12 - abandoned
Das goldene Morgenlicht brach sich auf der Oberfläche des Miraculous, warf lange, schillernde Farbschatten auf das Silber des Ringes. Die fünf winzigen Moldavitsteine in Form einer Katzenpfote waren in dieser Tarnform nicht zu sehen, stattdessen spiegelte sich das Licht auf der spiegelglatten runden Fläche.
Die kleineren Ohrringe waren ebenfalls silbern - doch im Gegensatz zu dem Ring, schienen sie das Licht abzustoßen, das Silber wirkte dunkel wie Schatten. Adrien erinnerte sich, dass die Ohrringe bei Marinette schwarz gewesen waren.
Beide Miraculous lagen jetzt auf seiner Handfläche, Adrien fixierte sie seit Stunden mit seinem Blick, hörte nichts außer dem lauten Rauschen seines Blutes und dem Klopfen seines Herzens. Er hatte Angst, sie würden verschwinden, wenn er auch nur einen Moment seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkte.
Er konnte den mitfühlenden Blick Tikkis in seinem Rücken spüren - das Kwamimädchen hatte den Schreck der letzten Nacht schnell überwunden, anders als Plagg, der immer noch wütend wirkte. Adrien hatte Angst, dass Plagg wütend auf ihn war, auch wenn der Chaosgeist das immer wieder verneinte.
Adrien schloss die Hand zur Faust erst, als die Zimmertür geöffnet wurde. Stimmen drangen aus dem Flur herein, laut und durcheinander, dass Adrien die einzelnen Wörter nicht verstehen konnte. Als das silberne Schimmern der Schmuckstücke aus seinem Sichtfeld verschwand, fiel sein Blick auf seine Handgelenke, dort, wo sich die blasse Haut in ein dunkles Blauviolett verfärbt hatte.
Unwohl zupfte er die Ärmel seines Pullovers tiefer, verdeckte die Spuren, die ShadowMoth hinterlassen hatte, bevor er sich zur geöffneten Tür drehte. Er erwartete einen der Ärzte oder seinen Vater, aber nicht so viele Fremde -
Überfordert rutschte Adrien zurück, verbarg die geschlossene Hand an seinem Bauch, die Andere umschloss den Deckensaum, bereit, jederzeit flüchten zu können -
Gabriel hatte seine Gesichtszüge verärgert verzogen, musterte eine der Polizisten abfällig, die sich darum jedoch nicht zu kümmern schien - der Arzt hingegen, stellte sich ihnen in den Weg, stoppte die eine Beamtin mit einer Hand auf der Schulter. Adrien konnte seine ruhigen Sätze nicht hören, dafür rauschte sein Blut zu laut. Sein Vater hingegen nutzte die Gelegenheit, drängte sich am Arzt und den Polizisten vorbei.
Und obwohl Adrien jede seiner Bewegungen genau gesehen hatte, zuckte sein Körper erschrocken zusammen, als die Hand seines Vaters seine Schulter berührte.
Er war die vielen Menschen nicht mehr gewöhnt, die Stimmen im Hintergrund machten ihn nervös und die aufbrausende Stimmung, die plötzlich in sein Zimmer geschwappt war, überforderten seine Sinne.
,,Adrien, bist du okay?"
Adrien Gehirn realisierte die Worte seines Vaters zu langsam, der den Blick zu schnell wieder von seinem Sohn abwandte, neben den er sich gesetzt hatte. Gabriel ließ Adriens Schulter los, ergriff stattdessen seine Hand, die sich kalt in dem Griff anfühlte. Wie von selbst legte Adrien daraufhin die beiden Miraculous in seine Hosentasche, gerade rechtzeitig, bevor sein Vater auch nach seiner anderen Hand griff.
Ein leichtes Gefühl von Panik ergriff ihn, als Gabriel schließlich mit dem Daumen über seinen Handrücken fuhr, dabei den Ärmelsaum nach oben schob, der seine Hände bisher halb bedeckt hatte. Adrien wollte die Hände wegziehen, doch der Griff darum war zu fest.
,,Er wurde verletzt!" Der agressive Unterton in der tiefen Stimme seines Vaters ließ ihn zurückzucken, wurde jedoch weiterhin nicht von dem Mann angesehen, der lieber wütend die anderen Personen im Zimmer anstarrte, als trugen sie die Schuld daran -
Adriens Gedanken waren blank - er musste irgendetwas grundlegendes verpasst haben - oder?
