29

„Oh, Feli! Es ist perfekt!", hauchte er überrascht, als er den Bilderrahmen erblickte.
Obwohl wir uns erst seit wenigen Monaten kannten, gab es doch das eine oder andere Foto von uns. Ich hatte sie ausgedruckt und eine kleine Collage daraus gebastelt. Dazwischen hatte ich Tassen mit heißer Schokolade, Schneeflocken, Kekse und ähnliche Motive gemalt.

„Seit wann gibt es bitte dieses Foto?", verblüfft zeigte Harry auf ein Foto, auf dem wir beide schliefen.
„Naja, als Juli damals den Laptop geholt hat, hat er wohl auch noch ein Foto gemacht", zuckte ich mit den Achseln.
„Dankeschön, Love", stürmisch küsste Harry mich. Ich schmunzelte in den Kuss hinein. „Für dich immer gerne."

Und, schon aufgeregt? Xx

Es war Morgen. Montagmorgen. Der Montagmorgen, an dem ich das erste Mal an die neue Uni musste.
Nachdem Harry und ich gestern noch einige Zeit zu zweit verbracht und genossen hatten, brach nun der Ernst des Lebens wieder an. Müde trank ich einen Schluck Tee und verbrannte mir dabei prompt die Zunge.
Leise schimpfte ich vor mich hin, während Clara, die eine absolute Frühaufsteherin war, mich belustigt beobachtete und an ihrem Kaffee nippte – wohlgemerkt ohne sich dabei krankenhausreife Verbrennungen zuzuziehen.

Dem wohl auch schon wachen Harry antwortete ich nun: Ja. Nein. Keine Ahnung. Es ist ja auch nur eine Uni, also nichts komplett Neues, ich hatte auch schon Vorlesungen auf Englisch usw. Aber ich bin gespannt, wie das da halt abläuft... Und wie die anderen Menschen sind und so xx

Mittlerweile halbwegs wach stieg ich in die Tube, die (wie immer in London, so meine Erfahrung aus der 9. Klasse, in der wir eine Woche hier verbracht hatten) sehr überfüllt war.
Automatisch kam mir der Rat unseres damaligen Lehrers in den Sinn: „Habt immer eure Tasche und vor allem euren Geldbeutel und euer Handy im Blick, hier in der Tube geht das schneller abhanden, als euch lieb ist!"

Im Moment war ich aber eher damit beschäftigt, nicht umzufallen, als auf meine Sachen aufzupassen.
Immerhin wollte ich nicht dem mürrischen Anzugträger in die Arme fallen... Glücklicherweise musste ich nur wenige Stationen fahren, bevor ich mich im Gewühl wieder nach draußen kämpfen konnte.
Erleichtert sog ich die frische Luft – gut, die mehr oder weniger frische Stadtluft – ein und blickte mich um.

Da Ordnung bekanntermaßen das halbe Leben war, hatte ich schon meinen Stundenplan und Lageplan ausgedruckt und starrte nun etwas hilflos auf die Zettel in meiner Hand.
Wenn das der B-Bau war, müsste das der A-Bau sein... aber wo um alles in der Welt war der C-Bau?

Oder hielt ich den Plan vielleicht falsch herum?

Stand ich falsch herum?

Zögernd drehte ich mich einmal um 360 Grad. Und noch einmal. Vielleicht sollte ich einfach jemanden ansprechen und fragen? Aber nein, ich müsste doch in der Lage sein, mich alleine zurecht zu finden, verdammt!

„Kann man dir irgendwie helfen?", hörte ich eine amüsierte Stimme neben mir.
Erschrocken blickte ich auf und blickte auf einen lilafarbenen Wuschelkopf. „Oh je, dieser Plan ist gequirlter Mist. Haben die den immer noch nicht verbessert?", seufzend sah sie auf meine Zettel. „Wie es aussieht, nein", noch immer war ich etwas überrumpelt.

„Ich wollte eigentlich zum D-Bau", meinte ich etwas schüchtern.
„Oh, dann bist du entweder Philosophin, Psychologin, Theologin oder Sozalwissenschaftlerin, nicht wahr?"
„Psychologin", bestätigte ich überrascht.
„Meine Mitbewohnerin auch, die kann dich sicher mitnehmen. Ich bin übrigens Violet – und ja, ich hatte meinen Namen, bevor ich meine Haare passend dazu gefärbt habe. Heyy, Lynn!", wild fuchtelnd versuchte Violet, die Aufmerksamkeit Lynns – oder wie auch immer sie hieß - zu erlangen.

Sie wurde aber konsequent von einer schwarzhaarigen jungen Frau ignoriert, bis Violet diese schließlich kurzerhand am Handgelenk packte, her zog und ihr die Kopfhörer von den Ohren zog.

„Was, Vi?", fauchte sie genervt, sodass ich unwillkürlich meine Schultern ein Stückchen hochzog.
Violet ließ sich aber nicht von der schlechten Laune ihrer Mitbewohnerin stören, sondern quasselte munter weiter.
„Also, das hier ist die bezaubernde Caitlynn – nenn sie aber lieber Lynn, sonst kann ich nicht mehr für deine Sicherheit garantieren. Und Lynni, das hier ist – Moment, wie heißt du eigentlich?"

Erst jetzt fiel ihr auf, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte.
„Ich bin Feli. Das heißt, eigentlich Felicia, aber Feli reicht", holte ich das schnell nach.
„Feli... der Name ist" „Seltsam", unterbrach Lynn Violet harsch.

„Ich glaube, ‚schön' war das Wort, das du suchst", kopfschüttelnd boxte der Wuschelkopf Lynn in die Seite.

