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Da betrat auch Henry das Zimmer, vorsichtig stellte er zwei Tassen auf den Tisch.
„Ich hoffe, du magst heiße Schokolade?", blickte er mich fragend an.
Lächelnd erwiderte ich nur ein „Perfekt!", da mein Blick auf die Gitarre gefallen war, die in der Ecke lehnte.

Wie hypnotisiert sprang ich auf und steuerte auf sie zu.
„Darf ich?", brachte ich mit funkelnden Augen hervor.
Henry nickte nur grinsend, und so strich ich sanft über das Holz.
„Das ist Palisanderholz!", erkannte ich sofort.
Dies brachte mir einen erstaunten Blick ein, aber das war mir egal.

Vorsichtig nahm ich sie und brachte die Saiten zum Klingen.
Doch sofort verzog sich mein Gesicht, dieses Prachtstück war komplett verstimmt.
„Du kennst dich damit aus?", stellte Henry fragend fest.
Ich nickte nur abwesend und konzentrierte mich darauf, die Gitarre einigermaßen zu stimmen. Dann erst antwortete ich ihm: „Ich hab knapp zwölf Jahre lang Unterricht genommen und ja... Scheint, als wäre irgendwas hängen geblieben."

Verlegen blickte ich auf meine Hände.
Normalerweise brachten mich Gitarren nicht so aus dem Häuschen, aber diese war einfach wow.
Ich selbst hatte mir auch einst eine aus Palisanderholz gekauft, und wusste somit, wie teuer das war, aber auch, wie wunderschön der Klang eines solchen Instrumentes war.

„Spiel doch mal was", forderte mich Henry auf, und zunächst zögernd, dann immer sicherer stimmte ich die ersten Töne von „Hallelujah" an, dem einzigen Lied, welches ich wirklich auswendig konnte.
Zaghaft begann ich dann, dazu zu summen.

Als das Lied zu Ende war, blickte ich wieder auf.
Henry hatte den Kopf in seine Hände gestützt und die Augen geschlossen. So fragte er vorsichtig: „Kannst du auch dazu singen? Also du musst nicht, oder so, aber wenn du willst?" Unsicher biss ich mir auf die Lippe.
Ich hatte kein Problem damit, vor Freunden zu singen, aber vor Fremden war das dann doch noch mal etwas ganz anderes...

Mir selbst klarmachend, dass es hier ja um nichts ging, schluckte ich und setzte meine Finger wieder an.
Henry hatte ein Auge geöffnet, welches er aber nun wieder schloss.
Zunächst war meine Stimme noch etwas kratzig, doch nach wenigen Takten wurde ich immer selbstsicherer.

Mit einem Lächeln schlug ich die Saiten noch ein letztes Mal an, die Musik hatte mich vollkommen in ihren Bann gezogen.
Ich hatte vergessen, wo und mit wem ich hier war, sie war alles was ich noch wahrgenommen hatte.
Als die Töne jedoch verklangen, landete ich wieder in der Realität.
Ich wusste, ich war eine ganz passable Sängerin, doch diesem magischen Lied gerecht zu werden war nicht gerade einfach.

Stille beherrschte den Raum, meine Unsicherheit war mit einem Schlag wieder zurückgekehrt. Nervös tippte ich mit meinem Zeigefinger auf das Sofa, bis Henry endlich die Stille brach. „Wow", mehr kam von ihm nicht.
Fragend sah ich ihn an.
„Das war... wow!", wiederholte er und strich sich seine dunkelbraunen Locken zurück, welche vorwitzig in seine Stirn hingen.

Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass meine Wangen in einem leuchtenden Tomatenrot erstrahlten, doch das konnte ich jetzt auch nicht ändern.
Um meine Hände zu beschäftigen, nahm ich einen Schluck aus der nur noch lauwarmen heißen Schokolade und drehte die Tasse in meinen Händen.
„Ich meins ernst", bekräftigte Henry nochmals, und griff ebenfalls nach seiner Tasse.

