XIII. Kapitel- Die Schneekönigin

Es war in den kalten Wintermonaten, in denen die Sonne an manchen Tagen bloß für wenige Stunden hinter dem Horizont aufstieg und die Dunkelheit der Nacht wie ein Mantel über den Landen lag den keine Lampe brechen konnte. Gespenstisch glitzerte der Neuschnee im matten Schein des Mondes und maß sich in seiner grausigen Pracht mit den fernen Sternen am Himmelszelt.

Die kleine Gwen, die, obwohl sie doch schon neun Winter erlebt hatte, von dieser eisigen Pracht aufs Neue fasziniert wurde, kauerte schon seit Stunden vor dem kleinen Fenster des Turmes und blickte all den fallenden Schneeflocken nach. Flink folgten ihre goldenen Augen den tanzenden Flocken, bis der Wind diese verwehte.

Granma*, ich bitte dich, erzähle mir eine Geschichte!" Die Bitte ihres Schützlings entlockte der alten Frau ein Schmunzeln. Mühsam erhob sie sich von ihrem Sessel am Kaminfeuer und trat hinter das Mädchen mit dem nachtschwarzen Haar.

„Nun gut", ein Blick aus dem Fenster auf die winterliche Landschaft genügte und die Erinnerung an ein Märchen, das ihre eigene Mutter in Cendras Kindheitstagen an solch kalten Tagen gerne erzählt hatte, trat vor ihr geistiges Auge. Und mit einem leisen Seufzer amte sie die Worte ihrer Mutter nach und erweckte ein altes Märchen zum Leben:

„Einst, da war die Welt warm und friedlich, die Wesen, die diese bewohnten glücklich und das Leben unbeschwert. Damals, als es noch keine Grenzen gab und die Götter neben den Tieren, Menschen und Drachen über Esh wandelten. Doch jedes Licht wirft einen Schatten und so wurden die Menschen eines Tages überheblich und dachten, sie könnten alles erreichen. In ihrem Größenwahn starben sie zu tausenden bei dem Versuch, sich mit den Göttern zu messen. Die Drachen vergruben sich in den Tiefen der Gebirge und hüteten wie Wahnsinnige wertloses Gold, um jeglichen Kontakt zur Außenwelt zu verlieren und einsam zu verhungern, da ihnen ihre natürlichen Triebe leid wurden. Und die Tiere begannen in stetigem Rausche die eigene Rasse zu jagen und zu verschlingen.

Lange Zeit ließen die allmächtigen Götter dies geschehen bis sie eines Tages bemerkten, dass ihre Opferstätten leer waren. In ihrem Streben und Überfluss hatte niemand mehr den Erschaffern gedankt oder Gebete gesprochen, ja viel mehr hatte jeder sich selbst als Gott gefühlt.

Und so wanderten die Götter in die fernen Lande hinter die Sterne, in denen die Macht grenzenlos war, und schufen drei Dinge: Der allwissende Dunadan formte den Weltenstrudel, der dem Leben eine Frist setzte und nach dessen Ende über den Geist der Wesen richtete, die weise Krea setzte Mühen und Krankheiten in die Welt, um die Sterblichen für ihre Dummheit zu bestrafen und der junge Aetir ließ aus den Weiten der Sterne ein kaltes Gegenstück seiner selbst, des Sommers, steigen. Diese neue Göttin wurde Fírnen genannt und mit ihr wurde ein Teil des Jahres kalt, eisig und beschwerlich.

Doch der Jüngling hatte ein gütiges Herz und so gab er Fírnen neben der Kälte und Grausamkeit ihrer Selbst ein warmes Herz, sodass sie über die Sterblichen wachen und sie vor ihrer eigenen Torheit bewahren sollte.

Und betört von der unvergleichlichen Schönheit seiner Schaffung, nahm der Sommer den Winter zur Frau."

Als Cendras Worte endeten, richteten sich Gwens goldene Augen erneut auf das kalte Spektakel der wirbelnden Schneeflocken vor dem Fenster. Und fasst war sich die Alte sicher, die jüngere ein Wort flüstern zu hören: Fírnen.

Und so war auch dieses Märchen Wirklichkeit geworden...

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*= Granma ist eine respektvolle Anrede für eine ältere Frau, die die Rolle einer Lehrmeisterin oder Erzieherin einnimmt. In die deutsche Sprache könnte man es mit ,Großmutter' übersetzen, der Sinn ist jedoch unterschiedlich.

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