17 - breathe
In der Nacht hatte es gefroren. Die Fensterscheiben des Wagens waren mit schillernden Eisblumen überzogen. Die kahlen Zweige der Bäume glitzerten im spärlichen Sonnenlicht, das durch den weißen Nebel brach. Streusalz lag auf den Pflastersteinen des Gehwegs , die Grasbüschel in den Steinfugen waren mit Raureif bedeckt.
Adrien hatte die Sitzheizung so weit aufgedreht, dass die Wärme durch die Kleidung hindurch auf der Haut kribbelte. Dunkelbraune Handschuhe verdeckten die kühlen Finger und den weißen Verband an seiner Handfläche.
Mit der Nase im Schal vergraben, beobachtete er die Eisschicht auf den Fenstern dabei, wie sie durch die Wärme des Wageninneren schmolz. Früher hätte er seine Fingerkuppe gegen die Scheibe gedrückt, mit kindlicher Faszination zugesehen, wie er seine Fingerabdrücke zwischen den Eisblumen hinterließ. Heute war er sich nicht sicher, ob seine Finger überhaupt genug Wärme abgeben konnten, um das Eis zum Schmelzen zu bringen.
Mit leise quietschenden Reifen kam der Wagen am Straßenrand zum Halten, mit stummen Blinzeln sah Adrien durch das mittlerweile beschlagene Fenster auf die breite Eingangstreppe des Gebäudes. Wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, hätte Adrien noch weitere Wochen Zuhause bleiben müssen, durch seine Volljährigkeit hatte er diese Entscheidung jedoch selber treffen können - nicht dass es sein Vater nicht trotzdem versucht hätte. Adrien hatte sich vehement dagegengestemmt, bis Gabriel Agrestes strenge Miene einer Gleichgüligkeit gewichen war. Mit den Worten, er solle doch machen, was er für richtig hielt, hatte er Adrien schließlich in seinem Zimmer alleine gelassen.
Zu behaupten, die Stimmung Zuhause wäre nicht angespannt, wäre gelogen gewesen - dabei hatte sich eigentlich nichts wirklich verändert. Adrien hatte nur das Gefühl, dass diese eine penetrante Idee in seinem Kopf dafür sorgte, die Spannung in der Luft nur noch intensiver wahrzunehmen.
Jetzt tatsächlich wieder zur Schule zu gehen, kam ihm angesichts seiner Lage gänzlich unwirklich vor - vielleicht war es genau deswegen gewesen, dass er darauf bestanden hatte. Wie ein stiller Wunsch nach ein wenig Normalität. Doch jetzt, hier vor dieser Treppe, wurde ihm bewusst, dass soetwas wie Normalität für ihn unmöglich geworden war. Denn selbst wenn die Schule als Ort seit Wochen nicht mehr Teil seines Lebens gewesen war, war sie doch der Ort, der ihm besonders leer vorkommen würde.
Die Wagentür wurde geöffnet, seine Füße fühlten sich unendlich schwer an, als er sich aus dem Auto hievte, mit dem Arm auf die Krücke gestützt.
Wie oft war er genau hier mit Marinette zusammengestoßen, weil keiner von ihnen auf den Weg geachtet hatte? Wie oft hatten sie ihre Köpfe aneinandergestoßen, als sie beide gleichzeitig auf die Idee gekommen waren, ihre fallengelassenen Schulsachen füreinander aufzuheben? Wie oft hatten sie sich hier, an dieser Treppe am Morgen begrüßt, die Wagen verfärbt, als wäre es etwas furchtbar peinliches, [style]Hallo[/style] zu sagen?
Kalter Winterwind pustete ihm die Stähnen aus der Stirn, die Ohren brannten von der kalten Luft. Und für einen kurzen Augenblick war die breite Treppe vor der Schule das größte Hindernis in seinem Leben.
,,Hallo, Adrien." Der Wind trug die leise Stimme fast von ihm fort. Adrien brauchte eine Weile, um den Klang einem Namen zuzuortnen, so lange hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.
