VIII. Kapitel- Die Arme des Todes

Kann man einem Menschen verzeihen, der einmal zu oft gelogen hat? Kann man ein Verbrechen vergessen, das dein Leben zur Hölle macht? Kann man jenen lieben, dem die Schuld auf der Stirn geschrieben steht?
Lyanna war überzeugt dass sie ihren Vater hasste. Den Schuldigen an all dem Leid.
Wie oft hatte er gelogen, gesagt, sie brauche keine Angst haben, alles werde gut. Doch es war nie gut geworden.
Wie oft war spät nachts nach einer Prügelei in der Kneipe betrunken und verletzt nach Hause gekommen und sich dann tagelang in seinem Zimmer verkrochen und ihr all die Arbeit überlassen.
Doch an diesem Mittag, als die Sonne glühend heiß am Himmel stand und ihr die Schmerzen der Schlacht zu schaffen machten, musste sie einsehen, dass sie diesen Mann im tiefsten Herzen doch liebte.
Und der Grund dieser Erkenntnis war eine kleine Gruppe quatschender Mägde.

Immer näher kamen sie ihrem Ziel, ihrem Weg in die Freiheit. Ein ausrangiertes, fast vergessenes kleines Tor an der kaum bewachten Rückseite der Burg, das früher für Jagdausflüge diente. Der Weg dorthin war länger als Lyanna gedacht hätte, die Burg größer als sie jemals erwartet hätte. Sie gingen im Schutz der Mauern von Scheunen oder Lagerhäusern, die diesen Teil der Burg säumten. Ein nobler Gast oder ein Mitglied des Stadtrates hätte diesen Ort wohl niemals zu Gesicht bekommen, so trotze er mit seinen niedrigen Holzbauten den prachtvollen Hauptgebäuden.
Nur selten mussten sich die beiden Gefährten vor Soldaten oder Wachmännern, dafür umso öfter vor Knechten, Mägden oder Stallburschen verbergen.
So auch als Lyanna hinter der Biegung eines Weges drei junge Mägde entdeckte. Flink zog sie Schatten mit sich zum nächstbesten Versteck das ihr in den Sinn kam. Einen, mit einer Plane bedeckten Ochsenkarren. Mit einem anerkennenden Lächeln lobte Schatten die Voraussicht seiner Weggefährtin und hob die Plane an, sodass die beiden sich auf die Tragfläche des Gefährts schwingen und anschließend wieder mit dem Leinentuch verbergen konnten. Stolz bemerkte Lyanna, dass jede Aufregung oder Angst entdeckt zu werden nach so vielen Malen verschwunden waren, als sie plötzlich mit dem Fuß gegen etwas weiches stieß.
Verdutzt versuchte das Mädchen zu erkennen was dort lag, doch die Dunkelheit ließ es nicht zu. Ein Schrecken durchfuhr die, als plötzlich Licht in ihr Versteck flutete, Schatten hatte die Plane wieder beiseite geschoben, und sie in das Gesicht eines Mannes blickte.
Die Augenhöhlen leer, die Haut fahl und das braune Hemd blutgetränkt. Ein Toter. Ein Schrei entwich ihrer Kehle als sie die Züge des Mannes erkannte. Kaum konnte sie mehr atmen, der Schreck zog ihr die Kehle zu. Ihr Vater.

Wie aus weiter Ferne vernahm sie Schattens Stimme, eindringlich und fragend. Sie konnte nicht verstehen was er sagte. Hätte sie gekonnt, hätte sie geweint, geschrien, alles in ihrem Umfeld für den Tod des Mannes verantwortlich gemacht, der ihr durch eine einzige Lüge ihr ganzes Leben zerstört hatte. Doch stattdessen war ein leises Schluchzen das einzige was sie herausbrachte. Sie war zu traurig zu verzweifelt um sich zu fragen was passiert sei. Das kam erst viel später.

Lyanna nahm wahr wie Schatten ihren bebenden Körper hochhob und weitertrug, dann an den Dachboden eines kleinen Schuppen. Schatten hatte sie auf einige Säcke mit Heu gebettet und sich schweigend neben sie gesetzt, mit einer Hand beruhigend über die Stirn gestrichen, ihr immer wieder Wasser aus einem Holzgefäß eingeflößt, dass er in dem Gerümpel gefunden hatte. Er hatte nicht gefragt wer der Tote war, kein Wort hatte er gesagt, er war nur da gewesen. Und das war das einzige was Lyanna in diesem Moment brauchte.
Sie wusste nicht wie oft er selbst Verluste erlitten hatte und wie stählern der Tod sein Herz gemacht hatte, mit welcher Schicht aus kühlem Stein er sich vor der Trauer geschützt hatte, die ihn so oft zu verschlingen gedroht hatte.

Etwa vier Stunden verbrachten sie in ihrem Versteck bis Schatten Lyanna zum Weitergehen drängte. Er sagte dass sie vor Sonnenuntergang in einem der Dörfer im Wald hinter der Stadt sein müssten und dass die Flucht aus der Burg schwierig werden würde. Vom langen Marsch der ihnen danach blühte abgesehen.

Immer noch mit zitternden Beinen erhob Lyanna sich, obwohl ihre Beine mehrfach nachgaben und Schatten sie auffangen musste. Eine ganze Zeit liegen die beiden schweigend nebeneinander her bis sie schließlich das schwere Tor erreichten, von dem Schatten erzählt hatte. Nun stand der schwerste Teil ihrer Flucht bevor. Das Portal zu öffnen ohne bemerkt zu werden.
„Dort oben, in der Kammer über dem Tor befindet sich sicher die Kurbel, die den Mechanismus des Tores auslöst und es öffnet", schlug Lyanna tonlos vor. „Zu gefährlich", erwiderte Schatten, „Das Tor ist alt und der Mechanismus sicherlich auch, er würde laut knarzen und so auf uns aufmerksam machen oder gar nicht erst funktionieren." „Und was sollen wir sonst tun?", fragte das Mädchen bissig. „Graben", antwortete ihr Gefährte und musste grinsen, als er die Verwunderung auf ihrem Gesicht bemerkte. Dann führte er seinen Plan genauer aus: „Da dieses Tor sehr alt ist und nicht oft genutzt wird und außerdem für Eindringlinge viel zu verborgen liegt, hat sich nie jemand die Mühe gemacht, es, wie den Rest der Mauer, wirklich zu befestigen. Der Boden darunter besteht bloß aus festgetretener Erde. Wir können eine Mulde graben, durch die wir die Burg verlassen können."
Zwar immer noch nicht sonderlich überzeugt, half Lyanna Schatten wortlos bei der Arbeit. Das kräftezehrende Graben mit den Händen ließ ihr wenigstens keine Zeit zum Trauern.

Nach einer Stunde war das Werk schließlich vollendet und die Gefährten mit dunkler Erde bedeckt.
Nur wenige Schritte waren es jetzt noch bis in die Freiheit. Mit einem trotzigen Lächeln auf den Lippen und einem mulmigen Gefühl im Bauch passierte Lyanna das letzte Hindernis auf diesem Weg.
Und in den Weiten des Waldes nahmen die Arme der Freiheit das Mädchen und den jungen Mann in Empfang. Eine teure Freiheit. Eine Freiheit die allein an diesem Tag vier Menschen das Leben gekostet hätte. Eine Freiheit deren Blutdurst noch lange nicht gestillt war.

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