Als Gabriel Adrien schließlich losließ, nahm der Arzt seinen Platz ein, schob Adriens Ärmel hoch zu seinen Ellenbogen. Er gab so den Blick frei auf die beiden Blutergüsse, die die Handgelenke wie ein Ring umschlossen - mit gestochen scharfen Konturen in Form einer Hand.
Die Stellen stachen, als der Arzt vorsichtig die Haut berührte, dass Adrien zischend einatmen musste. Ihm wurde bewusst, wie viel stärker ein Mensch wurde, physisch gesehen, wenn er sich mit einem Miraculous verband.
,,Monsieur Agreste - ", sagte die Polizistin jetzt, doch Adrien sah sie nicht an, starrte auf die Hände des Arztes neben ihm. - ,,Letzte Nacht wurde eine Krankenschwester angegriffen, genau vor ihrem Zimmer."
Adrien merkte, dass sich die Frau Mühe gab, vorsichtig mit ihm zu reden, als bestünde er aus dünnem Glas. Er bemerkte aber auch ihre Ungeduld, die zweifelsohne von seinem aufbrausenden Vater verursacht wurde.
,,Es gab keine weiteren Zeugen. Hast du gesehen, wer das war?"
,,Natürlich hat er das, er wurde angegriffen!"
Gabriel Agreste fauchte beihnahe, die Miene von kühler Wut verzerrt. Adrien kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut - gleich würde er Adrien nach Hause nehmen wollen, da er alle anderen für zu inkompetent hielt, so wie er es oft getan hatte - in der Schule, bei seinem letzten Klavierlehrer, in der Schule, bei dem Fotoshooting im letzten Jahr, in der Schule - Der Gedanke half ihm, seinen Kopf zu klären, die letzten Reste der Gefühle schluckte er runter.
,,ShadowMoth", sagte er leise, der Name kam kaum über seine Lippen. Er brachte kurz alle Anwesenden zum Schweigen.
Adrien konnte genau sehen, wie die Farbe aus ihren Gesichtern verschwand, als hätte er ihre schlimmste Befürchtung mit diesem einen Wort wahr gemacht - im Gegensatz dazu, nahm die Gesichtsfarbe seines Vaters zu.
,,Sie werden meinen Sohn entlassen. Heute schon. Wenn sie nicht in der Lage sind die Sicherheit in diesen Haus zu gewährleisten, ohne dass ich Leibwächter an seine Tür stelle -" Adrien unterbrach seinen Vater, bevor dieser sich in Rage reden konnte.
,,Er ist durch das Fenster gekommen, das du offen gelassen hast." In seiner Stimme klang keine Emotion mit, Adrien fühlte sich seltsam kalt, als er das sagte, während sein Vater verstummte.
Adrien wollte plötzlich, dass sie alle gehen würden, er wollte wieder alleine sein - denn selbst als sie schwiegen, waren sie ihm zu laut. Er ballte die Hände zu Fäusten, versuchte an der Klarheit im Kopf festzuhalten. Er bemerkte erst, dass er seine Fingernägel in die Handflächen bohrte, als der Arzt seine Finger wieder löste, bevor der Mann die Stille brach.
,,Es sind nur Blutergüsse. Das sieht schlimmer aus, als es ist, es sind keine weiteren Muskeln oder Sehnen verletzt worden. In wenigen Tagen sollten die Stellen wieder verheilt sein, vorsichtshalber solltest du sie mit kühlenden Schmerzsalben behandeln."
,,Natalie, packe sie Adriens Tasche. Ich rufe den Wagen." Rigoros ignorierte Gabriel Agreste den Arzt, griff bereits beim Hinausgehen nach seinem Telefon, während Adrien die Anwesenheit der schwarzhaarigen Assistentin seines Vaters erst jetzt wahrnahm. Der Arzt saß noch immer neben ihm auf dem Bett, wirkte alles andere als glücklich, während die beiden Polizisten im Raum ihre Fassung zurückgewannen.
,,Bei allem Respekt, Monsieur, wir können den Jungen noch nicht -"
,,Wir fahren nach Hause. Wenn sie von meinem Sohn noch eine Aussage wollen, machen Sie einen Termin aus."
Adrien konnte nicht anders, als bei jedem der scharfen Worte seines Vaters zusammenzuzucken, als wären es Schläge. Die Polizistin reagierte nicht anders und verstummte, mit empörten, aber eingeschüchterten Gesichtsausdruck. Adrien konnte es der älteren Frau nicht verdenken. Sein Vater ließ keine Widerworte zu - nicht, wenn er wütend war (und auch sonst nicht).