Chloés hellblonden Haare wirbelten um ihr leicht geschminktes Gesicht herum, nur zurückgehalten von den flauschig weißen Ohrenschützern. Ihre hellen, blauen Augen musterten seine Gestalt, ein Lächeln zierte ihren Ausdruck. Das helle Gelb ihrer Winterjacke leuchtete im Tristen Weißgrau des Nebels.
Chloé Bourgeois war schon seit einigen Jahren nicht mehr mit ihm befreundet. Er war deswegen auch nicht wirklich für sie da gewesen, als ihr ausgelebter Hochmut im vorherigen Herbst einen Dämpfer erfuhr, nachdem ihr Vater die Wahl zum Bürgermeisteramt verloren hatte. Und dieses Schuljahr waren sie nicht mehr in derselben Klasse.
Deswegen überraschte es Adrien, dass sie ihn ansprach - andererseits sah er wahrscheinlich dermaßen erbärmlich aus, dass sie sich einfach nicht zurückhalten konnte (Zurückhaltung war für die schuleigene Diva sowieso ein Fremdwort), um ihn zu verspotten - stattdessen bewegte sie sich jedoch nur auf ihn zu, griff zaghaft nach seinem Schulrucksack, den er nur lasch über der Schulter trug.
,,Warte, ich helfe dir."
Adrien konnte nicht anders, als seinem Bodyguard einen hilflosen Blick zuzuwerfen - dieser blieb jedoch neben der Beifahrertür stehen und lächelte ihm nur aufmunternd zu.
Chloé hingegen beachtete diese Interaktion gar nicht, schulterte seinen Schulrucksack, den er eigentlich durchaus selbst hätte tragen können - darin befand sich nur sein Tablet und eine Flasche Wasser (und eine Schachtel mit Camembert und Keksen für Plagg und Tikki). Das Mädchen gesellte sich auf seine krückenfreie Seite, hakte sich an seinem Arm ein und schnaubte leise, als sie seinen sprachlosen Blick auf ihr bemerkte.
,,Jetzt guck nicht so blöd, Adrien. Diese lächerliche Schule kann leider nicht von sich behaupten, barrierefrei zu sein." Chloé zog ihre Nase hoch, schob Adrien dabei mit sich, zur Treppe hin.
,,Eine Rampe wäre nicht besser", maulte Adrien schließlich, gab aus Mangel an Ideen genau die Wörter wieder, die Plagg an seiner Stelle genutzt hätte. Er war nicht in der Stimmung, höflich zu tun und trotz ihrer überraschenden Freundlichkeit war ihm ihre Anwesenheit nicht wirklich willkommen.
Chloé schnaubte erneut, ein wenig abfälliger diesmal. - ,,Ich meinte moderne Aufzüge, Adrien, das müsste mittlerweile Standart sein."
,,Installiere am besten noch ein paar Treppenlifte, wenn du schon dabei bist" murrte Adrien kurz angebunden.
,,Wenn mein papa noch Bürgermeister wäre, dann -" plapperte das Mädchen drauflos, doch Adriens Schnauben unterbrach sie unwirsch.
,,Willst du jetzt Mitleid von mir, weil dein Papi dir nicht mehr alle Wünsche erfüllen kann?" keifte Adrien sie an, während sie die letzte Stufe überwanden - augenblicklich löste Adrien seinen Arm aus ihrem Griff. Adrien wusste genau, dass sich seine Frustration gerade nicht explizit auf Chloé bezog - sie konnte absolut nichts für seine Laune, dennoch fühlte es sich unglaublich gut an, einmal seinen Gefühlen Luft zu machen.
Er wusste, dass sich Chloé von Meinungen anderer noch nie hatte stören lassen - nur wirkte ihr Gesichtsausdruck trotzdem verletzter, als er es erwartet hatte. Verletzt genug, dass er es bereute, sie wegen nichts so anzufahren.
