XIV. KAPITEL- Das Rotkehlchen

Mit dem nächsten Morgen brach ein neuer Tag über Esh herein. Die Morgensonne zog blassrosa Schlieren über den Himmel und ließ die kleinen Wattewölkchen hellrot schimmern. Die Luft war kühl und der frische Duft von Tau und Frühlingsblumen lag in der Luft und vertrieb auch noch die letzten Fetzen der Nacht. Zwar konnte man zwischen den unendlichen Fluten des golden-blauen Himmels noch die letzten Sterne erahnen, doch auch diese würden in wenigen Stunden dem Tage weichen müssen.

Die Schreie der Esel, der Gesang der Vögel und das Plätschern des Flusses waren die einzigen Geräusche die die Luft erfüllten, als Lyanna das Lager verließ um sich am Fluss waschen zu gehen und etwas Wasser für das Frühstück zu Schöpfen. Schatten, der schon seit einigen Stunden auf den Beinen war, war gerade dabei die Esel zu versorgen, denen Lyanna im Stillen die Namen Lupa und Garrow gegeben hatte.

Das Gras war weich unter den nackten Füßen des Mädchens und ließ sie die Kälte der Nacht vergessen. Gemächlichen Schrittes stieg sie an das steinige Ufer hinab und ließ sich auf einem großen Felsbrocken nieder. Das kalte Wasser umspülte ihre Knöchel und ließ Lyanna schaudern. Dennoch genoss sie diesen friedlichen Moment, der doch so vollkommen war wie es bloß ein Märchen sein konnte.

Gerade wollte das Mädchen ihre Kleider abstreifen um Rücken und Beine zu waschen, da vernahm sie ein leises Geräusch.

Schnell hielt Lyanna in ihrer Bewegung inne und lauschte. Da war es wieder! Eine Stimme, ein Flüstern. Fremde Worte, deren Bedeutung Lyanna nicht erahnen konnte. Dann war es wieder still.

Gerade wollte Lyanna sich wieder ihrem eigentlichen Vorhaben zuwenden, als die Stimme erneut erlang, etwas lauter und fester als zuvor. Lyanna erhob sich von Felsbrocken, der ihr als Sitz gedient hatte und tat einige Schritte in die Richtung aus der die Stimme zu kommen schien, stetig lauschend.

Da entdeckte sie ihn. Hinter einem verkümmerten Ginsterbusch hockte ein kleiner Junge. Er war dünn, sein Haar eine bunte Mischung aus den verschiedensten Brauntönen und übersäht von roten Büscheln. Seine schwarzen Knopfaugen schienen Lyanna regelrecht zu durchbohren, sie wirkten viel zu verständig angesichts dessen, dass der Kleine höchstens fünf Sommer messen konnte. Das Mädchen keuchte verwundert auf. Es war nicht nur das seltsame Erscheinungsbild des Kindes, das sie irritierte, sondern vielmehr diese fremdartige Präsenz, die von diesem ausging.

„Du... du gehörst hier nicht hin, nicht?", brüchig kamen Lyanna diese Worte über die Lippen, die die ersten waren die sich in ihrem verwirrten Hirn gebildet hatten. Viel zu sehr hing ihr Blick auf dem Kind vor ihr. Bis es plötzlich verschwand. Von einem Wimpernschlag auf den anderen war der Junge fort und keine Kuhle in der lockeren Erde dessen Existenz zeigten.

Lyanna entwich ein stummer Schrei, bei weitem nicht angemessen für dieses unglaubliche Geschehen. Und für das was danach geschah. Für das kleine Rotkehlchen, das sich vollkommen furchtlos auf dem Ginster niederließ, unter dem eben noch der Junge gekauert hatte. Und diese drückende Gewissheit, dass das Kind nicht verschwunden war, sondern...

Ein Schaudern überkam das Mädchen, perplex lagen ihre Augen auf dem Tier, musterten die Musterungen der Federn und vor allem die schwarzen Knopfaugen, die jeden Zweifel widerlegten.

In dieser Sekunde erhob sich das Rotkehlchen in die Luft. Und Lyanna folgte ihm. Fast war es so, als würde das Tier sie anziehen, wie ein Magnet ein Stück Eisen. War es Faszination oder Neugier die das Mädchen bewegten? Oder einfach die ungeheure Präsenz, diese seltsame Verbundenheit die Lyanna verspürte?

Der Vogel führte das Mädchen am Ufer des Flusses entlang bis auf einen grünen Hügel, der sich über das umliegende Tal erhob und einen atemberaubenden Ausblick auf die fernen Berge bot.

Und doch war es nicht dieser Anblick, der Lyanna so verwunderte, sondern die bunten Zelte und Wagen, die sich an den Fuße der Erhebung schmiegten. Es war fast so als hätte sie das Tier bewusst hierher geführt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top