Das erste, was Joel sah, als er aufwachte, war Lilli. Sie sah ihn an, erfreut, dass er wach war. Beide waren gefesselt. Sie saßen auf einem Bett, jeweils an verschiedenen Enden. Der erfreute Blick von Lilli verschwand. "Vincent meinte, er kann nicht riskieren, mich länger leben zu lassen", sagte sie. "Was ist mit Joshua?", fragte Joel. "Wenn es nach ihm ginge, wäre ich schon längst tot", antwortete Lilli, "Er hat zu große Angst, dass ich mein Gedächtnis zurückbekommen könnte. Keine Ahnung, was daran so schlimm sein soll." "Dass du sagen könntest, dass es kein Unfall war", sagte Joel, "Er hat deine Eltern gezielt getötet. Und dich auch." Joshua und Vincent kamen rein. "Schlauer Junge", sagte Joshua, "Bringt dir nur nichts mehr." "Ich habe gar nichts herausgefunden", sagte Joel, "Ich konnte bisher nur begründete Theorien aufstellen. Sagt ihr doch mal: Was genau ist bei dem Unfall wirklich passiert?" "Gezielter Mord, da hast du schon ganz recht", antwortete Joshua, "Als ich wegfahren wollte, habe ich gesehen, dass Lilli sich bewegt hat. Ich hatte extra für den Fall ein scharfes Küchenmesser mitgenommen." Er wandte sich Lilli zu. "Wie konntest du trotzdem überleben?" Lilli antwortete nicht. "Ich glaube, das müssen wir jetzt nicht unbedingt besprechen", sagte Joel, "Ich würde dann jetzt gehen." Er begann, seine Beine zu entfesseln. Joshua und Vincent starrten erst auf die fast unsichtbare, regenbogenfarbene Barriere, die sich um die beiden zog. Dann auf Joels Hände, die offensichtlich frei waren. "Wie hast du dich befreit?", fragte Vincent. "Ich übe das", antwortete Joel, "Hab sogar gelernt, meine Magie dafür effektiv einzusetzen. Hinterfragt es einfach nicht." Er krabbelte zu Lilli und entfesselte auch sie. "Tschüss." Die beiden gingen raus. Dabei fingen sie noch ganz böse Blicke von Joshua und Vincent ein, aber das ignorierten sie einfach. Sie verließen die Wohnung und gingen die Treppen runter Richtung Ausgang. "Stop!" Sie hatten gerade vielleicht die Hälfte vom Treppenhaus geschafft. Joel befolgte die Anweisung. Nicht, weil er es wollte, sondern weil er die Person, zu der die Stimme gehörte, vor ihnen vermutete. Auch wenn er niemanden sah. Lilli sah sich irritiert um. Joels Blick war nach vorne gerichtet. Mittlerweile hatte er die Stimme erkannt. "Was willst du?", fragte er. "Das hat Johanna dir doch schon gesagt", antwortete die Stimme. "Ich weiß", sagte Joel, "Aber was willst du? Was bringt es dir, mich zu töten?" "Wie gesagt, Johanna hat es dir bereits gesagt." Joel war etwas verwirrt. "Ich gebe dir 30 Sekunden, darüber nachzudenken", sagte die Stimme, "Danach töte ich dich." Sie fing an, von 30 herunter zu zählen. Sie war überdurchschnittlich gut darin, Sekunden zu zählen. Bei 25 nahm Lilli Joels Hand. Bei 20 sagte sie: "Zuerst musst du mich töten!" Das brachte die Stimme dazu, den Countdown abzubrechen. Joel war überzeugt, dass sie im Kopf noch weiter zählte. "Das ist ein Risiko, dass du nicht eingehen solltest, Lilli", sagte die Stimme, "Was meinst du denn, wer Vincent davon überzeugt hat, es könnte sinnvoll sein, dich leben zu lassen?" Das kam unerwartet. "Haut ab!", befahl die Stimme, "Aber Joel: Glaub bloß nicht, dass das hiermit vorbei ist." Joel verstand gar nichts mehr. Aber das ließ er sich nicht zweimal sagen.