Adriens ehemalige Kindheitsfreundin behielt jedoch die Fassung, verschränkte die Arme vor der Brust, seinen Rucksack noch immer auf dem Rücken.
,,Nein. Will ich nicht. Ob du's glaubst, oder nicht, ich wollte dir nur helfen."
Einige Schüler starrten in ihre Richtung, als die beiden Teenager den Innenhof betraten, Adrien fiel auf, dass Chloé sich seinem Gehtempo anpasste. Sein gedachtes 'Danke, aber ich brauche keine Hilfe', schaffte es nicht aus seiner Kehle heraus, er begnügte sich mit einem entschuldigendem Schulterzucken. Chloé hingegen nahm sein Benehmen erneut mit einer Fassung an, die er von ihr nicht kannte. Die frühere Chloé hätte ihn wahrscheinlich beschimpft oder mit Nichtachtung bestraft, vielleicht sogar verspottet.
Stattdessen seufzte sie jetzt, bevor sie einfach weiter drauflosplapperte, dass sie ihn auf groteske Weise an Alya erinnerte.
,,Was ich eigentlich nur sagen wollte, ist, dass mein Vater als Bürgermeister dir sicherlich hätte helfen können, die Schule zugänglicher zu machen, weißt du?" - Das hab ich schon verstanden, dachte Adrien nur, doch Chloé hörte jetzt gar nicht mehr auf zu reden. Adrien hingegen mied sorgfältig die neugierigen Blicke seiner Mitschüler.
,,Ich habe mich ein wenig geändert, Adrien. Das hast du nicht mitbekommen und das ist verständlich, ich weiß mittlerweile, dass mein Verhalten an einigen Momenten äußerst unangebracht und lächerlich gewesen war. Das hat papa mir klar gemacht, als er letztes Jahr die Wahl verloren hatte. Naja, jedenfalls, wenn mein papa nicht unfehlbar ist, dann kann ich das auch nicht sein -"
Deiner ist wenigstens kein terroristischer, mordender Superschurke.
,, - das wurde mir dann klar. Jedenfalls, als mein papa anfangen musste, sich für seine politischen Fehler zu entschuldigen, hab' ich das auch versucht und ich habe vor einigen Monaten schon mit Marinette ein Gespräch gesucht -" Adriens Zusammenzucken unterbrach Chloés Redefluss.
Sie standen mittlerweile vor der grün lackierten Metalltreppe im Innenhof und sein Unterbewusstsein bemerkte mit Unwohlsein, dass er bis zum Klassenraum noch ein weiteres Stockwerk nach oben gehen musste - doch dass Chloé Marinettes Namen einfach so aussprach, war wie ein Trigger für ihn, dass er sich beherrschen musste, die Blonde nicht erneut grundlos genervt anzufahren.
,,Hör zu", begann er mit leiser Stimme, richtete den Blick fest auf ihre blauen Augen, die so anders waren, als die von Marinette - ,,ich verstehe, du versuchst dich zu entschuldigen. Das respektiere ich, aber das ist jetzt - pardon - ein minimal falscher Zeitpunkt, also wenn ich dich bitten könnte, das auf einen anderen Tag zu verschieben, dann wäre ich dir sehr verbunden."
Seine Stimme zitterte etwas, als er die bemüht ruhigen Worte an Chloé richtete, während er seine freie Hand zur Faust ballte, fest genug, bis die Handfläche unter dem Handschuh begann, wieder wehzutun.
Als Chloé tatsächlich verlegen nickte, drehte sich Adrien abrupt von ihr weg, wieder der Treppe zu.
So sehr er Alyas Redefluss auch vermisste, so sehr war ihm die viel zu lange Interaktion mit Chloé zuwider - nicht, weil es Chloé war, sondern weil menschliche Interaktionen für Adrien generell zu viel waren, weil zu viele Worte um ihn herum, nicht in sein Hirn passen wollten - nach den ersten sechs Stufen, die er sich ohne Hilfe hinaufquälte, fragte er sich, ob es dann tatsächlich eine gute Idee war, wieder zur Schule zu gehen.
