23 - peppermint

Das Blut rauschte in seinen Ohren. Jeder Muskel pochte und jeder Knochen stach, und doch fühlte er - was? Erleichterung? Trauer? Wut?

Reglos starrte Chat Noir auf das Gesicht Gabriels hinab. Das Gesicht seines Vaters. Er sah, dass er weinte. Die grauen Augen starrten an Chat vorbei in den Himmel, Tränen hinterließen Spuren auf den staubigen Wangen.

Es war vorbei. Der Gedanke war abwegig.

Gabriel war müde und erschöpft, zerrissen von Trauer und Wahnsinn. Die graue Iris schien zerbrochen, gesplittert. Seine Hände rissen nicht mehr an seinen Haaren, lagen kraftlos im Straub.

„Du hast mich verraten.“

Gabriel Agreste schrie nicht mehr, er brüllte nicht. Die geflüsterten Worte drangen aus seinem Mund, die Augen weit aufgerissen fanden endlich Chat Noirs Gesicht. Wahnsinn - und Hass - nichts anderes konnte Chat darin erkennen, und es raubte ihm den letzten Atem. „Nein“, hauchte Chat Noir leise, sodass nur Gabriel ihn hören konnte. „Nein - Du hast mich verraten.“

Er ballte die Hand zur Faust, drehte sich weg und ging. Ließ seinen Vater zurück, am Boden liegend, verletzt, ignorierte dessen Rufe und Schreie, die er ihm hinterherwarf. Sein Körper rebellierte, seine Muskeln brannten, doch Chat riss sich zusammen, ließ sich nichts anmerken.
Er spürte die Blicke auf seinem Rücken, die Blicke fremder Menschen, die ihm nachstarrten.

Er ging, zog sich auf die Dächer von Paris zurück.

Gabriel Agreste konnte niemandem mehr schaden, die Polizei ihn bald in Gewahrsam nehmen. Chat fragte sich unwillkürlich, was er dabei fühlte - aber da war nichts greifbares, nur leere Kälte. All die Wut und der Hass, die Angst oder Enttäuschung, selbst die Schuld, die er seinem Vater gegenüber gefühlt hatte, war verpufft. So wie der Akuma unter Chat Noirs Krallen.

Er sah auch nicht nach Alya, die noch auf dem Dach sitzen musste - sie war stärker, als er, er wusste, sie würde sie erneut verwandeln können, verschwinden können, sich in Sicherheit bringen können.

Es war ein Dach von Vielen, auf dem er schließlich zum Stehen kam. Stirnrunzelnd senkte er den Blick, auf seine Hände hinab, die noch immer die Brosche umklammerten. Das kleine runde Schmuckstück glänzte unschuldig im Sonnenlicht, der violette Amethyst in der schwarzen Fassung glitzerte leicht. Man konnte ihm die Kälte nicht ansehen, die darin hauste. 

Sein Blick wanderte weiter auf seine Unterarme - der zuvor aufgerissene Stoff des Anzugs war wieder wie neu - die Form seiner Handschuhe hatten sich verändert, die schwarze Oberfläche wurde von filigranen, goldenen Linien durchzogen.
Chat Noir hatte sich bei seinem Kostüm nie große Gedanken darum gemacht, wie es aussehen sollte. Er hatte gewusst, dass es sich ändern konnte.
Die goldenen Linien, die wie Krallenspuren den Anzug zierten, erinnerten ihn an Marinettes Geburtstagsgeschenk an ihn. Dies hier war ihr Design. Erst hatte er an Krallenspuren gedacht – vielleicht waren es auch Tigerstreifen, die seinen Anzug nun zierten.
Chat blinzelte, umschloss die Brosche wieder mit den Fingern.

Er hatte gerade nicht viel Zeit, über seinen neuen Anzug nachzudenken - oder über die überraschenden neuen Fähigkeiten, die er im Kampf gezeigt hatte -

Die Polizei würde bald bei ihm Zuhause auftauchen - und er musste unbedingt vorher noch mit jemandem sprechen.

***

Adrien fand Nathalie in dem verwüsteten Arbeitszimmer seines Vaters. Sie schien nervös, lief auf und ab, schob immer wieder in fahrigen Bewegungen ihre Brille zurecht. Aus ihrem strengen Dutt hatte sich eine schwarze Haarsträhne gelöst und sie sah immer wieder auf ihre Armbanduhr.

Als Adrien die Tür fast lautlos weiter aufstieß, schreckte sie hoch, starrte ihn an.