Gegen seine harschen Worte, hatte Adrien noch nie etwas aussetzen können - nur als Chat Noir - es war schon ewig her, aber er erinnerte sich, dass er es geschafft hatte, seinen Vater tatsächlich anzuschreien (er hatte es sofort bereut, auch wenn es sich gut angefühlt hatte und Chat damals unter Stress gestanden hatte - schließlich war ein Akuma hinter seinem Vater her, während sie sich bei ihm Zuhause verschanzt hatten und er gleichzeitig verhindern musste, dass irgendwer - vorallem Nino und sein Vater - herausfand, dass Adrien Chat Noir war).
Eine ruckartige Bewegung neben ihm, riss ihn aus den Gedanken, als der Arzt aufstand, sich an Natalie wandte, die gerade begonnen hatte, Adriens Klamotten aus dem Schrank zu holen. Gabriel war schon nicht mehr ihm Raum.
,,Ich werde ihnen aufschreiben, welche Medikamente Monsieur Agreste weiterhin nehmen muss - Er muss weiterhin regelmäßg zur Untersuchung und zur Physiotherapie. Und er muss die Entlassungspapiere unterschreiben." Der Mann wirkte recht unzufrieden und zu Adrien Überraschung, ging es Natalie nicht anders - er kannte die Frau gut genug, um durch ihre kühle, professionelle Maske sehen zu können.
Die beiden Polizisten wirkten dagegen ein wenig fehl am Platz - der eine Beamte schrieb sich gerade Notizen auf einen Block, während seine Kollegin ein wenig überrumpelt wirkte - so wie jeder, dem Gabriel Agreste zum ersten Mal außerhalb der Presse begegnete.
Adrien seufzte leise, schluckte dieses beklemmende Gefühl wieder herunter, was aufsteigen wollte. Er ertastete die beiden Mirauclous in seiner Tasche und schloss die Augen, bevor er den Mund wieder aufmachte. Er wollte nicht mehr, Müdigkeit überrollte ihn, doch gleichzeitig wusste er, dass er das hier nicht aufschieben wollte. Er wollte die letzte Nacht vergessen.
,,Ich sag' Ihnen, was passiert ist", sagte er mit brüchiger Stimme, die leiser war, als er wollte - kurz hatte er Angst, die Beamten hätten ihn nicht gehört, bis sich die Polizistin ihm wieder zuwandte.
***
Der Weg vom Zimmer bis zum Hintereingang war die Hölle. Es war mittlerweile Nachmittags, die Gänge waren voller Mitarbeiter, Kranker und Besucher, die alle glotzten, als wäre er ein Fisch auf dem Trockenen (so fühlte er sich auch).
Adrien hatte darauf bestanden, sich selbst umzuziehen - er wollte auf keinen Fall, dass jemand dem Ring und den Ohringen zu nahe kam, musste sie unter allen Umständen vor ihren Blicken entziehen, als er die Pyjamahose mit einer lockeren Jogginghose tauschte. Nur seine Schuhe - die hatte Natalie ihm anziehen müssen. Er hatte sich schrecklich gefühlt, als sein eigener Rücken ihn daran hinterte, an seine eigenen Füße heranzukommen.
Er hatte sich noch schrecklicher gefühlt, als der Arzt ihm einen Rollstuhl ins Zimmer geschoben hatte. Adrien hatte die Vernunft zu ignorieren versucht, die ihm sagte, dass er es niemals auf seinen eigenen Beinen schaffen würde, mehrere Stockwerke nach unten zu gehen (die zwanzig Schritte in der letzten Nacht waren schon zu viel gewesen).
Adrien fühlte sich absolut hilflos, als Natalie ihn durch die Flure schob, während er scheinbar alle Blicke magnetisch anzog. Der Wunsch zu fliehen wurde übermächtig, doch unmöglich zu erfüllen - und da war auch keine Bettdecke mehr, unter der er sich verstecken konnte.
Die Lampen an den Decken leuchteten zu hell, der Flur war zu eng, da waren keine Fenster, die ihm den Blick nach draußen ermöglichten. Der Flur war zu voll, da waren immer fremde Menschen, egal wohin er sah. Hinter jeder Ecke glaubte er Schatten zu sehen, die im purpurnen Glühen aufgingen, bis er blinzelte, und die Schatten wieder dunkel wurden. Der Flur war zu voll, aber vor allem war es zu laut. Wortfetzen ohne Sinn, Atmen, Herzklopfen, ein Lachen, ein Jammern, ein Streit, ein Gespräch, das Flüstern und Raunen, erstaunte Ausrufe, wenn sie mit den Fingern auf ihn zeigten und ein Kind zu laut rief - ,,Maman, das ist der Junge aus der Werbung!"
