X. Kapitel- Kjell
Lauernd wie die Geier droben,
über dem graus'gen Felde der Schlacht,
Im Blut der Männer sich labend,
Das Kleid aus Leid und Schmerz gewoben.
Die Göttin Kir, die mächt'ge droben.
Das Herz mit Eis und Stahl bedeckend,
Hungrig lauernd auf das Fleische
Um den Tod der Recken wissend,
Vor ihr'm graus'gen Antlitz erschreckend,
Die Göttin Kir, die Sünd' bedeckend.
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Die erste Schrift von Esh, Kapitel 7, Das Leid der Kir, Strophe 1-2
Das schäbige Wirtshaus, in dem Lyanna und Schatten untergekommen waren, erfüllte vollkommen das Klischee einer ranzigen Kneipe. Das kleine Reihenhaus lag in einer der zahlreichen dreckigen Gässchen des verschlafenen Städtchens Kjell, das etwa drei Stunden Fußmarsch von der Burg und Lyannas Heimatstadt Ottro entfernt war, und war kaum mehr als ein wackeliger Holzbau. Unter den Gestalten, die abends dort ein- und ausgingen, fielen die Gefährten mit ihren dreckigen Gewändern kaum auf. Das kleine Zimmer, das sie sich teilten, verfügte bloß über ein Bett, dessen Matratzen fleckig und das Gestell klapprig war und einem kleinen Tisch in der Zimmerecke.
Das Bett überließ Schatten Lyanna, er selbst wollte im Schankraum etwas essbares auftreiben und so hatte Lyanna endlich einmal Zeit über das Geschehene nachzudenken. Und das was noch kommen würde.
Zwei Gedanken beschäftigten sie besonders: Ihr Vater hatte ihr. als er sturzbesoffen und mit hochrotem Kopf spät in der Nacht nach Hause kam, erzählt was in der Kneipe geschehen war. Er prahlte mit der unüberlegten Lüge. Am nächsten Morgen war die Stadtwache gekommen und hatte Lyanna mitgenommen. Doch wieso?
Wer wog der abenteuerlichen Geschichte eines betrunkenen Tagelöhner so viel Wert zu, als dass er sie für die Wahrheit hielt? Und woher wusste Schatten davon? Wieso hatte er sie gerettet?
Und dann war dort natürlich noch eine Frage, die all die anderen verdeckte: Wohin jetzt?
Das junge Mädchen war innerhalb zweier Tage von einer gewöhnlichen jungen Frau zu einer geflohenen Gefangenen geworden, der Zauberkräfte nachgesagt wurden. Sie würde nicht einfach nach Ottron zurückkehren und ihr bisheriges Leben weiterführen können. Außerdem war der einzige Mann der ihre ganze Familie bildete, tot.
Verzweifelt lief das Mädchen in dem kleinen Zimmer auf und ab, nasch Antworten und Lösungen ringend, als sich eine Gestalt aus dem Dunkel löste, mit dem er so perfekt verschmolzen war: Schatten. Er war zurück, in den Händen eine Platte mit Schwarzbrot und Ziegenkäse. Mit einer einladenden Bewegung bedeutete er Lyanna sich auf dem Bett niederzulassen, ehe er sich selbst zu ihr setzte. „Iss", war sein einzigstes Wort.
Das Mädchen genoss jeden Bissen, obwohl das Brot hart und der Käse wässrig war. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie war. Und vollkommen ungefragt begann Schatten zu erzählen: „Ich habe ein Angebot für dich.", sagte er und blickte Lyanna ernst an, „Ich habe eine Mission. Eine Mission die viel bedeutet."
Sein Blick wanderte zur Tür, als ob er überprüfen wollte, dass ihnen niemand lauschte, ehe er weitersprach: „Die letzten Tage müssen sicher anstrengend für dich gewesen sein, gar verwirrend..." In Lyanna, die bisher still gelauscht hatte, keimte plötzlich die Wut. „Anstrengend?! Verwirrend?! Die Götter mögen mir verzeihen, doch dies waren die grausamsten Tage meines Daseins. Ich musste zusehen wie Menschen sterben. Ich habe meinen Vater, meine Heimat, mein Leven verloren. Und du nennst das „verwirrend"?!", die Augen des jungen Mädchens schieben förmlich zu glühen und ihr Gegenüber zu vernichten. Wenn Blicke töten könnte, wäre Schatten wohl Vergangenheit.
Beschwichtigend hob dieser die Hand. Gerade wollte Lyanna wieder wütend das Wort erheben, als die Welle des Zornes so schnell verebbte wie sie gekommen war. Und zurück blieb ein gebrochenes Mädchen mit ungewissem Schicksal.
„Erzähl weiter", war das einzige, dass sie mit gebrochener Stimme hervorbrachte. Nach einem kurzen, besorgten Blick führte Schatten wie angewiesen seine Erzählung fort: „Ich bin auf der Suche. Auf der Suche nach einer Rettung, einer Erlösung. Es gibt da einen Mann. Diesem Mann, seiner Familie und seinem Volk wurde Unrecht angetan. Ein schreckliches Untier lässt sie nicht aus seinen Fängen entweichen und so gerieten sie mit den Jahren in Vergessenheit", der junge Mann stockte, „Es gibt da eine alte Schuld, die ich begleichen muss. Ich muss eine Möglichkeit finden, diese Menschen zu befreien und dafür brauche ich dich."