„Adrien. Du bist schon wach? Das hier - das sieht -“, stammelte sie los, blickte unruhig zwischen dem heruntergerissenen Vorhang, den zerbrochenen Gemälden und umgestürzten Schaufensterpuppen hin und her. Adrien jedoch unterbrach sie, in dem er die Hand hob, die andere noch zur Faust geballt.

„Ich bin nicht todkrank“, sagte er schneidend, war selber überrascht, welche Schärfe seine Stimme annahm.
„Ich -“
„Und taub bin ich auch nicht“, ergänzte Adrien.

Er hatte beschlossen, einfach so zu tun, als hätte er die Konversation und den ausbrechenden Kampf zwischen seinem Vater und Chat Noir belauscht - Adrien wusste nicht, ob er in der Lage wäre, überrascht zu spielen, wenn die Polizei schließlich hier auf der Matte stehen würde.

Adrien hatte die Assistentin seines Vaters nie sprachlos gesehen. Nathalie wusste nicht was, sie ihm erwidern sollte, und das sah man ihr an.
„Es ist schon in allen Nachrichten, Chat Noir hat gewonnen“, sagte er dann leiser, beobachtete, wie sich Nathalies Gesichtsausdruck von Ratlosigkeit und Überforderung zu purem Schock wandelte. Hatte sie tatsächlich so sehr damit gerechnet, dass Gabriel gewinnen würde?
Ja, dachte Adrien, wurde sich bewusst, dass er für einen kurzen Moment genau dasselbe gedacht hatte.

Dass er genauso sterben würde wie Ladybug.

Kurz dachte er an die beiden Miraculous, die jetzt, endlich nach Jahren, wieder in der Miraculous-Schatulle lagen. An den Schmetterling und den Pfau - der Pfau, der einmal von Gabriels Komplizin Mayura getragen wurde. Mayura, die einige Male aufgetaucht, und dann wie vom Erdboden verschluckt schien.

Jetzt wusste er, dass das beschädigte Miraculous sie geschwächt hatte - Er erinnerte sich, dass sie einige Monate schwer krank gewesen war, krank genug, dass Adrien Angst gehabt hatte, die Frau genauso zu verlieren, wie seine Mutter. Nach ihrer Genesung schien sie sich von ihm zu entfernen - zumindest auf emotionaler Ebene.

„Warst du Mayura?“, fragte er leise, die Antwort bereits kennend. Er wollte diese Sache einfach nur noch abschließen - Nathalie wusste nicht, dass er Chat Noir war, das hatte sie nicht mitbekommen. Und er wollte es dabei belassen.

Es war schon schlimm genug, dass er unvorsichtig gewesen war, als er sich direkt vor seinem Vater verwandelt hatte.
Und während Nathalie zögernd und zaghaft nickte, war Adrien längst in seinen eigenen Gedanken versunken - überlegte fieberhaft, wie er als Adrien reagieren sollte, wenn Gabriel Agreste beschloss, sein Geheimnis mit der Welt zu teilen.

Er bemerkte nicht, wie Nathalie zögerlich näher an ihn herantrat. Und als sie ihre Hand schließlich sanft auf seine Schulter ablegte, riss sie Adrien nicht nur aus seinen Gedanken - die Geste löste etwas in ihm aus, von dem er nicht wusste, dass es noch in ihm war, es brach seine Mauer ein.
Adrien musste tief Luft holen, als die Tränen aus ihm herausbrachen, Schluchzen erschütterten seinen Körper, ließen die Schmerzen vom Kampf wieder entflammen, die er zuvor erfolgreich verdrängt hatte - Und als er weinend zu Boden sank, verschwand seine Wahrnehmung in einem dunklen Strudel aus Empfindungen.

Nur halb bei Bewusstsein hörte er, wie die Haustür aufgebrochen wurde, hörte die vielen Stimmen, die durcheinander riefen. Sie waren ihm zu laut, um Worte verstehen zu können. Nathalies Hand verschwand von seiner Schulter, wurde von kalten Händen ersetzt, die ihn packen wollten.
Verschwommen sah er einen ihm fremden Mann vor sich, musste die Panik unterdrücken, die in ihm zu überschwemmen drohte, als sein Kopf merkte, dass er ihn nicht loslassen würde -

„- Monsieur Agreste -“

Der Klang dieses Namens brachte Adrien nur noch mehr dazu, sich gegen den Griff des Fremden zu wehren - nur die neuen Prellungen an seinem Körper, versteckt unter dem weiten Pullover den er trug, verhinderten, dass er damit erfolgreich war. Stattdessen verfestigte sich dieser Griff nur, zwei weitere Arme zogen ihn nach oben und aus dem Raum.