„Nein, ich meinte seltsam. Wo kommst du her?", Lynn blickte mir fest in die Augen, ihre stahlgrauen Iris' gaben keinen Aufschluss über ihre Gedanken.
Ein Rat meiner Mutter schoss mir durch den Kopf: Vor Hunden niemals Angst zeigen, dann werden sie mit dir spielen. Zeig ihnen, wer der Boss ist, dann respektieren sie dich. Was bei Hunden klappte, klappte vielleicht auch bei Lynn, überlegte ich schnell.
Zumindest einen Versuch war es wert.

So erwiderte ich ihren Blick ebenso fest und antwortete selbstbewusst: „Ich komme aus Deutschland."
Lynn nickte nur, und wandte sich dann wieder an Violet. „Also, was wolltest du?" Es beruhigte mich ja ein bisschen, dass sie zu ihr auch so kalt war, sie schien sich wenigstens nicht nur an mir zu stören.

„Ich wollte dich darum bitten, Feli mit zu Psychologie zu nehmen.
Der Plan ist immer noch so Schrott wie vor zwei Jahren." Die Schwarzhaarige zog anstelle einer Erwiderung nur eine Augenbraue hoch, rollte kurz mit den Augen und machte dann auf dem Absatz kehrt um davon zu marschieren.

Dabei fiel mein Blick auf ihre klobigen, schwarzen Schnürstiefel, die niemand, den ich kannte, angezogen hätte – doch wenn es ihr gefiel...

„Na los, geh schon. Denk einfach dran, Hunde, die bellen, beißen nicht. Das trifft auch auf Lynn zu. Tschau mit V, vielleicht sehen wir uns ja beim Mittagessen in der Mensa!", aufmunternd gab Violet mir einen leichten Schubs.

Hastig stolperte ich Lynn hinterher, was bei ihrem Affentempo eine echte Herausforderung war. Doch ihr hocherhobenes Haupt stach halbwegs aus der Menge heraus, sodass ich sie nie ganz aus den Augen verlor.
Hoffentlich lief sie in die richtige Richtung... Ihr würde ich es auch zutrauen, mich heimlich in der Themse versenken zu wollen.
Schließlich hatte ich den Eisklotz – wie ich Lynn in Gedanken getauft hatte – eingeholt. Sie schien kein bisschen außer Atem, während ich das Gefühl hatte, meine Wangen seien knallrot.

„Du musst also auch zur Vorlesung von Prof Williams?", ihre kühle Stimme schien den vorhandenen Geräuschpegel einfach zu durchschneiden.
„Ja, schon. Aber wenn du mich nicht am Hals haben willst, ich schaffe es schon, den Weg allein zu finden...", unsicher blickte ich Lynn an.
Diese schnaubte nur kurz und stellte dann klar: „Wenn ich dich loswerden wollte, würdest du das schon merken. Und jetzt beweg dich, ich will nicht zu spät kommen."

„Du willst mich nicht loswerden? Wie bist du dann, wenn du jemanden loswerden willst?", ungläubig joggte ich beinahe neben ihr her.
„Das willst du gar nicht wissen, glaub mir", Lynn sah mich noch einmal mit einem undefinierbaren Blick an, dann deutete sie auf eine Tür.

Gemeinsam traten wir ein, Lynn steuerte schon zielsicher einen freien Platz in der Mitte an.
„Na los, komm schon – es sei denn, du willst hier in der ersten Reihe bleiben.", diese Frau war echt der Charme in Person, ganz ehrlich.
Ich verkniff mir aber jegliche Erwiderung und setzte mich neben sie.

Noch nie war ich so froh gewesen, dass ich auch schon in Deutschland einige Vorlesungen auf Englisch über mich hatte ergehen lassen müssen.
Nachdem ich mich an den Dialekt des Dozenten gewöhnt hatte, kam ich sogar ganz gut mit und schrieb mir eifrig Stichpunkte auf meinen Block.
Lynn neben mir tat es mir gleich, was ich ehrlich gesagt nicht erwartete hätte.
Ich hatte vielmehr gedacht, ihr Studium sei ihr piepegal, doch dem war wohl nicht so.

Innerlich verpasste ich mir eine, eigentlich wollte ich nicht vorschnell über Leute urteilen, doch leider passierte das immer und immer wieder.
Nach überstandenen Vorlesungen wollte ich mich schon abwenden und auf die Suche nach der Cafeteria machen, als Lynns eiskalte Hand mich festhielt.

„Vi hat geschrieben, ich soll dich fragen, ob du mit uns Mittagessen willst, oder ob ich dich schon zu sehr verstört hätte.
Wenn das der Fall ist, entschuldigt sie sich bei dir."

So unsympathisch mir Lynn erschien, desto sympathischer hatte Violet gewirkt. Mit ihrem orange-pink-dunkelrot gemusterten Oberteil, welches sie mit einem dunkelroten Rock und Cowboystiefeln kombiniert hatte, wirkte sie zwar recht... individuell, aber ich hatte mir ja gerade erst wieder vorgenommen, nicht vorschnell zu urteilen.
Da ich außerdem keine Ahnung hatte, wo um Himmels willen die Mensa lag und keine Lust hatte, ewig herumzuirren und dann alleine zu essen, stimmte ich kurzerhand zu.

Lynn verfiel sofort wieder in ihren Stechschritt, ohne darauf zu achten, ob ich ihr folgen konnte. Zielsicher umkurvte sie einige Studentengrüppchen und marschierte auf direktem Weg zu einem Ecktisch, an welchem ich auch schon Violets violette Haarpracht entdeckte.

Das kann ja ein interessantes Mittagessen werden, Feli zwischen Violet, der Quasselstrippe und Lynn, dem Eisklotz... Was haltet ihr von den Beiden?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top