Adrien schloss die Augen wieder, aber das machte den lauten Sturm nicht leiser. Es löschte nicht die Schatten, ließ sie nur wachsen, bis er sich vor Nichts erschreckte, den Kopf drehte, da er dachte, die Schatten würden ihm zu nahe kommen - es war nur das leise Summen der Aufzugtüren, die sich hinter ihnen schlossen.
,,Ist alles in Ordnung, Adrien?" Natalie schob ihre Brille auf der Nase wieder hoch, musterte ihn mit besorgten Gesichtsausdruck. Die plötzliche Stille des Fahrstuhls ließ sein Herz nur lauter klopfen, Adrien versuchte sich zu entspannen. Er wollte nickten, doch stattdessen zuckte sein Kopf nur, während er mit den Schultern zuckte.
Die Miraculous drückten gegen seine Handfläche, als er sie umklammerte, der spürte eine sachte Berührung an seiner Brust, dort, wo sich Tikki und Plagg in der Innentasche der Fleecejacke versteckt hatten, die er trug. Für die Kwamis musste sich sein Herzschlag anhören, wie der Schlag eines Hammers.
Natalie seufzte nur auf seine Reaktion, legte ihre Hand auf seiner Schulter ab. Anders als bei Gabriel, war ihm die Berührung diesmal nicht unangenehm - vielleicht lag es daran, dass sie alleine waren, das kein Fremder ihn beobachtete, wie zuvor die Polizisten.
,,Dein Vater hat vorschnell gehandelt. Du solltest noch nicht entlassen werden", sagte die Frau leise, während Adrien den Kopf drehte, um zu ihr aufsehen zu können.
,,Ich habe das eigentlich schon früher erwartet", sagte Adrien leise, war selber überrascht, über die feste Stimme, die er auf einmal hatte. Natalie schüttelte nur den Kopf. - ,,Vier Wochen, Adrien, du bräuchtest zwei Monate, mindestens."
Die würde er auch kriegen - denn auch wenn sein Vater so unachgiebig kalt wirkte, wusste Adrien, dass sich der Mann auch sorgte - und das nicht nur bei ihm. Er erinnerte sich, dass Natalie einmal sehr krank gewesen war. Sie hatte monatelang das Bett nicht verlassen, bis es ihr langsam wieder besser gegangen war und Gabriel hatte sie in der Zeit kein einziges Mal überansprucht.
,,Du musst mir versprechen, dass du dich nicht überanstrengst, Adrien", verlangte Natalie noch, und obwohl Adrien diesmal nickte, war da dieser Gedanke im Hinterkopf, der sich hartnäckig wieder in den Vordergrund rückte und sein Nicken als Lüge strafte.
Ein Gedanke, den Adrien bisher wochenlang ignorieren konnte.
***
Vor der Fahrt durch die Straßen von Paris hatte er sich am meisten gefürchtet. Am Ende hatte er sie verschlafen. Die Müdigkeit hatte seine Gefühle einfach verschluckt und der Gedanke, das Krankenhaus hinter sich zu lassen, half, die Schatten endgültig zu vertreiben, die ShadowMoth hinterlassen hatte.
Adrien wachte in seinem Zimmer wieder auf, in seinem eigenen Bett, unter seiner eigenen Bettdecke. Für einen kurzen Augenblick lagen seine Gedanken blank. Es war so wie früher.
Einfach nichts hatte sich hier verändert, als wäre er in eine Zeitkapsel getaucht - Es waren die gleichen hohen Wände, die gleiche Kletterwand und dasselbe weiße Sofa vor dem Flachbildfernseher. Es war derselbe Schreibtisch mit dem Computer, der gleiche Boden, die gleichen hohen CD-Regale oben auf der Galerie, derselbe Tischkicker in der Ecke, dasselbe riesige Fenster. Er konnte die gegenüberliegenden Dachplatten der Häuser sehen, die immer noch grau waren.
Nur das Wetter war anders - dicke, raue Wolken, die schwer in der Luft hingen und keine Sonne zeigten, die gerade untergehen sollte. Nur die Bäume waren anders, ragten mit ihren nackten Zweigen in den Himmel auf. Nur der Efeu, der an seinem Fenster wuchs, war anders, die immergrünen Blätter größer, die Ranken länger, dass sie bereits mehrere Centimeter über der unteren Fensterbank hervorlugten. Nur die Gesellschaft, die er hatte, war anders, denn es waren nicht nur Grüne, sondern auch dunkelblaue Augen, die ihn in dem unbeleuchteten Raum ansahen.