Joel und Lilli rannten die ganze Strecke bis zu Familie Kreh. Sie berichteten Katrin und Biene, was passiert war. "Das verstehe ich nicht", sagte Katrin, "Warum hat die Stimme euch gehen lassen?" "Ich verstehe es auch nicht", antwortete Joel, "Sie schien auf keinem Fall Lilli töten zu wollen." "Was unternehmen wir jetzt wegen Joshua und Vincent?", fragte Biene. "Die Polizei wird den Rest erledigen", antwortete Joel, "Ich gehe gleich zu Herr Ment." "Ich hätte vorher noch was", sagte Lilli, "Vincent wollte mich nur leben lassen, wenn ich ihm Informationen gebe. Informationen zu den 8 Splittern. Ich wusste erstmal nicht, was er meint, aber nachdem ich das kapiert habe, habe ich ihm erzählt, dass der Kristall bereits zusammengesetzt ist. Ich habe ihm auch gesagt, wer die Hüter des Kristalls sind. Zumindest, soweit ich es aufsagen konnte. Er hat dich nicht darauf angesprochen, Joel." "Vielleicht wollte er noch", überlegte Joel, "Aber das ist auf jeden Fall etwas, was man bedenken sollte. Vincent selbst wird uns zwar nicht mehr gefährlich, aber Vico dürfte alles wissen." "Sie wissen dich, Otto, Niko und Nikos Schwester", sagte Lilli, "Mehr konnte ich nicht sagen." "Da ist es nicht schwer, auf Luna und Linda zu schließen", erwiderte Joel, "Und Max ist Wer-Weiß-Wo. Sie wissen also uns alle. Vico sollte man nicht unterschätzen. Vor allem, weil sie jetzt nicht nur mit Antonia verbündet sind, sondern auch noch mit dieser Stimme." "Meinst du, ihr könnt den Kristall beschützen?", fragte Katrin. "Wir werden uns was überlegen müssen", antwortete Joel, "Aber erstmal sollten wir mit Vincent und Joshua abschließen. Ich geh jetzt zur Polizei. Kommst du mit, Lilli?" "Lieber nicht", entschied Lilli, "Ich habe Angst." "Nicht schlimm", sagte Joel. Er verabschiedete sich und ging. "Du lässt dich von deiner Angst einschüchtern?", fragte Biene, "So habe ich dich nicht kennengelernt." "Ich doch nicht", antwortete Lilli, "Katrin, hast du Light753 mittlerweile angeschrieben?" "Ja", antwortete Katrin, "Sie leugnet, jemals diesen Namen gehört zu haben. Und diesen Satz hat sie auch gelöscht." "Was nur beweist, dass sie etwas weiß", sagte Biene, "Jetzt wäre es praktisch, zu wissen, wer sie ist." "Ich denke, das ist eine Sackgasse", gestand Lilli, "Light wird sich nicht verraten. Und über Light753 bekommen wir nichts." "Und was machen wir dann?", fragte Katrin, "Aufgeben? Alles, was du den Kolus sagen kannst, ist, dass Vihane hier ist. Und das wissen sie schon." "Ich habe bereits eine andere Spur", sagte Lilli, "Die Magie. Was, wenn die Hüter ihre Magie nur haben, weil sie in Kontakt mit einem magischen Wesen stehen?" "Light hat das Team gegründet", überlegte Katrin, "Sie würde nicht wollen, dass die Beschützer eines solch mächtigen Gegenstandes gar nicht in der Lage sind, ihn zu beschützen." "Genau", sagte Lilli. "Aber wenn wir die Hüter einweihen, könnte auch Light von unseren Ermittlungen erfahren", warf Biene ein. "Und deswegen lassen wir die Hüter in Ruhe", sagte Lilli, "Es gibt ja noch jemanden mit magischen Kräften." Biene und Katrin brauchten beide kurz, um zu verstehen, worauf Lilli hinaus wollte. "Du meinst die Stimme", stellte Katrin fest. "Genau die", bestätigte Lilli, "Sie muss ihre Kräfte doch auch irgendwoher haben." "Sie steht in Verbindung mit Antonia", sagte Katrin, "Elli hat berichtet, dass die Stimme eine der wenigen ist, denen Antonia von den Ritualen vom Kristall erzählt hat." "Du hast Kontakt mit Elli?", fragte Lilli. "Nein, aber mit den Hütern", antwortete Katrin, "Was ich sagen will: Light hat die Hüter mehrfach vor Antonia gewarnt. Und wenn sogar sie Antonia nicht zu nah kommen sollen, dann sollten wir das erst recht nicht." "Ich denke, ein Versuch kann nicht schaden", sagte Biene, "Wenn es in eine falsche Richtung geht, können wir immernoch abbrechen." "Hoffentlich", sagte Katrin.