Nur halb bekam er mit, wie zwei Polizistinnen sich Nathalie näherten, die bereitwillig ihre Hände hob - dann betraten die beiden Beamten mit Adrien in den Armen die Eingangshalle, bugsierten ihn auf einen der weiß gepolsterten Sesseln, die neben der breiten Treppe standen.
Nur der Jüngere von beiden blieb neben Adrien, hockte sich direkt vor ihm hin und ließ seine Schultern nicht los.

Adrien hasste es, dass er sich nicht bewegen konnte, aber gleichzeitig half es, sich zu beruhigen - als seine Tränen schließlich versiegten, hockte der Polizist immer noch vor ihm. Er hatte wohl zu ihm geredet, was Adrien jedoch nicht mitbekommen hatte - der Mann sah ihn fragend an, hatte ein beruhigendes Lächeln im Gesicht. Adrien schniefte einmal, umklammerte dann die Hände des Polizisten, schob sie von seinen Schultern - diesmal ließ der Mann das zu. Der Blonde spürte, wie seine Wangen warm wurden - er hatte die Kontrolle verloren, hatte eigentlich geplant, zwar geschockt, aber dennoch gefasst, der Polizei gegenüberzutreten.

Er hatte geglaubt, seine Gefühle vollkommen unter Kontrolle halten zu können, war überzeugt gewesen, dass er nichts fühlte - doch anscheinend hatte ihm dieser Tag mehr zugesetzt, als er bemerken konnte.

Adrien ließ sie Hände des Polizisten los, erwischte sich dabei, wie er seine Nägel in die Handflächen bohrte. Sofort öffnete er die Hände, krallte sich stattdessen in die Lederpolster des Sessels. Er musste tief atmen, um dieses beklemmende Gefühl wieder loszuwerden.

„Wo ist mein Vater?“, fragte er leise, versuchte die Fassung zurückzugewinnen. Der Polizist zögerte, fragte ihn, was er denn mitbekommen hätte, anstatt ihm die Frage zu beantworten. Adrien blinzelte, biss sich auf die Unterlippe, bevor er zögernd auf die Frage einging.

„Er und Chat Noir haben gekämpft. Ich war in meinem Zimmer - ich wusste nicht -“, Adriens Stimme stockte, als die Polizisten Nathalie aus dem Arbeitszimmer führten. Die Frau wehrte sich nicht, ihre Hände waren in Handschellen gebunden.

Sie sah nicht zu ihm, blickte stur geradeaus auf den Boden.

Adrien musste schlucken, löste die Finger vom Polster. Wann hatte der Zeitpunkt stattgefunden, an dem er seine komplette Familie verloren hatte? Warum hatte er das nur nie erkannt?

„Monsieur Agreste?“ Die Stimme des Mannes vor ihm riss ihn von den Anblick der Frau los, die er lange Zeit wie eine zweite Mutter betrachtet hatte -

„Ich hab‘s nicht gewusst“, hauchte Adrien leise, sah auf seine Finger herunter, auf den silbernen Siegelring an der rechten Hand.

„Ihr Vater wurde auf das Revier gebracht. Er wird gerade noch verhört und ärztlich versorgt, aber soweit ich weiß, hat er noch nichts gesagt. Könntest du dir vorstellen, weshalb -“, der junge Beamte sprach nur mit vorsichtiger Stimme, wirkte so, als würde er erwarten, dass Adrien wieder zusammenbrechen würde. Adrien schüttelte den Kopf, zögerte - ehrlich gesagt, hatte er bisher kaum über das Warum nachgedacht.
Gabriel hatte es ihm gesagt. Er hatte Chat Noir seinen Grund entgegen geschrien. Adrien hatte es ausgeblendet.

Er behielt seinen Blick auf seine Hände gerichtet, während er antwortete. „Meine maman. Ich glaube, es ist wegen maman.“

Der Polizist ließ ein Seufzen hören, bevor er Adrien am Oberarm berührte, auch wenn er Adrien nicht dazu bringen konnte, zu ihm aufzusehen.
„Wir werden das Haus durchsuchen müssen. Wenn dir irgendetwas einfallen sollte, dann kannst du mit mir reden, alles klar?“

Adrien nickte, hoffte still, dass sie sein Zimmer auslassen würden - oder er Zeit haben würde, ungesehen das besser zu verstecken, was die Polizei am besten nicht bei ihm finden sollte -

Es war Nathalie, die ihm aus diesem kleinen Dilemma half, wenn auch unbewusst. Sie schien geredet zu haben, noch bevor die Beamten sie zu einem Polizeirevier bringen konnten.