Das altbekannte Gefühl, zu ersticken, überrollte ihn, dass er ruckartig hochfur, sich aus dem Bett zog, knapp an der Matratzenkante stoppte - er hielt die Miraculous immer noch in der rechten Hand, hatte sie selbst im Schlaf nicht losgelassen. Als er ausatmete, verstummte das Gefühl, machte Platz für ein anderes. Ein Druck auf den Schultern.
Langsam steckte er sich den silbernen Ring auf den Finger. Hier im Halbdunkeln, schien das Schmuckstück unheimlich weiß zu leuchten, auch wenn das nicht der Fall war - zumindest für die Augen Außenstehender. Sonst hätte er sich schon längst verraten. Seine Finger zitterten, als er leise nach dem Nachtschrank griff, die Schublade aufzog, die unheimlich schwer wirkte. Sein Blick fixierte das Foto, was darauf stand, die blattgrünen Augen seiner Mutter, die ihm entgegenlächelte.
In der Schublade lag ein Kästchen, aus schwarzem Samt. Darin eine silberne Kette aus feinen Ösen, ein kleiner silberner Kreis als Anhänger. Die Kette hatte seiner Mutter gehört. Und er bewahrte sie auf, wie einen Schatz, auch wenn sie nicht wertvoll war und auch nicht ihr Lieblingsschmuck gewesen war und auch keine besonders wichtige emotionale Bedeutung für sie gehabt hatte. Aber es war das einzige, was sein Vater nicht beschützte, wie kostbare Edelsteine - das Einzige von seiner Mutter, was nicht von Gabriel Agreste weggeschlossen wurde, versteckt wurde, aufbewahrt wurde.
Adriens Griff um die Ohrringe wurde lockerer, als er den Blick darauf warf. Das dunkle Silber leuchtete nicht, war mehr ein schwarzer Fleck in der Dunkelheit. Die fünf winzigen Onyxsteine, die die Marienkäferpunkte darauf abbildeten, hatten ebenfalls eine andere Farbe angenommen, genau wie das rot in silber - wirkten jetzt mehr wie kleine weiße Perlen statt schwarzer Onyx.
Er brauchte ewig, den Verschluss der Kette zu öffnen, bevor er die feine Kette durch die Ösen der Ohrringe fädelte, die Kette erst an seinem Nacken wieder verschloss, sich die Kette umhängte. Die Ohrringe ruhten auf seiner Brust, wirkten schwerer, als sie waren. Adrien wagte es nicht, die Ohrringe tatsächlich zu tragen - also an den Ohren - es war zu gefährlich, die Miraculous von Yin und Yang zu kombinieren, war es doch genau das, was ShadowMoth damit wollte.
Aber ablegen wollte er die Ohrringe Ladybugs auch nicht.
Tikki hatte ihn die letzten Minuten stumm beobachtet. Als sie schließlich ihre sanfte Stimme erhob, durchbrach der Klang die Stille des Zimmers. Früher war es hier im Zimmer nie wirklich still gewesen - es war der Klang von Klaviertasten, der Klang eines Videos auf dem Computerbildschirm, der angeschaltete Fernseher. Plaggs Beschwerden, seine Witze, seine vorlauten Ausdrücke - das Schmatzen, wenn er seinen Käse aß, das leise Schnarchen, wenn er schlief.
Tikkis Stimme war neu in diesem Raum.
,,Ich will dich nicht belasten, Adrien", fing sie an und Adrien wusste sofort, was sie sagen wollte. Es war derselbe Gedanke, der ihm vorhin im Aufzug des Krankenhauses gekommen war. Es war das gleiche, woran Tikki ihn schon die letzten Wochen immer wieder erinnert hatte.
,,- aber jetzt ist es die beste Gelegenheit, die Miraculous-Schatulle zu holen. Es ist zu gefährlich, sie zu lange da draußen zu verstecken."
Sie hatte recht, so wie immer, doch Adriens Unterbewusstsein wehrte sich dagegen. Es war, als könnte er sich gar nicht mehr bewegen. Der Gedanke an die Schatulle voller magischer Schmuckstücke war ihm zuwider geworden.
Vielleicht blieb sie besser da, wo sie jetzt war - irgendwo auf dem Dach, das keine Bedeutung hatte, für niemanden, außer für Chat Noir.
,,Sie hat recht, Adrien. Dein Vater und Natalie denken du schläfst - kein Arzt kann rein kommen - du hast jetzt Zeit, dich wegzuschleichen."
