XI. Kapitel- Spiegelgeister

Der Rahmen des Handspiegels war golden. Metallene Ranken wanden sich um das graue Glas und wirkten dabei so real, dass Lyanna fast meinte ihren Duft vernehmen zu können. Andächtig strichen die Finger des Mädchens über die fein gearbeitete Fassung und schlossen sich schließlich um den Griff. Und als sich ihre Augen in den wallenden Nebelschwaden hinter der Scheibe verloren, wirkte es fast so, als sei da noch etwas außer ihrem eigenen Abbild. Als lodere in den minzfarbenden Augen ein kleiner Schimmer Gold, als führe nicht der Wind durch ihr Haar, sondern als brächte es ein mystischer Hauch in Bewegung. In diesem Moment fiel dem Mädchen auf, dass sie sich verändert hatte. Zwar erkannte sie in den kastanienbraunen Locken, den leichten Pigmentstörungen auf ihrer Stupsnase und der runden Form ihres Kopfes noch das selbe Mädchen welches sie noch vor zwei Tagen gewesen war und doch hatten die vergangenen Tage ihre Spuren hinterlassen. Lyanna wirkte älter, verschlossener, verbissener und diese Erkenntnis erschrak sie. Dass 53 Stunden solche Narben hinterlassen konnten?!

„Wenn du den Spiegel schon nicht kaufen willst, mach wenigstens Platz für die anderen Kunden!", die schroffe Stimme des Standbesitzers ließ das Mädchen zusammenzucken. Eilig trat sie einige Schritte zurück, nicht ohne mit einem letzten, faszinierenden Blick den goldenen Spiegel zu erfassen.

Die Rastlosigkeit hatte sie, entgegen Schattens Befürchtungen man könne ihr vielleicht nachstellen, erneut auf den Marktplatz getrieben wo sie nun erneut vor der Verkaufsbude stand, in der sie am Morgen das Glasspiel entdeckt hatte. Und diesmal wurde neben dem Instrument noch ein weiteres Stück dargeboten, das ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: Ein kleiner Handspiegel.

Aber da die wenigen Münzen, die Schatten und Lyanna besaßen, niemals für eine der beiden Kostbarkeiten gereicht hätte, zog sie schweren Herzens weiter. Der Nachmittag wollte gefüllt werden. Außerdem kamen immer wenn das Mädchen rastete die Bilder zurück. Die Bilder vom leblosen Körper ihres Vaters, den leeren Augenhöhlen und dem Blut. Und mit den Bildern kam die Trauer. Die Trauer und die Panik.

In diesem Moment stach ihr ein Mädchen ins Auge, das halb hinter einem Stand verborgen in einer dunklen Ecke kauerte. Es schien etwas jünger als sie selbst, vielleicht 15, und dunkelbraunes Haar rahmte sein schmales Gesicht ein. Das Mädchen war dürr, fast wie eines der Straßenkinder von denen es immer in den dreckigen Gassen Ottrons gewimmelt hatte. In einer verrückten Weise verspürte sie bei dem Anblick des Kindes Heimweh. Denn Lyanna hatte keine Gelegenheit gehabt, sich von ihren wenigen Freunden, dem alten Dudelsackpfeifer oder dem kleinen Haus ihrer Familie am Rande der Stadt verabschieden zu können.

Doch das war Vergangenheit.

Gerade wollte sie den Blick von der Gestalt im Dunkeln abwenden, da bemerkte das junge Mädchen Lyanna.

Und ein entschlossenes Paar gelber Augen ließen die Züge der Älteren zu Eis gefrieren.

Denn es waren Schattens Augen, die ihr feurig entgegenblickten.

„W... Wer bist du?", waren die einzigen Worte die Lyanna stammelnd vor Verwunderung hervorbrachte. Doch es war bereits zu spät. Mit einigen flinken Sprüngen war das Kind in den Massen der Menschen verschwunden. So als wäre sie nie da gewesen, als wäre sie bloß ein Hirngespinst der Fantasie.

Und Lyanna, immer noch starr, blickte ihr bloßtatenlos nach.

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