Aber egal - das war immer noch besser, als das leere Zimmer in der Agreste-Villa. Immer noch besser, als unter demselben Dach zu sitzen, wie ShadowMoth.
Was gäbe ich jetzt für einen Treppenlift, dachte Adrien, als er nach einer gefühlten Ewigkeit das Ende der Treppe erreichte - seine Finger waren taub von der Kälte des Metallgeländers, die selbst durch die Handschuhe gesickert war. Seine Beinmuskeln dagegen brannten, als hätte er gerade einen Berg erklommen. Jedenfalls glaubte Adrien, noch nie so froh gewesen zu sein, die Tür zu einem Klassenzimmer zu sehen.
,,Hallo, Adrien!"
Erneut zuckte Adrien zusammen, konnte sich gerade noch so selber daran hintern genervt aufzustöhnen, als er erkannte, dass es nicht Chloés Stimme war, die ihn ansprach - wenn es jemand wesentlich Unerwünschteres gewesen wäre, jemand wie Lila, dann hätte er sich sicher nicht zurückgehalten. Rosé jedoch war die letzte Person, die er anmeckern wollte - stattdessen bemühte er sich um ein Lächeln und drehte sich zu ihr um - es sah wahrscheinlich gequält aus, aber immerhin hoben sich seine Mundwinkel ein Stück.
Rosé winkte ihm zu, war noch einige Schritte von ihm entfernt, doch er konnte bereits die ehrliche Freude in ihrem Ausdruck erkennen. Ihre dunkelblonden kurzen Haare verschwanden fast unter der zartrosafarbennen Wollmütze und ihre Hände steckten in ebenso wollenen, hellrosa Handschuhen.
,,Oh, ich freu mich so, dich zu sehen! Du hast uns allen sehr gefehlt." Ihr breites, normalerweise ansteckendes Lachen, verriet ihm, dass sie ohne Zweifel die Wahrheit sprach. Obwohl - es war nicht so breit, wie früher.
,,Hey -", murmelte er leise, ,,- du lächelst - wie -", Adrien stockte. Ihm wurde bewusst, wie bescheuert er klingen musste. Nur war es ihm einfach nicht begreiflich, wie es Rosé schaffte, immer wieder, ihr bekanntes Lächeln weiter zu tragen. Rosé blieb neben ihm stehen, legte ihre Hand auf seinen Oberarm und behielt ihr Lächeln.
,,Wenn ich nicht lachen kann, dann bin ich traurig - und das will ich nicht. Aber jetzt komm - du solltest dich setzten. Ich und Juleka haben schon mit Nino ausgemacht, dass wir die Plätze am besten tauschen." Das kleinere Mädchen zog ihn bestimmend zum Klassenzimmer hin, ihre Stimmlage nahm einen heiteren Ton an. Dann lachte sie plötzlich auf.
,,Du kennst alle, es hat dann gleich die ganze Klasse ihre Plätze getauscht! Als Nino uns erzählt hat, wie es dir geht, waren wir alle der Meinung, dass du ohnehin schon genug Stufen laufen musst. Mylène und Ivan waren auch schon beim Schuldirektor, und er meinte, er sieht zu, dass er unserer Klasse einen Raum im Erdgeschoss geben könnte - oh, hey Leute, Adrien ist wieder da!" Rosés Stimme wurde lauter, durch ihr enthusiastisches Winken wurde er ein wenig durchgeschüttelt.
Die Tür fiel hinter ihnen wieder ins Schloss, die Blicke sämtlicher Schüler drehten sich nach ihrem Ausruf ihnen zu - Adrien hatte das unbestimmte Bedürfnis, den Kopf einzuziehen und den Rückzug anzutreten.
Das war definitiv zu viel Aufmerksamkeit.