Adrien musste aufsehen, als der schwarze Kwami vor seinem Gesicht schwebte, ihn mit diesem ungewöhnlich sanften Blick anstarrte. Wegschleichen - er konnte doch gar nicht -
,,Ich kann nicht gehen. Wie soll ich dann auf ein Dach kommen, Plagg?!" fragte Adrien, versuchte nicht allzu verärgert über sich selbst zu klingen - Plagg schnaubte leise.
,,Du sollst ja nicht kämpfen. Außerdem helfe ich dir. Wenn du verwandelt bist, wirst du stärker, das ist immer so. Als Chat Noir kannst du dich bewegen wie vorher."
Adrien blinzelte, als die Worte ihre Bedeutung entfalteten. Daran hatte er nicht gedacht. Kein Stück. Sein Blick fiel auf die blauen Flecken an seinen Handgelenken. Natürlich - wenn ShadowMoth verwandelt übermenschlich stark war, dann war Chat das auch. Es fiel ihm nur so selten auf. Plagg schien Adriens Blick zu folgen, verzog sein Gesicht leicht.
,,Ich kann dir Kraft geben, zu laufen, aber verletzt bist du trotzdem noch. Dein Arm ist noch gebrochen, deine Rippen auch und den Wirbelbruch kann ich so auch nicht heilen. Also, wehe dir, wenn du dich auch nur irgendwie überanstrengst!" Plaggs Stimme wurde leise, verlor aber nichts von ihrer Schärfe.
Adrien versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, tatsächlich wieder über die Dächer von Paris sprinten zu können, schloss seine Augen - draußen an der frischen Luft, wenn es noch nach Regen roch und die Dächer nass waren und sie wieder ein Wettrennen zum Eiffelturm machten - Adrien stoppte sich, atmete tief ein.
Plötzlich wichen die Erinnerungen einem seiner Albträume - beißende Kälte, blendend helles Sonnenlicht, der Geruch von Blut in der Nase und das Reißen auf der Haut, als sich der magische Anzug wieder darüber gelegt hatte - Adrien riss die Augen wieder auf.
,,Wenn ich mich verwandle -", Adrien zögerte, griff an den Ring an seinem Finger. Er fing den Blick seines Kwamis auf.
,,Wird es wieder wehtun?" fragte er schließlich leise. Plaggs grüne Augen fielen auf den Ring, dann wieder zurück zu Adriens Gesicht, bevor er langsam, verständnislos, den Kopf neigte.
,,Es sollte nicht wehtun, Adrien," sagte Plagg vorsichtig, schwebte näher an Adrien heran, der den Ring losließ, sich stattdessen an seinem noch vergipsten Unterarm klammerte.
,,Das hat es aber, Plagg. Es hat wehgetan."
Plagg zögerte, musterte den leidenden Gesichtausdruck Adriens, legte die Ohren schließlich an. - ,,Wenn du dich psychisch dagegen wehrst, dann kann es schmerzen."
Adrien blieb still. Plagg hatte direkt ins Schwarze getroffen, auch wenn es sich Adrien nicht wirklich bewusst gewesen war. Er wollte sich nicht verwandeln, das hatte er die ganze Zeit nicht mehr gewollt. Aber gleichzeitig sehnte er sich danach, Chat Noir blieb sein Ankerpunkt, etwas, was ihn weiterhin mit Ladybug verband - oder war dieses Band vielleicht wirklich zerrissen, als er sie zurückgelassen hatte? Als er die damals allein gelassen hatte?
Plagg deutete seine Haltung richtig, kuschelte sich tröstend an seine Wange. Tikki hielt sich im Hintergrund. Adrien spürte ihren Blick weiterhin, wagte es aber nicht, das Marienkäfermädchen anzusehen. Er hatte Angst, ihre Enttäuschung zu sehen.
,,Ich kann dir nicht versprechen, dass es wieder gut wird. Aber es wird besser. Das kann ich dir versprechen."
Eine Träne lief über Adriens Wange, landete auf Plaggs Kopf, der sich nicht beschwerte - Adrien stattdessen weiterhin Wärme schenkte.
,,Danke -", hauchte Adrien nur, bevor er sich zusammenriss - unwillkürlich hielt er den Atem an, als er die magischen Worte schließlich flüsterte und es fühlte sich an, als hätte er sich getraut, in einen Abgrund zu springen und nun ungebremst zu fallen.
Die Magie des Miraculous brannte förmlich, als würden Flammen ihn umzüngeln, doch Adrien ließ die Augen geschlossen, hielt den Atem zurück, ertrug es, bis die Hitze der Verwandlung zu einer sanften Wärme verpuffte.