Er sah auf, als Nathalie wieder herein geführt wurde - in Handschellen und jeweils einem Polizisten, der ihre Oberarme festhielt. Sie brachten sie zurück in das Arbeitszimmer. Sie würde ihnen einen Beweis zeigen, irgendetwas was auf ShadowMoths Machenschaften hinwies, da war er sich sicher - vielleicht sogar den ihm unbekannten Eingang zu dem geheimen Kellersaal, den Plagg gefunden hatte.

Adrien beachtete den jungen Polizisten neben sich nicht weiter, sprang von dem Sessel auf und hechtete ihnen hinterher, so schnell wie er eben konnte. Er musste das sehen - er musste einfach.

Der Polizist hatte keine Mühe, mit dem Jungen Schritt zu halten, dem die eigentlich kurze Distanz zwischen sich und der Zimmertür unglaublich weit vorkam.

„Dort ist ein geheimer Code in dem Gemälde - er öffnet den Eingang zu einem Aufzug im Boden. Ein geheimer Raum, im Keller“, sagte Nathalie mit belegter Stimme, zeigte auf das Gemälde von Emelie Agreste, gerade in dem Moment, wo Adrien mit müden Beinen den Türrahmen erreichte.
Dort war also der Eingang, dachte Adrien, musterte den Boden, der keinerlei Anzeichen für einen geheimen Eingang vorwies - es war eine runde Platte, die einfach nach unten fuhr, sobald eine Polizistin die Codetasten im Bild drückte. Sie bot gerade Platz für zwei Personen - mit blasser Miene beobachtete Adrien, wie zwei Polizisten in dem dunklen Schacht verschwanden.

Der ganze Raum wurde ungewöhnlich still, Adrien hielt die Luft an.

Das Knacken eines Funkgeräts ertönte. „Das solltet ihr euch ansehen.“

Adriens Beine bewegten sich von alleine, ließ sich auch nicht von den Polizisten aufhalten. Er musste dort runter. Der junge Beamte war es schließlich, der seine Kollegen wegwinkte, sich zu dem Blonden gesellte. Adrien stieg die Hitze in den Kopf, als er merkte, dass er körperlich eigentlich nicht mehr in der Lage war, lange zu stehen - der unbewusste Wunsch, sich auszuruhen wurde nur durch seine Emotionen überschattet.

Adrien konnte noch den zögernden Gesichtsausdruck einer Polizistin erkennen, bevor der Boden erneut versank und ihn in Dunkelheit tauchte.
Die Fahrt des Aufzugs dauerte nicht lange - Licht durchflutete die riesige Halle, die sich unter ihnen auftat - Adrien war sich sicher, das dieser Saal in keinem Grundriss des Gebäudes auftauchte.

Er kannte die Beschreibung von Plagg bereits, konnte jedoch nicht wirklich aufnehmen, was er sah.

Da war Wasser, Eisenstreben hielten die Decke, Wandlampen mit warmweißen Licht und ein langer Steg, der zum hinteren Ende der Halle führte.
Die Lampen erzeugten künstliches Sonnenlicht,  auf der Plattform wucherten Pfefferminzpflanzen, die einen intensiven Geruch verströmten - automatisch verkrampfte Adrien sich, es war der gleiche Geruch -

Er spürte die Hand des Polizisten auf seiner Schulter, als er stehen blieb und nach Luft schnappte, auch wenn das nicht half, diesen Duft wieder auszublenden, es nur noch schlimmer machte - Pfefferminze.

Die Pflanzen umrahmten einen weißen Sarg. Die Kapsel war mit goldenen Mustern verziert, ihr Inneres mit weißen Polstern versehen.
Es sah nicht aus, wie ein Sarg aussah, aber er wusste das es einer war.

Der Polizist packte ihn jetzt vollends an den Schultern, drehte ihn von dem Ort weg und bugsierte ihn zurück zu dem Aufzug. Der Mann zischte einige Worte zu seinen Kollegen, die ihnen nachgekommen waren, schob den Jungen weiter, griff schließlich unter seine Kniekehlen und hob ihn hoch, trug Adrien von den Pflanzen und dem Sarg weg.

Adrien erkannte seine Absicht, aber es war zu spät.

Er hatte die Leiche seiner Mutter bereits gesehen.

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Moin^^

Ich hab's endlich geschafft xD Das war auch schon das letzte Kapitel - es folgt dann nächste Woche noch der Epilog, danach mache ich eine kurze Pause, bis ich die Fortsetzung veröffentliche (ich muss erst ein bisschen vorschreiben xD).
Lasst doch gerne schonmal eine Rückmeldung da, ob euch die Geschichte gefallen hat (oder auch nicht? ;) ) und danke an alle, die sich die Ziet genommen haben, mir einen Kommentar da zu lassen <3

LG Danni^^

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