Stattdessen zwang er sich zu einem leichten Lächeln, während sich seine Finger um den Krückengriff verkrampften. Er war sich nicht sicher, ob er die Reaktionen seiner Mitschüler richtig deutete, aber es schienen sich die meisten von ihnen zu freuen, ihn zu sehen - bis auf Lila Rossi, die demonstrativ ihre Fingernägel begutachtete. Jedoch, bevor die ersten Schüler von ihren Plätzen aufspringen konnten, war Nino bereits von seinem Platz in der ersten Reihe gesprintet und löste Rosé an Adriens Seite ab.
Eilig zog Nino Adrien zu dem Tisch hin, dass er fast ins Stolpern kam, worauf Nino mit einem entschuldigenden Grinsen reagierte.
,,Jetzt lasst ihm doch Luft!", rief Alya von ihrem Platz aus, der so wie immer, direkt hinter Ninos war - die andere Seite des Tisches war leer. Augenblicklich setzten sich die Teenager wieder - als hätten Nino und Alya ihnen vorher schon eingebläut, Adrien nicht zu sehr mit Aufmerksamkeit zu überschütten und es nur für einen kurzen Augenblick wieder vergessen. Adrien war froh darüber - nachher würde er noch Platzangst haben, nur weil ihm zu viele Leute begrüßen wollten.
Mit einem leisen Schnauben ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, ließ die Stirn auf die Tischplatte sinken, lehnte die Krücke zwischen sich und Ninos Platz an den Tisch - hob den Kopf erneut, als seine linke Hand ins Leere griff - und ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte knallen.
Sein Rucksack. War. Nicht. Da.
Jetzt konnte er einen genervten Laut nicht unterdrücken - ,,Merde!"
,,He, alles klar?" fragte Kim, der auf der anderen Seite der ersten Sitzreihe saß - der großgewachsene Junge lehnte sich mit den Ellenbogen auf seinen Tisch, halb über den Gang in der Mitte. Adrien reagierte nicht auf ihn - er hatte gehofft, dieser Tag würde besser laufen, als die Letzten, aber er schien sich geirrt zu haben. Es schien plötzlich alles auf seinen Nerven herumzutanzen, dabei hatte er eigentlich nur Ablenkung gesucht - In dem Moment wurde die Klassenzimmertür aufgestoßen, ein blonder Haarschopf lugte durch den Türspalt.
Mit einem leisen, ,,Pardon", huschte Chloé ins ihr Klassenzimmer, legte mit einem entschuldigenden Lächeln Adriens Schulrucksack neben seinen Tisch ab und verschwand genauso schnell wieder.
,,Chloé hat ein echt mieses Timing, um wieder mit dir zu reden", kommentierte Nino nur, was Adrien nur mit einem gedankenverlorenen Nicken erwiderte. Chloés Verhalten hatte ihm auf einen anderen Gedanken zurückgelenkt - er wusste nicht wirklich, was er davon halten sollte. Denn wenn sich Chloé so drastisch verändern konnte, ohne das Adrien das überhaupt mitbekommen hatte - konnte das nicht auch für seinen Vater gelten?
Und wenn ja - in welche Richtung? Verteufelte er seinen Vater zu sehr, einfach, um einen Schuldigen für sein Leben zu finden, wenn er nicht sich selbst dafür nehmen wollte - oder hatte er ihn tatsächlich zu wenig verteufelt? Hatte er ihm immer zu viel Gutes zugesprochen, einfach, weil es sein Vater war?
Es wurmte ihn, dass er, trotz aller Indizien, die er hatte, trotz der augenscheinlichen Beweise, sich immer noch nicht hundertprozentig sicher sein konnte, ob sein Vater wirklich ShadowMoth war.
Ein lautes Klatschen hallte im Zimmer wieder, erneut zuckte er zusammen, während das Summen der vielen Stimmen schlagartig verstummte. Adrien hatte nicht mitbekommen, dass Madame Bustier den Raum bereits betreten hatte - sie dagegen schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
,,Willkommen zurück, Adrien. Und guten Morgen an alle!"