Dabei fiel mein Blick auf ein Tattoo an seiner Hand, ein kleines Kreuz.
Zuvor war es mir noch gar nicht aufgefallen, doch jetzt stach es mir dafür umso mehr ins Auge. Irgendwo in meinem Hinterkopf begann etwas zu klingeln, aber ich kam nicht darauf, was es war.

„Ich vermute, du spielst auch?", versuchte ich von meinen Sangeskünsten abzulenken.
Und es schien zu funktionieren, Henry ging nämlich nicht weiter darauf ein, sondern bejahte meine Frage: „Ein guter Freund hat es mir vor einigen Jahren beigebracht... das war mal seine Gitarre."

Von Gitarren kamen wir auf verschiedene Lieder, quatschten über Bücher, Hobbys und alles mögliche Weitere.
Google-Übersetzer unterstützte uns dabei tatkräftig, denn ich konnte mich zwar dank vergangener Schuljahre auf Englisch über das Asylrecht, die britische Kolonialzeit und Terrorismus unterhalten, bei einigen Alltagswörtern hörte es aber doch relativ bald auf.
Und Henrys Deutsch war ebenfalls noch etwas ausbaufähig, doch ich fand, er machte seine Sache da doch sehr gut.

Irgendwann stellten wir fest, dass wir sogar beide mal französisch gelernt hatten, doch Henry erinnerte sich fast nur noch an „Je suis allé au cinéma avec mes copains et ma famille", während sich meine Französischkenntnisse so ziemlich auf „Parlez-vous l'anglais ou l'allemand?" sowie „Je suis desolée, mais j'ai oublié mes devoirs" beschränkten.

Gerade als wir uns gegenseitig lustige Geschichten aus unserer Schulzeit erzählten, begann mein Magen zu knurren.
Dies bemerkte auch Henry, welcher sich sofort erbot, uns zwei Tiefkühlpizzen in den Ofen zu schieben.
Hierbei entschuldigte er sich tausendmal, dass er nichts Anderes da hatte, aber ich wank nur ab.

Auf seinen Vorschlag, etwas zu bestellen, brach ich aber in schallendes Gelächter aus.
„Wir sind hier in Kirchwald. Die liefern nur, wenn wir so um die zwanzig Personen sind, die was bestellen wollen – und das kannst du definitiv vergessen", erläuterte ich.

Ein Pizzastück in der Hand fragte ich schließlich neugierig: „Warum bist du eigentlich hierher gezogen? Es ist ja nicht so, dass es hier so viel gäbe."
Henry kaute langsam weiter, ich hatte das Gefühl, er legte sich in Gedanken seine Antwort genau zurecht.
„Ja, genau dieses Nichts wollte ich eigentlich auch. Ich habe zuletzt in London gewohnt, und es war immer so laut und so voll und... Ich habe mich da einfach nicht mehr wohl gefühlt. Ich wollte mehr Ruhe und mehr Privatsphäre."
„Das mit der Ruhe und Privatsphäre hat wohl perfekt funktioniert", schmunzelte ich, „Nach wie vielen Tagen hast du jetzt schon den ersten Mensch hier im Haus sitzen?"

Das brachte auch Henry zum Grinsen.
„Naja, ich konnte dich ja schlecht draußen in der Kälte stehen lassen, oder?"
„Jap, das wäre glaube ich unterlassene Hilfeleistung gewesen!", stellte ich fest.
„Aber warum eigentlich ein Haus hier in Deutschland, und nicht irgendwo in England? Und warum ein komplettes Haus, und nicht einfach eine Wohnung oder so?", meine Neugier ließ mir keine Ruhe.
Henry seufzte.

„Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, ich wollte einfach was komplett anderes und mache nicht gern irgendwelche halben Sachen?", stellte er die Gegenfrage.
Ich überlegte kurz und antwortete dann nachdenklich: „Glauben nicht wirklich, aber ich schätze, ich werde es dabei beruhen lassen."

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