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Ich habe das Notizbuch die gesamte Fahrt an mich gepresst. Wir sind inzwischen wieder im Anwesen angekommen. Damian hat die anderen weggeschickt und meine Koffer ins Zimmer getragen. Ich bin ihm mit dem Notizbuch hinterher getrottet.
"Willst du ein bisschen Zeit für dich haben? Und in Ruhe im Notizbuch lesen?", fragt Damian mich.
Ich denke kurz nach. Will ich das? Oder stehen da zu viele Dinge drin, die mich überfordern würden?
"Ja, gerne! Ist es in Ordnung, wenn ich zur Hütte gehe?", frage ich vorsichtig.
Es ist aktuell Ende September und die Temperaturen sind noch angenehm. Ich weiß, dass die Natur mich entspannt, deshalb halte ich das für eine gute Idee. Jedoch weiß ich nicht, ob Damian damit einverstanden ist, da ich dann alleine draußen rumlaufe.
"Klar! Soll ich dich hinbringen?", fragt Damian jedoch.
"Nein, brauchst du nicht", lehne ich ab.
"Wenn etwas ist, dann komm sofort vorbei. Ich bin wahrscheinlich im Büro. Sonst frag! Und wenn ein Notfall ist, dann schrei, ja?" Ich nicke. "Aber eigentlich kann niemand aufs Gelände kommen ohne, dass ich es mitbekomme." Ich nicke nochmal.
Damian legt seine Arme um mich und legt seine Lippen auf meine. Ich erwidere den Kuss und blende zumindest für ein paar Sekunden alles andere aus.
Wir verabschieden uns und ich mache mich auf den Weg zur Hütte.
Es ist komisch alleine draußen herumzulaufen. Ich sehe die Wachen und merke, dass sie mich beobachten. Es ist merkwürdig, aber ich vermute, dass das eine Anordnung von Damian ist. Und da ich hoffe, dass es hier um meinen Schutz geht, finde ich das ziemlich süß.
Ich komme an der Hütte an, wo Damian mir gesagt hat, dass ich ihm wichtig bin und ihm etwas bedeute. Beziehungsweise auf dem Weg hierher hat er mir das gesagt. Dennoch verbinde ich diesen Ort damit.
Ein leichtes Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, weil ich an den Tag zurück denke. Es war schön zu hören, dass man jemandem etwas bedeutet. Auch heute hat Damian wieder genau die richtigen Worte gefunden.
Ich schaue auf meinen Schoß und erblicke wieder das Notizbuch. Ich hatte fast vergessen, warum ich hier bin.
"Mama? Ich weiß, dass du auf mich aufpasst. Ich brauche dich gerade ganz besonders!", sage ich leise. Seit meine Mama tot ist, gibt es immer wieder Momente, wo ich mit ihr spreche. Ich glaube, dass sie immer noch irgendwie bei mir ist. Und es hilft mir, ihr Sachen zu sagen.
Ich spüre einen Windhauch und es ist, als würde meine Mama mir ein Zeichen geben, dass sie da ist. Das gibt mir Kraft und so schlage ich das Notizbuch auf. Sofort sehe ich die Handschrift von meinem Vater.
'Lieber Michi, liebe Maya,' , fange ich an zu lesen. Michi? Ist das der Name von meinem Bruder?
'Ich weiß nicht, wie alt ihr seid, wenn ihr das lest. Ich weiß auch nicht genau, warum ihr es jetzt lest. Möglicherweise bin ich tot. Vielleicht bin ich aber auch in einer brennzlichen Situation und brauche eure Hilfe. Egal, was gerade los ist, möchte ich euch sagen: Ich habe euch unfassbar doll lieb! Ihr seid das aller wichtigste in meinem Leben!
Ich habe mit circa 19 Jahren angefangen für die Mafia zu arbeiten. Ich habe kleine Botendienste übernommen. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass die Mafia wie eine Familie ist. Es ist ein Ort, wo Loyalität und Ehre höchste Priorität haben. Und genau das wünsche ich mir für mein Leben und auch für euer Leben!
Ich arbeite inzwischen seit einigen Jahren an unserer eigenen Mafia. Eine Familie, die wir uns selbst erschaffen. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, führe ich euch hier auch ein. Und ihr werdet leben wie ein Prinz und eine Prinzessin. Und irgendwann wirst du, Michi, der König werden!
Soweit dazu! Auf den nächsten Seiten werde ich euch ein paar weitere Einblicke in verschiedene Aspekte und Pläne geben!
Mit ganz viel Liebe
euer Papa'
Die ersten Tränen laufen über mein Gesicht. Das ist der Papa, den ich kenne. Ein Papa, der mich liebt. Ein Papa, der in mir eine Prinzessin sieht. Und ein Papa, der alles für seine Kinder tun möchte. Ich habe das starke Gefühl, dass die Mafia meinen Vater verändert hat. Ich glaube, dass er wirklich nur gutes im Sinn hatte. Aber ist das nicht ziemlich naiv? Den Fokus bei der Mafia nur auf Loyalität, Ehre und Familie zu legen? Mafia bedeutet doch noch so viel mehr.
Und obwohl das für mich eigentlich vollkommen unverständlich ist, erkenn ich mich darin vollkommen wieder. Ich sehe auch in erster Linie das Gute in Menschen und Dingen. Ich gebe zweite, dritte und auch zehnte Chancen, weil ich glaube, dass jeder sich bessern kann. Und genau deshalb verstehe ich gleichzeitig zu Hundertprozent, warum mein Vater dachte, dass die Mafia etwas Gutes ist.
Ich fühle mich in dem Moment sehr verbunden mit meinem Papa. So verbunden wie schon sehr lange nicht mehr.
Ich trockne meine Wangen und schlage die nächste Seite auf.
Hier gibt es nur kurze Einträge. Die meisten davon überfliege ich. Nur drei lese ich etwas genauer.
'Ich habe eine eigene Mafia gegründet und sie Wilson genannt, denn es soll unsere Dynastie sein!'
'Ich habe heute meinen Sohn verloren. Es tut mir soooo weh. Und für dich, Maya, tut es mir unendlich leid. Du musst ohne deinen großen Bruder aufwachsen. Ihr ward ein Herz und eine Seele. Und das obwohl euch sechs Jahre trennen. Er war von Sekunde eins schockverliebt in seine kleine Schwester. Er hat alles für dich gemacht. Ihr hättet niemals getrennt werden dürfen!'
'Dein Bruder, mein Sohn ist jetzt bei den Berlusconi. Ich weiß, dass er lebt und doch ist er für mich gestorben! Er ist jetzt ein Teil des Inneren Kreises. Er nennt sich sogar Berlusconi! So ein Schwachsinn! Er ist ein Wilson! Michael Wilson und nicht Michael Berlusconi!'
Und in diesem Moment fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Michael Berlusconi!
Der Mann, der mir im ersten Moment bei den Berlusconi vertraut vorkam. Er kam mir so vertraut vor, weil er die gleichen Augen hatte wie meine Mama und damit die gleichen Augen wie ich. Michael Berlusconi ist mein Bruder!
Meine Gedanken und Gefühle rasen. Ich habe meinen Bruder getroffen. Ich habe einen Bruder. Mein Bruder hat geholfen mich gefangen zu halten. Mein Bruder hat mich geschlagen und getreten!
Das ist alles zu viel für mich, weshalb ich in Tränen ausbreche, meine Knie anziehe und vor mich hin heule.
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