Adrien hörte gar nicht richtig zu, als ihre Klassenlehrerin begann, die Anwesenheitsliste durchzugehen - spätestens ab dem Moment, in dem sie bei dem Buchstaben D ankam - nach Juleka Couffaine - und ihn einfach übersprang, mit Mylène Haprèle weitermachte.
Ihm wurde übel. Auch, weil Madame Bustier kurz innehielt. Adrien fragte sich, ob sie ihren Namen einfach nur übersprungen hatte - oder hatten sie ihn bereits aus der Klassenliste gestrichen?
Als Nino ihm ein Buch zuschob, dass sie anscheinend gerade im Unterricht behandelten, starrte Adrien lieber auf die Tür des Klassenraums. Normalerweise würde jemand wild daran klopfen, die Tür aufreißen und über die eigenen Füße stolpern - chaotisch eine Ausrede murmeln und zu ihrem Platz huschen, schnell genug, dass ihre Schultasche gegen das Tischbein krachte, wenn Marinette sie auf den Boden warf. Und die Lehrerin würde sie ermahnen, nicht nocheinmal zu spät zur Schule zu kommen, auch wenn jeder von ihnen wusste, das Marinette das nicht schaffen würde. Wahrscheinlich war Ladybug der Grund dafür - vielleicht nicht immer, aber häufig.
Adrien hatte gewusst, dass er in der Schule ständig an Marinette erinnert werden würde - er hatte nur nicht erwartet, dass es sich tatsächlich so schlimm anfühlen würde - Der Raum war zu leise, das Tuscheln der beiden Mädchen hinter ihm fehlte. Die Blicke fehlten, die er ab und zu auf seinem Rücken gespürt hatte, wenn sie ihn anstarrte, mit den Gedanken in ihrer eigenen kleinen Welt.
Nach einer halben Stunde Unterricht, wie er mit einem Blick auf die Uhr feststellte, fragte er sich, was er hier eigentlich machte.
Er erwischte sich dabei, wie er seinem Vater zustimmte - er hätte Zuhause bleiben sollen. Es war plötzlich egal, dass er es in seinem Zimmer nicht mehr aushielt. Hier war es schlimmer.
Es war zu voll, zu laut und zu leise gleichzeitig. Es war zu normal.
Was sollte er hier noch? Marinette war nicht hier - nur seine Erinnerungen an sie. Der Unterricht war unwichtig - was interessierte es ihn, welche sprachlichen Stilmittel in einem Buch genutzt wurden, dessen Autor schon lange tot war? Was interessierte es ihn, einen Schulabschluss zu machen, wenn er schon so gut wie tot war?
Was sollte er mit einer Zukunft, wenn Marinette nicht darin war? Wenn sein Vater vielleicht genauso aus seinem Leben verschwinden würde, wie seine Mutter? Und wenn er mit aller Wahrscheinlichkeit irgendwann gegen ShadowMoth verlieren würde - welche Zukunft gab es dann überhaupt noch?
Adrien spürte, wie sich sein Puls beschleunigte - das unangenehme Gefühl, etwas wirklich, wirklich schnell erledigen zu müssen breitete sich aus, sein Blut begann lauter zu rauschen und die Stimmen seiner Mitschüler verschwammen zu einem penetranten Summen.
Plötzlich wurde ihm viel zu warm in seinem dicken Pullover. Hitze schoss ihm in den Kopf, das Bild vor seinen Augen verschwamm zu einem Wirbel aus unscharfen Konturen und Farben.
Er merkte erst, dass er zu zittern begonnen hatte, als sich eine Hand auf seinen Unterarm legte - ein großer Fleck schob sich in sein Sichtfeld und er brauchte viel zu lange, um diesem Fleck als Ninos Gesicht zu identifizieren. Sein Freund sagte etwas, aber das Herzklopfen übertönte seine Stimme.
Adrien versuchte etwas zu sagen, aber seine eigene Stimme klang zu weit entfernt, er konnte nicht verstehen, was aus seinem eigenen Mund kam.