Unter anderen Umständen hätte Lyanna über die Worte ihres Gefährten gelacht, sie als Hirngespinst oder Märchen bezeichnet, doch ein unbestimmtes Gefühl in ihr, sagte dem Mädchen dass sie wahr waren. Vielleicht das selbe Gefühl, das sie dazu gebracht hatte, durch die Luke in ihrem Gefängnis ins Ungewisse zu springen. Dieses Bauchgefühl, welches ihren Verstand widerlegte.
Und so nickte sie bloß. Sie war Schatten etwas schuldig, er hatte ihr die Freiheit geschenkt. Außerdem wusste sie sowieso nicht, was sie sonst tuen sollte.
Lyanna fragte nicht weiter nach, sie ließ es auf den wenigen Worten des jungen Mannes beruhen und ließ sich stattdessen auf das dünne Kissen des Bettes fallen. Und alsbald sie die Augen schloss, übermannte sie ihre Erschöpfung und das Mädchen geleitete über in einen tiefen, Traumland Schlaf, der erst mit den Strahlen der morgendlichen Sonne enden sollte.
Der nächste Morgen brachte einen azurblauen Himmel und eine warme goldene Sonne mit sich. Für einen Frühlingstag war es bereits ungewöhnlich warm und so beschlossen die Gefährten sogleich ihr Gepäck aufzustocken, Reittiere zu besorgen und sich auf die Reise zu begeben. Eine Reise dessen Ziel Lyanna nicht bekannt war und das ließ ihren Bauch rumoren.
Kjell war eine kleine, geschäftige Stadt mit ebenso Geschäften und Lädchen wie dreckigen Gassen. Auf dem zentral gelegenen Marktplatz wollten die Gefährten ihre Besorgungen erledigen. Die Düfte verschiedenster Gewürze und die Ausdünstungen der Tiere mischten sich zu den süßen Aromen der Frühlingsblumen und verliehen dem Ort so die typische Marktatmosphäre. Die kleinen Ständchen waren wie willkürlich fallen gelassene Bauklötzchen über den Platz verteilt und füllten so selbst die kleinsten freien Stellen. Hier wurde alles dargeboten. Von heimischem Obst und Gemüse über Nutztiere, Schmuck und Alltagsgegenständen bis hin zu fremdartigen Gewürzen und Stoffen. Eine Vielfalt die Lyanna in ihren Bann zog. Von überall hörte man die Stimmen der Händler, die ihre Wäre darboten, jeder darauf bedacht die anderen zu übertönen und die Kunden zu seinem Stand zu locken. An jeder Ecke wurde gefeilscht und gehandelt, das Geld wechselte fast so schnell seinen Besitzer wie die unzähligen Waren.
An einem kleinen Stand beobachtete das Mädchen fasziniert fein gearbeitete Glasspiele, die in der leichten Frühlingsprise engelsgleiche Töne nachahmten und so eine atemberaubende Melodie formten. Wenn Götter singen würden, wären dies wohl ihre Stimmen.
Mit Bedauern musterte Lyanna allerdings die Preistafeln; das Geld, das für eines der gläsernen Zierden verlangt wurde übertraf bei Weitem das, was sie Schatten in dem kleinen Lederbeutel bei sich trug.
So schlenderten das Mädchen weiter, zumal ihr Begleiter zunehmende ungeduldiger wurde. Er selbst schien den Besuch des Markts nicht zu genießen, ganz im Gegenteil, er machte den Eindruck den Moment herbeisehnen, den öffentlichen Treffpunkt verlassen zu können. Die vielen Menschen machten ihn nervös und so blickte sich der junge Mann immer wieder um, als habe er Angst erkannt zu werden.
An einer, mit bunten Stoffen behangenen Bude, erwarb Lyanna neue Kleidung. Ihr eigenes Kleid war von der Gefangenschaft und der anschließenden Flucht zerrissen und dreckig, die einst gelbe Farbe könnte man bloß noch erahnen. Für nur wenige Silberstücke konnte sie dieses nun später gegen eine warme Reithose, hohe Lederstiefel und eine waldgrüne Tunika tauschen, auch ein dunkler Reisemantel, ähnlich dem der Schatten trug, gehörte nun zu ihrem Besitz.
Gegen Mittag kehrten die Gefährten in ihre Unterkunft zurück, im Gepäck warme Wechselkleidung, einen Beutel mit Proviant, dicken Decken, zwei Lampen, einer Karte der Umgebung, zwei gemieteten Eseln für die beschwerliche und lange Reise, die, wie Schatten erzählt hatte, noch vor ihnen lag und bloß noch einem Viertel ihres Geldes.
Doch für diesen Moment wollte Lyanna nicht an das denken, was noch vor ihnen lag. Zum ersten Mal seit Tagen war sie ungemein glücklich. Die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen und die goldenen Wiesen schrieben flüsternd Geschichten.
Von einem jungen Mädchen, einer langen Reise und einem neuen Märchen.
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