8
Um meinen kreisenden Gedanken zu entgehen, suchte ich Juli, doch dieser war noch mit Hausaufgaben und Lernen beschäftigt.
Mama und Papa schauten einen Film, auf diesen hatte ich aber keine große Lust.
In meinem Zimmer tigerte ich rastlos hin und her, selbst nicht wissend, warum.
Aus Verzweiflung über mich selbst machte ich dann tatsächlich Julis Biohausaufgaben, während er sich Geschichte widmete.
Selbst seine Matheaufgaben, die er eigentlich nicht mal machen wollte – er gestand, er wolle sie von einem Kumpel abschreiben, dafür bekam dieser die Französischaufgaben – waren vor mir nicht sicher.
Mein kleiner Bruder bedachte mich dafür zwar nur mit einem verwirrten Blick, doch ich wusste, dass ich, sobald er keine Klassenarbeiten mehr schrieb, ausgequetscht werden würde wie eine überreife Zitrone.
Hey, ich bin's, Henry
Wollen wir um halb zehn los?, wurde ich am nächsten Morgen von meinem vibrierenden Handy geweckt.
Mit halb geschlossenen Augen tastete ich wild nach dem Störenfried, welcher mir zu allem Übel auch noch fast das Augenlicht raubte.
Warum nur dachte ich abends nie daran, die Helligkeit herunter zu drehen und den Blaufilter einzuschalten?
Als meine Augen nicht mehr tränten, gab ich Henry das Okay.
Wieso war er heute schon so früh wach?
Es war gerade mal halb sieben, definitiv zu früh, wenn man ausschlafen konnte.
Nachdem ich aber einmal wach war, konnte ich nicht mehr einschlafen, weshalb ich mich zu meinem Bruder an den Frühstückstisch gesellte.
Dieser war aber nicht ansprechbar, er hatte seine Nase tief in die Englischvokabeln gesteckt.
Nach und nach leerte sich das Haus, während draußen gerade erst die Sonne aufging.
Ziellos marschierte ich von Zimmer zu Zimmer und überlegte verzweifelt, was ich anziehen sollte.
In diesem Moment war es mir ziemlich schnuppe, dass ich mich gerade wie das totale Klischee-Mädchen verhielt.
Ratlos stand ich vor meinem offenen Kleiderschrank und jammerte: „Ich hab nichts anzuziehen!"
Gut, ich hatte zwar einige viele Kleidungsstücke, aber nichts war darunter, was ich anziehen wollte und das auch noch dem Wetter angepasst war.
Schlussendlich griff ich – wie eigentlich immer – zu Jeans und einem einfachen Shirt.
So viele andere Möglichkeiten hatte es auch nicht gegeben, ich hätte höchstens die Farbe des Oberteils ändern können.
Wenigstens hatte ich heute das Bad für mich allein, weshalb ich in aller Seelenruhe mein Handy auf volle Lautstärke drehte, meinen YouTube-Mix startete und begann, mich zu schminken.
Doch auch damit war ich viel zu schnell fertig.
Meine übliche Morgenroutine hatte sich seit der neunten Klasse nicht wirklich verändert, weshalb ich meist nur etwas mehr als fünf Minuten brauchte.
Etwas Concealer unter die Augen und auf eventuelle Pickel, Mascara, etwas Rouge oder Bronzer, da ich sonst aussah wie Draculas Tochter und Lippenstift.
Ach ja, ich und meine Lippenstifte... was in der fünften Klasse mit klebrigem und eigentlich absolut ekelhaftem Lipgloss begonnen hatte, hatte sich zu einer echten Liebe zu Lippenprodukten in allen möglichen halbwegs natürlichen (oder auch nicht natürlichen) Farbtönen entwickelt.
Einige Zeit später, in der ich eifrig vor dem Badezimmerspiegel getanzt und gesungen hatte, wechselte ich in den Flur, da dort die Akustik einfach besser war.
Dies war der Vorteil, wenn man endlich mal alleine daheim war, wurde mir wieder einmal bewusst.
Meine Eltern hatten sich schon während meiner Schulzeit darüber lustig gemacht, doch ich sang am liebsten im komplett leeren Haus.
Hier sah und hörte mich keiner (oder zumindest sah ich keinen, der mich hörte), und ich hatte meine Ruhe.
Keiner rief genervt nach oben, ich solle endlich mal meine Klappe halten, diese gregorianischen Gesänge würde ja keiner aushalten.
Meine Plädoyers, ich sänge definitiv keine gregorianischen Stücke, wurden einfach überhört... Ach ja, meine liebe Familie...
Ich hatte sie ja alle wirklich lieb, aber manchmal hätte ich sie nur all zu gerne auf den Mond geschossen.
Oder sogar noch weiter weg.
Als es dann endlich kurz vor halb zehn war, schnappte ich mir noch meinen Mantel und meine Stiefel und ging zu Henry.