Er atmete zu schnell, sein Herz schien aus seinem Brustkorb entkommen zu wollen, und plötzlich drehte sich der ganze Raum - Adrien spürte wage zwei warme Hände an seinen Wangen, die ihn festhielten, aber sie waren zu warm -
,,-drien-" Ninos Stimme erklang wie in eine Echo, seine sich fokussierte sich kurz, verschwomm wieder, der Untergrund schien sich zu bewegen.
Und dann kippte die Wand - die Wände mit den Fenstern, die hohe Decke des Raumes, die Wand mit der Tafel vorne, die Wand hinten, sie kippten nach innen, immer näher und näher -
Der Boden schien unter seinen Füßen nachzugeben, er glaubte, dass er mit jeden Schritt darin einsank, aber die Wände kamen zu nah, er musste weg -
Seine Sicht wurde dunkel, schwarze Flecken verdunkelten die sich drehende Welt.
Eisige Kühle ummantelte ihn. Das war das Erste, was er wieder wahrnahm - Kälte und Atem in der Lunge - das stetige Klopfen flachte ab, das Rauschen verebbte. Etwas Warmes lag auf seiner Schulter.
,,Shh - Atme. Einfach Atmen, Adrien -"
Adrien Kehle brannte, als er einatmete, den Worten folgend, auch wenn er die Stimme noch nicht erkennen konnte.
Er hielt die Augen geschlossen, lauschte auf seinen Puls. Dumpf spürte er langsam ein wachsendes Pochen an den Knien - wie durch Watte hindurch. Er war gestolpert, ohne es zu bemerken.
Etwas drückte gegen seinen Brustkorb, die Stimme redete weiter sanft auf ihn ein, die er jetzt als Ninos erkannte - Adrien öffnete seine Augen wieder.
Nino hockte genau vor ihm auf dem kalten Boden. Er hielt Adrien an der Schulter fest, die andere Hand lag auf seiner Brust, als überprüfte er seinen Herzschlag.
,,Hey-", hauchte Adrien leise, bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu halten - Nino lächelte erleichtert.
Sie saßen draußen im Innenhof der Schule - oben auf dem Gang. Die Mauer in seinem Rücken war eiskalt, eine leichte Schicht Frost lag auf dem Boden, die die Heizungen der Innenräume noch nicht wegschmelzen konnten.
Adrien konnte sich nicht daran erinnern, hierhergelaufen zu sein - er zitterte wieder, aber diesmal vor Kälte.
,,Warte hier, ich hol deine Jacke", sagte Nino, als hätte er seine Gedanken gelesen, stand auf und lief die zehn Meter zurück zum Klassenzimmer - nicht ohne ihm noch einen besorgten Blick zuzuwerfen.
Als Ninos Gestalt hinter der Tür verschwand, regte sich etwas in der Bauchtasche seines Pullovers - Gedankenverloren schob Adrien seine Hände in die Tasche, wo Plagg seinen Finger umklammerte, als wolle er ihn so eine Umarmung schenken - es half, auch das letzte bisschen Adrenalin im Blut zu senken.
Seine Jeans war an den Knien ein wenig zerfranzt, langsam fror ihm die Nase ein und die Ohren wurden kalt. Dennoch wollte Adrien gerade nicht aufstehen. Sein Kopf lehnte an der Mauer, er beobachtete die Atemwolken, die er ausatmete, als Nino auch schon wieder zu ihm zurückkam, in der einen Hand Adriens Wintermantel.
Nino hatte jetzt auch seine eigene Winterjacke an, wie Adrien bemerkte - er lehnte sich leicht vor, als Nino ihm den Mantel umlegte. Sofort wurde ihm wärmer.
,,Danke", sagte er leise, als sich Nino wieder neben ihm auf den Boden setzte.
,,Kein Ding. Ich -", Nino zögerte kurz, betrachtete seine Finger. - ,,Ich weiß, wie schrecklich sich das anfühlt."