Überrascht spürte er noch immer einen Kwami in der Nähe - Chat Noir erkannte, dass es Tikki war, die sich auf seiner schwarzen Schulter niedergelassen hatte. Sie sagte nichts, aber der Blick ihrer blauen Augen reichte aus, um ihm dasselbe zu zeigen, was Plagg bereits gesagt hatte. Chat Noir verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln - er konnte nicht sprechen, schenkte ihr nur diese Geste. Tikki lächelte zurück.
Chat Noir brauchte zwei Versuche, um aufzustehen. Er spürte immer noch die Kette, die an seinem Hals hing, unter dem Anzug. Er spürte auch die Kraft, die Plagg ihm verlieh und in seinen Adern pulsierte.
Es kostete ihn keine Kraft, die Beine zu bewegen, auch wenn die ersten Schritte ein wenig wackelig waren, bevor er sein Gleichgewicht fand.
Er konnte laufen - er konnte es einfach - auch wenn er die Beine trotzdem nicht spüren konnte.
Kurz entschlossen lief Chat geradewegs zu dem großen Fenster, während Tikki weiterhin auf seiner Schulter sitzen blieb - lauschte noch kurz, aber außerhalb seines Zimmers war das Haus unheimlich still. Und bevor er es sich wieder anders überlegen konnte, hangelte sich Chat aus dem offenen Fenster, hockte sich auf den Fensterrahmen. Doch sein Rücken fühlte sich ungewohnt normal an.
Also griff er nach dem silbernen Stab an seinem Rücken, benutzte ihn als Stütze, während er schließlich vom Fenster absprang. Durch das fehlende Gefühl in den Beinen fühlte sich jede Bewegung irgendwie wie ferngesteuert an - als würde er auf Kissen laufen, wenn er auf dem nächsten Dach landete und wieder absprang.
Der Wind in den Haaren wirkte vertraut und doch fremd. Die kalte Luft wie ein Mantel, die Dunkelheit der späten Dämmerung wirkte einladend und die Schatten wirkten nicht mehr finster, konnte er nun darin jedes Detail erkennen.
Den Weg zu dem geheimen Dach fanden seine Füße automatisch. Nur wurden seine Schritte immer langsamer, bis er, nur ein Dach entfernt, zum Stehen kam.
Dieses Mal würde Ladybug nicht auftauchen, um ihm Gesellschaft zu leisten und still Trost zu schenken. Dieses Mal würde niemand kommen, um ihn aufzuheitern. Das Dach würde leer bleiben. Chat Noir würde alleine bleiben.
Vor vier Wochen war er nicht in der Lage gewesen, darüber nachzudenken. Nur sein Verstand brachte ihn schließlich dazu, den verlassenen Ort erneut zu betreten.
Die Schatulle lag schon viel zu lange in diesem Lüftungsschacht. Da hatten Tikki und Plagg recht.
Sie lag tatsächlich noch da. Das Gitter vor dem Schacht quietschte leise, als er es entfernte, das Metall war eiskalt unter seinen Fingerspitzen. Als die Schatulle wieder in seinen Händen lag, wog sie Tonnen - so kam es ihm vor. Sie war immer noch rund, hellrot mit schwarzen Punkten. Auf der Unterseite klebte getrocknetes Blut.
Mein Blut, dachte Chat, kratzte mit den Krallen darüber, bis es ab war. Tikki beobachtete ihn still dabei, bevor sie sie an ihn wandte.
,,Wo wirst du sie verstecken?" fragte sie leise, doch Chat schüttelte nur mit dem Kopf.
,,Das spreche ich besser niemals aus, Tikki. Das sollte niemand hören." Seine Stimme hörte sich überraschend beherrscht und ruhig an - obwohl er sich überhaupt nicht so fühlte. Er wollte von diesem Dach einfach nur weg. Es war, als wäre es entweiht worden, als läge eine Decke der Leere darüber - dieser Ort wurde verlassen, und er sollte nun auch verlassen bleiben.
Dieser Ort würde alleine bleiben, weil Chat es auch war.
Den Rückweg über schwieg Chat Noir eisern, auch Tikki blieb wieder still. Er war nicht mehr müde, dafür sorgten die Gedanken in seinem Kopf. Es war seltsam, wieder über den Dächern zu sein, als wäre nichts geschehen.
Chat Noir achtete darauf, dass keiner der wenigen Menschen dort unten auf den Straßen ihn sehen konnte. Er würde ihre Blicke nicht aushalten.