Mittlerweile machte sich auch mein fehlender Schlaf bemerkbar, immer wieder konnte ich mir ein Gähnen nicht verkneifen – im Gegensatz zu meinem Nachbar, welcher heute topfit aussah. Als er mich beim Öffnen der Türe schief anlächelte, schmolz ich beinahe dahin.
Nur die frostigen Temperaturen verhinderten, dass ich mich in ein kleines Pfützchen mit Herzchenaugen verwandelte.
Wie schon gestern konnte ich das Auto nicht so fahren, wie es es verdient hatte.
Die Straße war immer noch mit Schnee und Eis überzogen, sie war zwar wohl geräumt worden, davon war nun aber nicht mehr viel zu sehen.
Und schon bald konnte ich nicht mehr einmal konstante 50 fahren, da ein Traktor vor uns aufgetaucht war.
Grüßend hupte ich zweimal, woraufhin der Fahrer, der sechzehnjährige Leo aus dem Nachbardorf, den Gruß mithilfe der Warnblinkanlage erwiderte.
„Du kennst ihn?", fragte Henry erstaunt.
„Leo Haller, sechzehn, fährt öfter mit dem Traktor zur Schule", gab ich ihm die Kurzfassung. „Ach so, verstehe – warte, er fährt mit dem Traktor wohin?", erhielt ich einen irritierten Blick von rechts.
„Zur Schule", wiederholte ich.
„Aber? Ich meine, wieso? Ich meine, hä?"
„Henry, Leo ist sechzehn, hat den Führerschein, darf aber noch nicht alleine Auto fahren.
Es ist Winter, die Zugverbindung ist eher suboptimal und er hat, wie es aussieht, heute erst extrem spät Unterricht.
Fast jeder von uns ist schon mal mit dem Traktor zur Schule gefahren.
Das einzige Problem war immer nur, dass man entweder Wechselklamotten mitnehmen oder den Traktor vorher sehr sauber putzen musste.", schmunzelte ich amüsiert.
Henry schien diese Information erst einmal zu verdauen müssen.
„Es ist echt, als ob ich in einem komplett anderen Universum gelandet wäre", murmelte er, wohl eher zu sich selbst.
„Du bist auch schon so in die Schule gefahren?", hakte er dann etwas ungläubig nach.
„Jap, aber im Sommer.
Ich hatte verschlafen, der nächste Zug wäre in knapp vier Stunden gefahren und ich war alleine zu Hause.
Tatsächlich habe ich es geschafft, noch rechtzeitig zu kommen", bei der Erinnerung daran schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Die Parkplatzsuche war eine ganz schöne Herausforderung gewesen, ein Traktor war schließlich kein kleines Auto.
Und ihr könnt mir glauben, die Leute beim McDonalds-DriveIn machen ganz schön dumme Gesichter, wenn man in der Mittagspause mit dem Traktor hinfährt und für die halbe Stufe Mittagessen besorgt...
Ja, das waren Zeiten gewesen, in der Kursstufe hatten wir alle solchen Blödsinn gemacht.
Immer noch grinsend schaltete ich den Radio an und stellte meinen Lieblingssender ein. Während wir langsam hinter Leo her tuckerten, da Überholen auf der schmalen Straße voll mit Schnee unmöglich war, sang ich fröhlich mit dem Radio mit.
Ja, ich hatte in der Fahrschule gelernt, dass Müdigkeit nicht mit Musik kompensierbar war, aber mal ehrlich – man hatte mir als Kind auch immer gesagt, dass ich, wenn ich zu Fuß unterwegs war, keinesfalls Ohrstöpsel in den Ohren haben solle.
Henry hörte mir nur amüsiert zu, gab aber keinen einzigen Mucks von sich, was mir auf Dauer zu blöd wurde.
„Sing mit!", forderte ich ihn auf.
Aus dem Augenwinkel meinte ich zu erkennen, wie sich seine Augen entsetzt weiteten, doch als ich ihn anblickte, war davon nichts mehr zu sehen, und so lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne.
„Das... Das geht nicht", räusperte er sich.
„Und warum nicht?", kam es natürlich prompt von meiner Seite.
Wer hätte auch nicht nachgefragt?
„Ich kann nicht singen"
„Jeder kann singen!"
„Nein, ich nicht. Ich bin in etwa so musikalisch wie ein taubes Nashorn!"
Damit hatte er mich aus dem Konzept gebracht.
„Ein taubes was?"
„Nashorn."
Wurde da etwa jemand rot?
Jetzt war ich die, die mit amüsierten Blicken um sich warf.
„Och komm schon", bettelte ich weiter.
Nein, aufgeben würde ich nicht.
Jeder, aber nicht ich.
„Glaub mir, du würdest davon Ohrenkrebs bekommen", blieb jedoch auch Henry hartnäckig.
Um des lieben Friedens willen lenkte ich schließlich ein, schwor mir aber im Stillen, dass ich ihn schon noch zum Singen bringen würde.
Das hatte ich bis jetzt noch bei jedem geschafft!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top