Adrien erwiderte seinen Blick - Ninos Brillengläser waren am Rand beschlagen. Er trug heute seine Cap. Die hatte er vermisst - er blinzelte. - ,,Was-", fragte er, Nino biss sich auf die Unterlippe, bevor er zur Antwort ansetzte.
,,Eine Panikattacke. Die sind schrecklich."
Adrien schwieg. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass es Nino so schlecht ging - aber es machte Sinn, wenn er darüber nachdachte - nur wirkte sein Freund immer so gefasst - so stark. Er war einfach immer da. Für ihn, für Alya - wie ein Fels im reißenden Fluss, an dem man sich klammern konnte, damit man nicht unterging und ertrank.
,,Ich bin fast ertrunken. An dem Tag. Das - das hab ich dir nie gesagt, aber - ich war da. Chat Noir und - Marinette - sie haben mein Leben gerettet. Ich habe es gesehen. Wie sie - ich meine-"
Nino schien mit sich zu ringen - seine Augen wandten sich einem Punkt zu, den nur er sehen konnte.
Dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht - ein Trauriges, Verzweifeltes, mit Bitterkeit darin.
,,Ich hab auf sie aufgepasst, als Chat Noir die anderen Miraculous sichern musste. Ich hab sie festgehalten." Nino riss seinen Blick vom Nichts los, sah Adrien nun direkt an, der nicht wusste, was er sagen sollte.
,,Sie sah aus, als würde sie schlafen", hauchte er noch.
Unwillkürlich griff Adrien nach Ninos Hand - sie war wärmer als Seine. Aber erwidern konnte er nichts.
Er wusste genau, wie sie ausgesehen hatte. Eine schlafende Prinzessin. Nur das Blut in ihrem Mund hatte das Bild zerrissen und zum Albtraum gemacht.
Ein Albtraum, den er immer noch träumte.
Er konnte nicht aufwachen und weitermachen, er hatte es versucht - aber wie konnte irgendwas bei ihm noch Leben genannt werden?
Er konnte Nino nicht einfach die Wahrheit sagen - dass sein eigener Vater vielleicht Marinettes Mörder war.
Adrien hatte in den letzten Tagen versucht, einfach weiter zu leben - aber vielleicht konnte er das gar nicht mehr. Er musste diesen Kampf irgendwie beenden, und das besser früher, als später.
Unwillkürlich fragte er sich, ob er seinen Verdacht mit Nino oder Alya teilen konnte. Plaggs Urteil stand fest - der Kwami hatte seinen Vater nie sonderlich leiden können.
Fest stand, dass er die Wahrheit einfach kennen musste - am besten sofort. Er musste ShadowMoth endlich besiegen - irgendwie - oder sich besiegen lassen - sein Leben hing davon ab. Von beiden Möglichkeiten.
Und wenn er das weiterhin ignorierte - dann würde er auseinanderbrechen. Adrien sah zur Seite, in die brauen Augen seines Freundes.
Sie würden alle auseinanderbrechen.
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Hello^^ Wie geht es euch heute?
Sry, ich bin ein bisschen später dran, als sonst... aber ich habs heute noch geschafft xD
Vielen lieben Dank nochmal für deine Kommentare Planetenwandlerin <3 Ich komme leider nicht immer dazu, auch zu antworten xD
So... zu dem Kapitel - Ich muss sagen, dass ich persönlich keine Erfahrungen mit Panikattacken habe (zum Glück), also wenn ich hier irgendwas falsch darstelle, dann sagt mir bescheid (ich hoffe natürlich, dass ihr da genauso ahnungslos seid, wie ich ^^)
Und jetzt - es sind noch genau fünf Kapitel übrig - es geht also so langsam um die Wurst! (Oder Miraculous - wie man's nimmt) + Epilog
Ich hoffe, es hat euch wieder gefallen und lasst auch gerne wieder eine Rückmeldung da (ist jedes Mal mein Highlight der Woche <3)
Dann bis nächste Woche und bleibt Gesund!
LG Danni ^^
Artwork
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