Sein Zimmer wirkte so verlassen wie das Dach - auch wenn er eben noch hier gewesen war. Er verwandelte sich nicht zurück, hielt die Schatulle unter dem Arm geklemmt. Er benutzte nicht die Wendeltreppe, überwand die Höhe zur Galerie mit seiner Waffe. Sogar Adrien war selten hier oben (nur wenn er sich eine neue CD oder ein Buch holen wollte) und das konnte er jetzt eh nicht mehr. Weder sein Vater, noch Natalie, noch einer der Bodyguards war je auf dieser Galerie. Und das Putzpersonal kam nicht in sein Zimmer.
Vorsichtig stellte Chat die Schatulle vor sich auf den Boden ab, als hätte er Angst, sie könnte zerbrechen. Lautlos zog er eine Reihe der Bücher aus dem Regal, allesamt Kinderbücher - dicke Wälzer voller Märchen, Bilderbücher über Tiere und ein Weltatlas für Kinder. Aus den Märchenbüchern hatte ihm seine Mutter immer vorgelesen, deswegen hatte er sie noch. Aber benutzen tat er sie nie (und auch sonst keiner) - und vorallem würde sein Vater deswegen auch nie auf die Idee kommen, diese Bücher mal auszusortieren, selbst wenn er noch wissen sollte, dass die Bücher existierten - was Chat Noir bezweifelte.
Dieses Regalbrett war sein Geheimversteck. Das Fach war genauso tief, wie alle anderen, in denen durchaus zwei Reihen Bücher hineinpassen würden, so tief war das Regal - Adrien stellte sie stets an den Rand, ließ eine Lücke hinter den Büchern.
Dieses Fach war weniger tief.
Eine dünne Holzplatte war als Rückwand eingesetzt worden, das hatte er selbst getan, nachdem sein altes (eher dürftiges) Geheimversteck in einem Fechtpokal aufgeflogen war. Die Fotos, die er früher aber hatte verstecken wollen (die von Ladybug), die hatte er schon länger nicht mehr. Jetzt lag dort drin eigentlich nur die kleine sechseckige Holzkiste mit den roten Verzierungen.
Die kleine Schatulle, in der das Katzenmiraculous gelegen hatte.
Die hatte auch keiner finden dürfen.
Die Miraculous-Schatulle passte knapp in den Zwischenraum zwischen falscher Regalwand und Zimmerwand. Chat Noir schob das Holzbrett davor, stellte die Bücher zurück.
Es sah aus wie vorher. Perfekt.
Chat Noir wich von dem Regal zurück, zurück nach unten - doch das Zurückverwandeln grauste ihn. Es wäre wohl am besten, wenn er sich jetzt wieder hinlegen würde, sich zurückverwandelte. Sich nicht überanstrengte, wie Plagg ihm gesagt hatte.
Doch sein Zimmer wirkte überhaupt nicht mehr einladend, als hätte die Schatulle die seltsame Stimmung von dem Dach mit sich genommen. Das Haus war immer noch still.
Vorsichtig wich Chat Noir noch drei Schritte zurück zum Fenster. Er wusste nicht, wie Tikki darauf reagieren würde - doch das Kwamimädchen saß weiterhin ruhig auf seiner Schulter, starrte ihn mit diesem wissenden Blick an.
Also drehte sich Chat Noir wieder um, sprang wieder aus dem Fenster nach draußen. Die Dämmerung war mittlerweile der Nacht gewichen. Er wusste nicht, wie spät es war, aber der Himmel war schon schwarz und die Straßen von Paris waren noch leerer als vorhin - nur einzelne Autos beleucheten den Asphalt mit den Scheinwerfern, während Chat Noir über ihnen vollständig im Schatten der Nacht verschwand.
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Hellooo^^
Puuhh, noch geschafft xD (Also diese Woche noch :/ Habe es Mittwoch einfach vergessen, ein neue Kapitel zu posten xD)
Ich musste mich die ganze Zeit zurückhalten, um Gabriel nicht in ein schlechtes Licht zu rücken (zumindest nicht so doll, wie ich es gerne tun würde), denn er ist ein schrecklicher Vater (meiner Meinung nach), auch in der Serie (vorallem in der jetzigen Staffel), aber das ist ja aus Adriens Sichtweise geschrieben, nicht aus meiner. (Ich hoffe, das ist mir gelungen xD)
Alsooo... lasst gerne wieder ein Kommentar da und nochmal danke an alle, die das bisher schon getan haben <3
Ich wünsche euch noch einen schönen Abend und bis nächste Woche ^^
LG Danni
Artwork
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