar nicht zu mir passte.
***
Schnell packte ich meine Sachen und verschwand aus dem Raum, nachdem der Gong geläutet hatte. Hoffentlich konnte Jen mich ein wenig aufheitern.
Meine Schritte waren schnell, als ich durch die Aula ging und draußen war ich schon etwas ruhiger.
Ich atmete die frische Luft ein. Kein Rauch. Alles war normal.
Es war schließlich nur ein Traum. Leider hatte ich diesen Gedanken schon vor vielen Nächten aufgegeben.
Die kahlen Bäume wehten frierend ihm Wind und sanft fallender, weißer Schnee rieselte vom Himmel, versank aber im Matsch des Boden ohne eine Schneeschicht zu bilden.
Ich zitterte wegen der Kälte und kuschelte mich enger meinen warmen, dunkelvioletten Schal.
Ohne dieses Stück Stoff hätte ich den Winter bisher ganz sicher nicht überlebt. Dafür war es einfach zu kalt.
Ich schulterte meine Tasche, drückte die Schultern zurück und folgte der Abzweigung des Weges, die zum Café führte. Jen und ich wollten es uns vor meinem Kraftunterricht mit meiner Tante noch ein wenig gemütlich machen.
Wie ich den Kraftunterricht selbst schaffen sollte, war mir auch noch ein Rätsel, aber vielleicht funktionierte es ja mit zwei Kaffe intus und Jens guter Laune im Gepäck.
Ein kleiner, rot braun gefleckter Vogel suchte nur ein paar Meter von mir entfernt nach Nahrung, zwitscherte einen lieblichen Ton und ich fragte mich wirklich, wie diese kleinen Tiere den harten Winter überlebten.
Als ich hier ankam, hätte ich wirklich nicht gedacht, das es ein so schön eingerichtetes, gemütliches Café mit Snacks, heißen Getränken und kostenlosem Wlan auf dem Campus gab. Als ich eintrat und die schwere, dunkle Tüt hinter mir schloss, wehten mir wohlige Wärme und ein Duft nach Kuchen entgegen. Ein Stück des himmlischen Apfelkuchen, den sie hier servierten, könnte ich jetzt gut vertragen.
Jen winkte mir schon von einer kleinen, etwas abseits gelegenen Tischecke zu. Ich lächelte eine Spur feöhlicher, kam rasch zu ihr ohne auf die anderen Anwesenden zu achten, zog meine Jacke und meinen Schal aus und setzte mich endlich zwischen die Menge der buntgemischten, unterschiedlich großen Kissen aus aller Welt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top